Nethnografie

Der Austausch von Meinungen und Erfahrungen in Social Media zählt zu einer wichtigen Einflussgröße für Kaufentscheidungen und die Markenwahrnehmung. Durch das digitale Zeitalter und die damit verbundenen technischen Möglichkeiten des Datenaustauschs und Social Networking ergeben sich auch für die Konsumentenverhaltensforschung und das Marketing neue Möglichkeiten.

Erforschung von Verbrauchergemeinschaften im Internet

Bei der Netnografie (ein Kunstwort, das sich aus Internet und Ethnografie zusammensetzt) handelt es sich um einen interpretativen Forschungsansatz der Analyse von Online-Kommunikation, der zur Erforschung von Verbrauchergemeinschaften im Internet entwickelt wurde (Researching Cultures and Communities Online).

Die Untersuchungstechnik der Netnografie beruht dabei auf einer Datenauswertung internetbasierter Textkommunikation ("user generated content") und wird eingesetzt, um die Kommunikation in Cyberkulturen und virtuellen Gemeinschaften zu analysieren.

Angesichts der starken Verbreitung des Internets ist es naheliegend, die Vielfalt der in diesem Medium enthaltenen Daten auch für die Marktforschung nutzbar zu machen. Das Internet bietet Verbrauchern die Möglichkeit, sich virtuell über Produkte und Erlebnisse (in Verbindung mit Produkten unterschiedlicher Art) auszutauschen. In Fällen hohen Involvements führt dies zur Bildung virtueller Gemeinschaften ("virtual consumption communities" und "brand communities"), das heißt Subkulturen, die sich um ein Produkt oder eine Marke herum bilden. Diese C2C communities (customer-to-customer communities) zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Wir-Gefühl aus. Derartige Communities werden unterschieden in Online-Communities, die

- von Verbrauchern gegründet und betrieben werden,

- von Unternehmen initiiert

- oder eine Koproduktion zwischen kommerziellen Anbietern und Mediennutzern sind.

Einstellungen und Meinungen im Vordergrund

Netnografie adaptiert ethnografische Forschungsmethoden, um Communities zu untersuchen, die durch internetbasierte Kommunikation entstehen und existieren. Kunden und User werden dabei nicht direkt befragt, sondern lediglich in ihrer "natürlichen" Online-Umgebung beobachtet. Die unverfälschten Statements werden gesammelt, qualitativ ausgewertet und im jeweiligen Kontext interpretiert. Datengrundlage sind Informationen, die entweder unmittelbar in verschiedenen Online-Foren oder mittels Mitgliedschaft in Gemeinschaften öffentlich zugänglich sind.

Von besonderem Interesse für die Marketing- und Verbraucherforschung sind dabei Einstellungen, Meinungen, Gefühle und Vorstellungen sowie Symbole und Rituale, die durch quantitative Methoden nur schwer zu erfassen sind. Netnografie ermöglicht "thick descriptions" das heißt reichhaltige und tiefgehende Beschreibungen, sowohl der individuellen als auch der sozialen Lebens- und Erlebniswelt im Konsumkontext. Netnografie ermöglicht die Erforschung sensitiver Themen in Gemeinschaften und Subkulturen, zu denen der Zugang mit konventionellen Methoden schwierig ist.

Multimethodische Datenerhebung

Die Feldarbeit der Netnografie lässt sich in die Stufen Festlegung des Erhebungsziels, Auswahl und Identifikation geeigneter Quellen, Datenerhebung (Beobachtung des Feldes) sowie Datenanalyse und Interpretation der Ergebnisse gliedern.

Im ersten Schritt muss die Fragestellung/ Forschungsfrage geklärt werden, um in Folge über Online-Suchmaschinen relevante Online-Communities (zum Beispiel Foren, Blogs, Social Media-Netzwerke) als geeignete Quellen zu identifizieren.

Bei der Datenerhebung und -analyse ist die Netnografie zumeist multimethodisch angelegt. Die "reine" Netnografie beruht ausschließlich auf nichtteilnehmender Beobachtung, das heißt, das Internet wird ausschließlich als Datenquelle genutzt. Der Forscher "hört über einen zuvor festgelegten Zeitraum zu", greift nicht ein, stellt keine Fragen und bleibt anonym und unbemerkt. Bei den erhobenen Daten wird auf direkte Kopien der textuellen Kommunikation zwischen Gruppenmitgliedern zurückgegriffen.

Da das in netnografischen Studien erhobene Datenmaterial vorwiegend textlich ist, ist bei der Inhaltsanalyse zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Ausrichtung zu unterscheiden, wobei die erstere die am häufigsten eingesetzte Methode der Kommunikations- und Medienforschung darstellt.

Die Analyseschritte der quantitativen Inhaltsanalyse umfassen eine Kategorienbildung, Kodierung und Kontextualisierung. Das Ergebnis sind Frequenzanalysen, die das Auftreten von Kategorien, Argumenttypen und Ähnlichem im Datenmaterial dokumentieren.

Anonymität gewährleisten

Wichtig bei der Durchführung netnografischer Untersuchungen ist die Einhaltung ethischer Grundsätze. Bei Untersuchungen, die ausschließlich öffentlich zugängliche Kommunikation als Datengrundlage für netnografische Studien verwenden, muss die Vertraulichkeit und Anonymität gewahrt werden (zum Beispiel durch die Verwendung von Pseudonymen).

Als öffentliche Kommunikation gilt jede Art von Kommunikation, deren Publizität und Zugänglichkeit nicht durch Mitgliedschaften und Zugangscodes eingeschränkt ist. Wie jede andere Inhaltsoder Diskursanalyse in der Medien- und Kommunikationsforschung verwendet die Netnografie des öffentlichen Raums keine privaten Daten.

Für Finanzdienstleister lassen sich durch die Auswertung der durch Netnografie gewonnenen Daten, wichtige "Consumer Insights" hinsichtlich der Bedürfnisse, Wünsche, Erfahrungen, Motivationen, Einstellungen und Wahrnehmungen generieren, die für zielgruppengerechte Handlungsempfehlungen hinsichtlich der Markenführung und Vermarktung von Finanzprodukten genutzt werden können.

Ergänzend können die Infos für das Aufspüren von Trends und als Innovationspotenzial und Impuls zur Verbesserung und Neuentwicklung von Produkten und Dienstleistungen genutzt werden. Nur wer aufmerksam ist und seinen Kunden die nötige Beachtung schenkt, kann erfahren, was dieser tatsächlich von einer Marke, einem Produkt oder einem bestehenden Service denkt. Die Netnografie hat den speziellen Vorteil, dass das Verhalten des Konsumenten durch die nichtteilnehmende Beobachtung im "Natural-Setting" unverfälscht und unbeeinflusst erforscht wird.

Dr. Ewald Judt ist Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien; ewald.judt[at]wu.ac[dot]at; Dr. Claudia Klausegger ist Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien; claudia.klausegger[at]wu.ac.at[dot]www

Dr. Ewald Judt , Honorarprofessor , Wirtschaftsuniversität Wien
Dr. Claudia Klausegger , Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien
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