"Quo vadis, Finanzdienstleister?"

Interview mit Dr. Axel Sauerland

Dr. Axel Sauerland, Managementberater bei IBM Global Financing, Düsseldorf Quelle: IBM

Bisherige Geschäftsmodelle der Finanzdienstleister stehen wegen der digitalen Transformation unter Druck. Ein organisatorischer und personeller Wandel mit agilen und kreativen Arbeitsweisen zieht in die Institute ein, es werden neue IT-Services wie kognitive Systeme zur automatisierten und durchgängigen Servicelieferung eingebunden. Dr. Axel Sauerland von IBM, seit 25 Jahren Managementberater in verschiedenen Positionen und Unternehmen sowie seit 20 Jahren FLF-Autor, hält Rückschau und gibt Ausblicke in die Entwicklung der Branche.

Was ist aus Ihrer Sicht die bedeutendste Entwicklung der vergangenen Jahre für Finanzdienstleister?

Die Entwicklung des Internets und die damit einhergehende Digitalisierung der Finanzdienstleistungsbranche. Die Abbildung 1 zeigt dazu die zeitliche und technische Entwicklung. In Anlehnung an die Versionsnummern von Softwareprodukten wird auch das World Wide Web numerisch hochgezählt. Beim Web 1.0 stand noch die reine passive Nutzung im Vordergrund, im Web 2.0 als Pseudonym für Social Business ist der Nutzer gleichzeitig Konsument und Prosument - er stellt auch selbst Inhalte zur Verfügung. Derzeit befinden wir uns im semantischen Web 3.0 ("Internet der Dinge") mit der Verarbeitungsmöglichkeit von Informationen auf der Ebene ihrer Bedeutung, nicht nur der Daten.

Mit dieser Entwicklung geht auch eine Transformation im Banking einher: Bis zu den 2000er-Jahren erfolgte die Phase der Digitalisierung von Zahlungen und damit Ersatz der papierbasierten Zahlungen durch Karten, Geldautomaten und Telebanking. Ab dem Millenium kam dann die Digitalisierung von Standardtransaktionen, der Kunde griff zur deren Abwicklung aus der Ferne auf die Bank zu. Etwa ab 2010 entwickelte sich das, was wir heute als "mobile Banking" kennen. Es ist die komplette Abdeckung der Wertschöpfungskette - Kundenbetreuung, Produktvertrieb, Konto- und alle weiteren Finanzdienste - über das Internet, und dies auch bei komplexen Produkten beziehungsweise Finanzgeschäften.

Wo stehen wir heute mit der Digitalisierung?

Digitalisierung meint vor allem andere und individuellere Interaktionswege mit dem Kunden, bessere In formationsquellen und neue Geschäfts- und Betriebsmodelle. Mit Digitalisierung sind wir in der Lage, verschiedene Kanäle - offline, online, mobile - auch prozesstechnisch nahtlos im Rahmen einer Omni-Channel-Strategie miteinander zu verzahnen. Das erzeugt für den Finanzkunden positive (neue) Kunden- und Nutzererlebnisse und wird zum wichtigsten Differenzierungsfaktor im Wettbewerb. Aber auch in der innerbanklichen Entscheidungsfindung und im Bereich Operations gelingen mit einer End-to-End-Digitalisierung fachliche Produkt- und Prozessvereinfachungen und eine deutlich bessere Sicht auf die Daten, beispielsweise im Rahmen der 360-Grad-Sicht des Kunden oder der Risikoberichterstattung.

Die Finanzinstitute müssen somit den Gleichklang aus digitalen Geschäftsmodellen, digitaler Teamarbeit im Sinne von Arbeit 4.0 und digitaler Infrastruktur hinbekommen, zugegebenermaßen keine leichte Aufgabe. Im Wesentlichen müssen sie sich mit den Anpassungen im eigenen Operating Modell im Spannungsfeld der Möglichkeiten Digitalisierung versus Digitale Transformation versus Digitale Neuerfindung auseinandersetzen und neue Arbeitsweisen und vernetztes Denken in agilen Teams etablieren. Und sie müssen eine Smart Factory unter Einbezug roboterbasierter beziehungsweise kognitiver Lösungen aufbauen. Die Abbildung 2 zeigt, wo wir hier aktuell stehen beziehungsweise wo unsere Ziele sind. Sie weist dazu die englischsprachigen Begriffe aus.

Beide Bilder zeigen ja auch in die Zukunft: Was verstehen Sie unter Web 4.0 beziehungsweise Cognitive Computing?

Wie in der zweiten Abbildung zu sehen ist, werden sich kognitive Systeme als Komplett-Architektur zusätzlich in die Anwendungslandschaft einbringen - und zwar mit einem völlig neuen Ansatz bei der Computerarchitektur: Kognitive Systeme sind darauf angelegt, Daten aus unterschiedlichsten Quellen zu nutzen und zu verarbeiten und in der Interaktion mit dem Menschen ihre eigenen Fähigkeiten, ihr Wissen und ihr Können permanent zu erweitern. Basis dafür sind unter anderem neuronale Netzwerke, Machine Learning, Textanalyse-Tools und Spracherkennung. IBM Watson ist so ein kognitives, lernendes System. Es versteht und verarbeitet insbesondere auch unstrukturierte Daten wie beispielsweise Finanzmarktdaten, Beiträge in sozialen Medien, Unternehmensinformationen, regulatorische Vorgaben, Textoder auch Sprachinformationen des Kunden. All das können wir in der digitalen Transformation mit den bisherigen Mitteln so nicht.

Bleiben wir bei den herkömmlichen IT-Systemen. Vor zehn Jahren haben Sie die serviceorientierten Architekturen SOA beschrieben. Ist dieser Ansatz noch aktuell?

Absolut, er kommt heute allerdings eher in der Begrifflichkeit der API-Economy daher. Services und APIs, also Application Programm Interfaces, dienen dazu, definierte Funktionalitäten beziehungsweise Daten austauschbar zu machen. Während allerdings früher eine SOA rein aus IT-Gesichtspunkten für die reibungslose Integration von Anwendungen und Systemen entwickelt wurde, ist das heutige API-Management darauf ausgerichtet, die im Rahmen der Digitalisierung notwendige Daten- und Prozess-Interaktion von Kunden, Partnern und Lieferanten zu unterstützen. Die API-Economy ist demnach von der Fachlichkeit getrieben und eine zwingende Voraussetzung für des Internet of Things (IOT), also die digitale Vernetzung von Maschinen, Produkten und Prozessen.

Welche weiteren IT-Trends sehen Sie?

In dem durch die Digitalisierung bestimmten Tempo entwickeln die Unternehmen nur noch die Anwendungen selbst, die für eine Abgrenzung vom Wettbewerb sorgen. Commodity-Lösungen werden als SaaS (Software-as-a-Service) eingekauft. Auch ist das klassische Plan-Build-Run der IT dem rasanten Wandel nicht mehr gewachsen. Vielmehr werden agile Vorgehensmodelle für die Entwicklung von Softwarearchitekturen wie Scrum, Continous Delivery, DevOps herangezogen, wobei das letztere bisher immer noch eher ein Nischendasein fristet. Erlauben Sie mir daher, einmal diese Methodik eingehender vorzustellen.

DevOps als Kurzwort ist ein relativ neuer Begriff und beschäftigt sich mit der Verbesserung der Softwareentwicklung (Development) und deren Bereitstellung beziehungsweise ihrem Betrieb (Operations). Minimalziel ist es, Durchlaufzeiten zu minimieren, IT-Ressourcen zu optimieren und die Qualität sowie Verfügbarkeit zu erhöhen - dies im Sinne einer kontinuierlichen Bereitstellung. Anders gesprochen: DevOps als nächste Stufe der agilen Entwicklung erfordert von der IT-Organisation ein Investment in ein vollständiges Application Lifecycle Management (ALM). Es bedeutet die Etablierung eines einheitlichen integrierten Planning und Requirements Management im Rahmen des Software Delivery Prozesses, die Zusammenführung von bisherigen Einzeldisziplinen wie Portfoliomanagement, Deploymentmanagement et cetera in ein technologisches, organisatorisches, prozessuales und methodisches Gesamtmangement - auch unter Hinzunahme von Managed Services. Die Vorteile liegen auf der Hand: Durch die Erhöhung der Bereitstellungszyklen zur schnelleren Reaktion auf sich ändernde Geschäftsanforderungen wird die Agilität verbessert. Die Minimierung der Fehlerrate nach Änderungen und Minimierung der Zeit bis zur Verfügungstellung eines Bugfixes auf den Systemen erhöht die Verfügbarkeit der IT. Und Synergien werden gehoben durch schnellere Produkteinführungszeiten und höhere Ergebnisqualität in der Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsteams und dem Betrieb. Schließlich gewährleisten Sicherungs- und Überwachungstools in den fertig entwickelten Lösungen eine Problembehebung, bevor sie dem Geschäft schaden können - Stichwort Prävention.

Vervollständigt wird der eben beschriebene Entwicklungsprozess dann noch durch Nutzung neuer Herangehensweisen in der Bearbeitung von komplexen Fragestellun gen. Sei es Co-Creation, Lean Start-up oder mit dem zunehmend populär werdenden Design Thinking - all diese Kreativprozesse zur Ideenfindung, die sich konsequent am Endnutzer orientieren, verbessern in der Softwareentwicklung die Funktionalität und deren Usablitity/User Experience.

Kommen wir auf die Geschäftsentwicklung zu sprechen. Wie beurteilen Sie den Status quo unseres Leserkreises?

Keine Frage, die Finanzierungsins titute der Hersteller von mobilen Gütern, Konsumgütern und Industrieprodukten und auch die herstellerungebundenen, bankenabhängigen Institute sind ein wichtiger Motor für den Erfolg der jeweiligen Muttergesellschaften. Lange Zeit waren Leasing-Gesellschaften, Autobanken und Spezialkreditinstitute durch ihr Angebot von Finanzierungskrediten, Leasing-Produkten und Serviceleistungen damit auf der Erfolgsspur, auch in den gesättigten Märkten Europa und Nordamerika. Aktuell bestehen aber in diesem Marktsegment große Herausforderungen durch erhöhten Kostendruck bei gleichzeitig ansteigenden gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen, sowie durch die zunehmende Digitalisierung und da mit verbundenen Aufwendungen in Omni-Channel-Angeboten. Bei den Autobanken kommt die passgenaue Kombination von Finanz- und Mobilitätsdienstleistungen als Treiber noch hinzu.

Insgesamt sehe ich hier folgende Handlungsfelder: Zunächst auf der IT-Seite die End-to-End-Digitization in Verbindung mit einer Core Banking Modernization für die Agenda der digitalen Transformation. Dann aber auch immer wieder die Berücksichtigung aktueller regulatorischer Änderungen wie zum Beispiel die finalen Fassungen der Bankaufsichtlichen Anforderungen an die IT (BAIT) und der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk).

Ein weiteres Thema ist Industrie 4.0, also die vierte industrielle Revolution, die sich durch die durchgehen de horizontale Integration der Wertschöpfungsnetzwerke von Kunden und Geschäftspartnern in den Geschäftsprozessen auszeichnet. Dadurch sind etwa bei Leasing-Gesellschaften neue Erlösmodelle mit einem dynamischen Pricing möglich. Bei einem Pay-peruse werden Einsatzzeiten einer Maschine über Telemetrie erhoben und in die Rate einkalkuliert. Weitere Möglichkeiten sind pay per cycle/output oder pay as you save, bei dem der Anbieter die Kosten für die Umrüstung übernimmt oder an der laufenden Einsparung beteiligt wird.

Und wenn man die Finanzierungen noch über Blockchain-Plattformen abwickelt, wird es richtig interessant: Mit dieser neuen Technologie ist es möglich, Transaktionen, Objekte, Zahlungen lückenlos digital zu verfolgen, es entfallen zeitraubende manuelle Zwischenschritte von bisherigen Intermediären. Ein Muss sind aber auch Kooperationsgespräche zwischen Finanzdienstleistern und den immer stärker in den Markt drängenden Fintechs im Hinblick auf auf strategische Akquisitionen, fachliche Kooperationen und technische Plattformökonomie. Gerade bei dem letzten sind Vereinbarungen zu treffen in Richting financials-as-a-service, APIs, und eben wieder Nutzung von offenen oder privaten Blockchains.

Klar ist aber auch, dass die Digitalisierung den Einsatz großer finanzieller Ressourcen erfordert. Bei neuen IT-Lösungen müssen unter Umständen erhebliche Vorlaufkosten in Form von Beratungsleistungen, Implementierungsservices, Anfangsinvestitionen in die Infrastruktur, Ausstattung des Rechenzentrums und Weiteres in Kauf genommen werden. Hierzu werden aber mittlerweile maßgeschneiderte Finanzierungslösungen angeboten, bei denen die Investitionskosten am erwarteten Nutzen ausgerichtet werden, somit Liquidität und Kredit linien des Unternehmens gesichert werden. Heißt: Es werden zum Beispiel individuelle Zahlungsströme sowie verlängerte Zahlungsziele an Budgetplanung und konkretem Projektverlauf ausgerichtet.

Ein Blick in die Zukunft: Wo geht die Reise hin?

Die Studie "Lebenswelten 2020" der Hochschule der Sparkassen-Finanzgruppe hat die sogenannte zwei Märkte-Theorie entwickelt. Im Markt eins bewegt sich der Finanzkunde mit hoher Eigenkompetenz und starker Preissensitivität für seine commodity-Finanzen (gemeint sind Alltagsfinanzen), im Markt zwei erwartet er hohe Kompetenzen für risikobehaftete oder komplexe Leistungen im Zusammenhang mit Lebensprojekten. Die bisherige auf klassische Kundensegmentierung und Clusterung aufbauende Vertriebsstrategie greift dann nicht mehr, weil die dafür notwendige Homogenität von Kundengruppen schwindet. Auch verliert der klassische Begriff Kundenbindung an Relevanz. Der Kunde möchte nicht als "angekettet" betrachtet werden, sondern erwartet Lösungen für seine Lebenswirklichkeit. Das ist ein radikaler Perspektivenwechsel hin zu einem Verständnis, was der Kunde genau in einer bestimmten Situation möchte und der Reaktion darauf mit passenden und attraktiven Produkten.

Das darauf aufbauende neue Leitbild nennt die Studie "Situatives Banking". Übrigens habe ich schon im Jahr 2003 über die Abbildung von Life Events innerhalb des Collaborative-Commerce-Modells gesprochen, damals aber mit einem anderen technologischen Ansatz, nämlich über prozessorientierte Internetportale verschiedener Businesspartner. Heute stehen uns für die Umsetzung des situativen Bankings ganz andere Technologien zur Verfügung. Das in meinem letztjährigen Beitrag in der FLF vorgestellte Cognitive Banking, also die branchenspezifische Anwendung des Cognitive Computing, ist in der Lage, sowohl umfangreiche Kundendaten mit den Möglichkeiten von Data Analytics auszuwerten, als auch das Wissen über die Lebenssituation des Kunden heranzuziehen. In der Kundenbetreuung spielen kognitive Systeme ihre vollen Stärken aus - in der Kundenanalyse, in personalisierten Empfehlungen, im Erkennen und Analysieren neuer Kunden beziehungsweise neuer Anforderungen und im Management von schriftlichen oder mündlichen Kundenreaktionen. Aber auch im Backoffice sorgen spezielle kognitive Systeme, die Robotics Process Automation-Tools (RPAs) für effizientere Abläufe durch Hilfestellung bei und Automatisierung von Unternehmensprozessen. Das Ziel unserer Transformation wird dann die kognitive Bank beziehungsweise der kognitive Finanzdienstleister sein. Dieses Institut ist zu weiten Teilen automatisiert und liefert dem Kunden durch virtuelle Agenten einen deutlich verbesserten 24/7-Kundenservice. Im Backoffice weist es durch RPAs eine standardisierte und modernisierte Transaktionsverarbeitung auf. Des Weiteren sammelt das kognitive Institut für Entscheidungsfindungen und -umsetzungen des Managements aus strukturierten und unstrukturierten Daten Erkenntnisse und übersetzt diese in Empfehlungen zu Kunden, Märkten, Gelegenheiten und Risiken.

Vielen Dank für diese Einblicke.

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