Kommunen als Bestandshalter

Studie zu den Perspektiven der einst viel gescholtenen großen Wohnsiedlungen des 20. Jahrhunderts

Investitionsbedarf und Investitionslücke Quelle: Difu-Befragung Wohnungseigentümer 2014

Im Zuge der steigenden Nachfrage nach Wohnraum richten Bau- und Wohnungswirtschaft ihren Blick auch auf den Bestand. Wo liegen die Potenziale der im 20. Jahrhundert errichteten Großsiedlungen? Ihr größtes Problem ist sicherlich ihr Image. Aufgrund des hohen Anteils an einkommensschwachen Haushalten ergibt sich häufig die Gefahr sozialer Konflikte, zudem lassen bauliche Standards, Alter und Qualität der Bestände stark zu wünschen übrig. Dennoch sind sie für die soziale Wohnraumversorgung langfristig unverzichtbar. Chancen ergeben sich unter anderem aus ihrer energetisch vorteilhaften kompakten Bebauung, zudem bietet die serielle Fertigung die Möglichkeit einer effizienten und kostengünstigen Sanierung. Auch mit Blick auf die weiteren gesellschaftlichen Themen demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt halten sie ein unverzichtbares Zukunftspotenzial bereit - die richtigen Investitionen vorausgesetzt. Die Perspektiven können also gut sein, wenn die städtebauliche und gestalterische Aufwertung der jeweiligen Siedlung gelingt und die Einbindung in die Stadt als Ganzes verbessert wird. Red.

Die Studie zeigt: Bei der städtebaulichen Weiterentwicklung und baulichen Erneuerung großer Wohnsiedlungen wird vielfältig vorgegangen - von der behutsamen Bestandserneuerung über den grundhaften Umbau bis hin zu Abriss und Ersatzneubau. Auf angespannten Märkten erfolgen Bestandsergänzungen durch Neubau, während in Siedlungen schrumpfender Städte Rückbau bei gleichzeitiger Aufwertung dauerhaft notwendiger Quartiere verfolgt wird.

Mit der Studie "Weiterentwicklung großer Wohnsiedlungen" liegt erstmals seit über 20 Jahren wieder eine bundesweit repräsentative Untersuchung zu Investitionsbedarf und Handlungserfordernissen in den großen Mietwohnbeständen des 20. Jahrhunderts vor. Was war der Anlass?

Die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnungen steigt. Bau- und Wohnungswirtschaft sind an qualitativ hochwertigen, rationellen und kostengünstigen Lösungen sowohl beim Neubau als auch im Bestand interessiert. Die Potenziale in den großen, im 20. Jahrhundert in Ost wie West errichteten Wohnsiedlungen sind dabei von besonderem Interesse. Dort befindet sich die Mehrzahl der mit bauindustriellen Methoden errichteten und von der organisierten Wohnungswirtschaft bewirtschafteten Wohnungen. Hier leben zirka 8 Millionen Menschen in 4 Millionen Wohnungen.

Die Erneuerung und Weiterentwicklung dieser Bestände ist eine Bauaufgabe mit immensem Investitionsbedarf, der in der vom Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urbanistik erarbeiteten Studie bis 2030 mit insgesamt 90 Milliarden Euro beziffert wird. Bauliche Standards, Alter und Qualität der Bestände führen zu lokal spezifischem, in der Regel erheblichem Erneuerungsbedarf. Dies betrifft Siedlungen in den neuen wie in den alten Ländern, die allein schon aufgrund ihrer schieren Dimension für die soziale Wohnraumversorgung auf lange Sicht unverzichtbar sind. Die anstehenden Aufgaben sind sehr verschieden:

- In den Städten wachsender Regionen zieht die Nachfrage nach Wohnungen an, die Leerstände gehen gegen Null. Erforderlich ist bezahlbarer Wohnraum, um Verdrängungsprozessen entgegenzuwirken und die vorhandenen Nachbarschaften zu stabilisieren. Zudem werden Flächenpotenziale für ergänzenden Wohnungsbau innerhalb der Siedlungsgefüge gesucht.

- In schrumpfenden Regionen geht es darum, Sicherheit über Rückbaunotwendigkeiten und dauerhaft notwendige Bestände zu erlangen, um Fehlallokationen von Investitionen zu vermeiden.

Ergänzender Neubau, Modernisierung oder Abriss?

Erforderlich sind ganzheitliche Konzepte zum Umgang mit den großen Mietwohnungsbeständen. Hinsichtlich der Investitionsentscheidungen muss abgewogen werden, ob beziehungsweise in welchen Fällen ergänzender Neubau, eine Modernisierung oder der Abriss von Wohngebäuden mit gegebenenfalls anschließendem Ersatzneubau vorzuziehen ist.

Angesichts der Dimension der anstehenden Aufgaben war eine wissenschaftliche Aufarbeitung der offenen Fragen überfällig, zumal der letzte Großsiedlungsbericht der Bundesregierung lange zurückliegt: Er wurde im Jahr 1994 erstellt. Hinzu kommt, dass sich in den letzten Jahren die politische und planerische Diskussion in starkem Maße auf die Innenstädte fokussiert hat. Die großen Wohngebiete des Mietwohnungsbaus des 20. Jahrhunderts standen weniger im Fokus der fachöffentlichen Diskussion und der Förderpolitik.

Die auf repräsentativen bundesweiten Befragungen von Kommunen und Wohnungsunternehmen sowie vertiefenden Fallstudien beruhende Studie zeigt auf einer breiten empirischen Basis, welche erfolgversprechenden Handlungsansätze zur Weiterentwicklung von großen Wohnsiedlungen bestehen und welche Empfehlungen sich daraus für das politische und wohnungswirtschaftliche Handeln ergeben.

Die Anforderungen des Klimaschutzes kommen den Wohngebieten entgegen aufgrund ihrer energetisch vorteilhaften kompakten Bebauung bei gleichzeitiger starker Durchgrünung. Zudem eröffnet die serielle Bauweise die Möglichkeit, rationell und damit kostengünstig zu sanieren und neue Qualitäten anzubieten. Die in der Regel gute Ausstattung mit umbaufähigen Gemeinbedarfseinrichtungen erleichtert die Anpassung der Quartiere an sich verändernde soziale und demografische Anforderungen. Im Unterschied zum zersplitterten Kleineigentum besteht die Möglichkeit abgestimmten Handelns professioneller Wohnungsunternehmen im Zusammenhang ganzer Quartiere.

Chancen und Gefährdungen großer Wohnsiedlungen

Aufgrund des häufig höheren Anteils von Haushalten mit niedrigem Einkommen und mit Migrationshintergrund bedürfen die großen Wohnsiedlungen besonderer sozialer Aufmerksamkeit. Die Gebiete sind zwar nicht die Ursache sozialer Konflikte, können aber eher zu Austragungsorten solcher Konflikte werden, wenn die Belegungspolitik nicht den Zusammenhalt der Nachbarschaften sensibel berücksichtigt. Hinzu kommt: Einige der großen Wohngebiete haben nach wie vor Imageprobleme und gegen Stigmatisierungen anzukämpfen.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden die großen Wohnsiedlungen in der Regel als Masse weitgehend gleichartiger Bauten wahrgenommen. Die Medien bedienen und verstärken mitunter abwertende Klischees. Die oft anzutreffende Verengung auf "Platte" (neue Bundesländer) und dicht bebaute Hochhausensembles (alte Bundesländer) beschreibt nur einen Teil der Wirklichkeit. Bei genauerer Betrachtung werden beim Siedlungsvergleich erhebliche Unterschiede deutlich, die von der Zeit der Bebauung, der Siedlungsgröße, den Intentionen der Bauherren und Planer ebenso abhängen wie von der gegenwärtigen Bewirtschaftung und Belegungspolitik.

Die Gutachter machen darauf aufmerksam, dass die Qualität der Wohnverhältnisse in den großen Wohnsiedlungen im internationalen Vergleich hoch ist. Die durchschnittlichen Mieten liegen in der Regel unter den gesamtstädtischen Werten. Die Bewohnerstrukturen sind geprägt durch einen höheren Anteil von Haushalten, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind. Zudem ist der Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund häufig höher als im Durchschnitt der jeweiligen Städte, und damit erbringen die großen Wohnsiedlungen besondere Integrationsleistungen, die allen anderen Stadtquartieren indirekt zugutekommen.

Erheblicher Investitionsbedarf

Umso wichtiger ist, dass diese Rolle auch gewürdigt und nicht durch unsensible Belegungspolitik überstrapaziert wird. Die Hochrechnung der Investitionsabsichten der in der Studie befragten Wohnungsunternehmen ergab ein Investitionsvolumen von 33 Milliarden Euro im Zeitraum 2014 bis 2030. Der auf Basis von Zielsetzungen zur energetischen Modernisierung, zum Abbau von Barrieren, zur Ausstattungsqualität der Wohnungen und zum rechnerisch notwendigen zusätzlichen Wohnungsneubau im vorhandenen Wohnsiedlungsgefüge wachsender Städte ermittelte Investitionsbedarf ist mit 56 Milliarden Euro deutlich höher.

Die Lücke zwischen dem normativ gesetzten Investitionsbedarf und den Investitionsabsichten weist darauf hin, dass große Anstrengungen erforderlich sind, um die Zukunftsfähigkeit der großen Wohngebiete zu sichern. Im Mittelpunkt stehen dabei weiterhin die Maßnahmen zur Reduzierung des Energieverbrauchs, zum Barriereabbau und zur Aufwertung der Wohnungen mit dem Anspruch, auch zukünftigen Wohnbedürfnissen gerecht zu werden.

Erheblichen Anteil an der Investitionslücke hat der Neubau. Einem geschätzten Bedarf von 17 Milliarden Euro für zusätzlichen Wohnraum, der innerhalb der großen Wohnsiedlungen auf angespannten Wohnungsmärkten rein rechnerisch errichtet werden könnte, stehen von den Wohnungsunternehmen beabsichtigte Investitionen in Höhe von etwa 7 Milliarden Euro gegenüber. Das macht deutlich, wie schwer für die Wohnungswirtschaft derzeit das Potenzial für ergänzenden Neubau innerhalb der Siedlungen abschätzbar ist, der vor allem von seiner Akzeptanz bei den vorhandenen Bewohnern abhängt.

Zum Gesamtbedarf bis 2030 kommen 34 Milliarden Euro für Investitionen im Wohnumfeld und in der begleitenden technischen und sozialen Infrastruktur hinzu. Hier sind es vor allem die Kommunen, die eine bedarfsgerechte Ausgestaltung gewährleisten müssen.

Erneuerungskonzepte und Belegungsstrategien

Die Studie zeigt: Bei der städtebaulichen Weiterentwicklung und baulichen Erneuerung großer Wohnsiedlungen wird vielfältig vorgegangen - von der behutsamen Bestandserneuerung über den grundhaften Umbau bis hin zu Abriss und Ersatzneubau. Auf angespannten Märkten erfolgen Bestandsergänzungen durch Neubau, während in Siedlungen schrumpfender Städte Rückbau bei gleichzeitiger Aufwertung dauerhaft notwendiger Quartiere verfolgt wird.

Entscheidend für den Erfolg der Siedlungserneuerung ist das abgestimmte Vorgehen von Stadt und Wohnungseigentümern - sowohl was die Investitionstätigkeit als auch was die Beteiligung der Bewohnerschaft betrifft. Ebenso wichtig ist die Kooperation der Eigentümer untereinander.

Verfolgt werden zum einen ganzheitliche Quartierskonzepte, bei denen Maßnahmen im Wohnungsbestand mit der Aufwertung des Wohnumfeldes und der sozialen Infrastruktur korrespondieren. Zum anderen gehen viele Wohnungseigentümer und Kommunen mit Blick auf begrenzte Mieterhöhungsspielräume und wirtschaftliche Ressourcen den Weg der schrittweisen Bestandserneuerung. Um eine gemischte Wohnungsbelegung zu ermöglichen, erweist es sich als vorteilhaft, unterschiedliche Mietniveaus und Wohnqualitäten mit unterschiedlichen Förderinstrumenten zu gestalten.

Siedlungserneuerungen als Lernfeld

Das Leitbild des Wohnens, das hinter der Errichtung der großen Wohnsiedlungen steht, ist kein Auslaufmodell. Beim Wohnungsneubau mit größeren Losgrößen wird der Typus des durchgrünten und sozial gemischten Wohnquartiers mit guter wohnungsnaher Versorgung, aber nur moderater gewerblicher Durchmischung nach wie vor bevorzugt. Bau- und Wohnungswirtschaft sind angesichts des Bedarfs an kostengünstigem Bauen angehalten, ihre Erfahrungen mit seriellem Bauen zu erweitern beziehungsweise wieder zu entdecken: Rationelle Bauweise und effektive Baulogistik waren Stärken des industriellen Siedlungsbaus, die für den Wohnungsbau wieder aktuell sind. Die enge Verknüpfung von Planung und Ausführung (Bauteams) ist ein Weg, um Effektivitätspotenziale zu erschließen.

Die Qualitätsverbesserung muss wirtschaftlich tragbar sein, sowohl für die Mieter als auch für die Vermieter. Die wachsenden normativen Anforderungen an Energieeffizienz und Klimaschutz bewirken im Zusammenspiel mit den Ansprüchen an altersgerechtes und barrierearmes Wohnen, dass die Erneuerung der großen Wohnsiedlungen im Bestand wie beim Neubau für die Eigentümer an die Grenzen der wirtschaftlichen Tragfähigkeit stößt.

Unverzichtbares Zukunftspotenzial

Denn: Der enge Spielraum für die sozialverträgliche Umlage der Kosten auf die Mieten schränkt das wirtschaftliche Handeln ein. Die Befragungsergebnisse belegen, dass die Haushalte im Durchschnitt zirka ein Drittel ihres Einkommens für die Miete aufwenden müssen. Die Studie verweist darauf, dass die Teilprogramme der Städtebauförderung ganzheitliche Erneuerungsprozesse in den großen Wohnsiedlungen unterstützt haben. Die in den letzten Jahren beobachtbare stärkere Fokussierung der Förderung auf die Innenstädte sollte überdacht werden, zumal die großen Wohngebiete einen wesentlichen Beitrag zur Innenentwicklung der Städte und zur effektiven Flächennutzung leisten.

Auch die Wohnraumförderung der Länder sollte die Gebietskulisse der großen Wohnsiedlungen in stärkerem Maße als in den letzten Jahren einbeziehen. Generell gilt: Auf die konkreten Bedürfnisse zugeschnittene Förderangebote innerhalb eines zu erneuernden Gebietes sind zweckmäßig, um korrespondierend mit einer sozialverträglichen Belegungspolitik gemischte Wohnungsangebote und Bewohnerstrukturen zu bewirken.

Die großen Wohnsiedlungen sind aus Sicht der Gutachter mit Blick auf die großen gesellschaftlichen Themen - sozialer Zusammenhalt und demografischer Wandel, Klimawandel und Energiewende - ein unverzichtbares Zukunftspotenzial. Die derzeit absehbaren gesellschaftlichen Trends sprechen dafür, dass die Wohnsiedlungen, ihre sozialverträgliche Erneuerung vorausgesetzt, dauerhaft nachgefragte und bedeutsame Segmente auf dem Wohnungsmarkt bleiben werden. Politik und Wohnungswirtschaft sollten deshalb weiterhin das Ziel verfolgen, die großen Wohnsiedlungen der 1920er- bis 1980er-Jahre sozial so zu stabilisieren und baulich zu erneuern, dass sie auf Dauer zukunftsfähig sind. Das erfordert

- soziale Mischung und stabile Nachbarschaften durch Sozialmanagement, Belegungspolitik und nachfragegerechte Angebote der Gemeinwesenarbeit zu fördern

- die Bestände schrittweise und zu tragbaren Kosten so zu entwickeln, dass sie als wichtige Segmente des regionalen Wohnungsmarktes dauerhaft nachgefragt und rentierlich bewirtschaftbar sind

- Wohnungsbestände und Infrastruktur aufeinander abgestimmt und je nach Lage differenziert zu ergänzen, aufzuwerten, zu modernisieren oder zurückzubauen - und zwar so, dass eine städtebauliche und gestalterische Aufwertung der jeweiligen Siedlung gelingt und die Einbindung in die Stadt als Ganzes verbessert wird.

Der Autor

Dr. Bernd Hunger Vorsitzender, Kompetenzzentrum Großsiedlungen e. V., Berlin und Referent für Stadtentwicklung, GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V., Berlin

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