Zwischen Disruption und Spekulation: von Bitcoin, Blockchain und digitalem Geld

Carl-Ludwig Thiele, langjähriger Bundestagsabgeordneter und von 2010 bis 2018 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank
Foto: Manjit Jari

Carl-Ludwig Thiele, Mitglied des Vorstands, Deutsche Bundesbank, Frankfurt am Main - 80 Prozent aller Banken werden am Ende dieses Jahres mindestens ein Blockchain-Projekt begonnen haben. Und über 90 Zentralbanken beteiligen sich aktiv an der Debatte über die künftige Nutzung der Blockchain. Das zeigt, mit welch einer Intensität sich die Finanzwirtschaft mit der neuen Technologie auseinandersetzt. Der Autor erkennt in der Blockchain viele Vorteile wie eine höhere Geschwindigkeit bei Abwicklungs- und Transaktionsprozessen, sinkende Kosten, eine einheitliche Datenbasis, mehr Absicherung gegen Datenverlust und insgesamt widerstandsfähigere Systeme. Allerdings sieht er aber noch einigen Entwicklungsbedarf, denn die aktuellen Blockchain-Versionen weisen in seinen Augen noch zahlreiche Schwächen auf: So fehle eine zentrale Institution zur Überwachung, der Transaktionsdurchsatz sei noch sehr gering, die Investitionskosten zu hoch und es bestünden weiterhin Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Systeme gegen Cyberrisiken und hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre. Mit Blick auf die Weiterentwicklung stellt er vier Szenarien vor, die sich binnen einer Generation entwickeln könnten. Diese reichen von "Blockchain in Nischen" über eine "Mainstream Blockchain" und die "Selektive Disruption" bis hin zu einer "Peer-to-Peer-Gesellschaft," in der es zur umfassenden Anwendung der Blockchain, auch durch Privathaushalte, kommt. (Red.)

Das große Stichwort lautet: "Blockchain". Blockchain ist die Technik, die auch hinter der virtuellen Währung Bitcoin steckt. Bitcoin ist als Begriff noch immer bekannter als Blockchain. Aber man darf Prominenz nicht mit Wichtigkeit verwechseln. Für die zukünftige Finanzwelt dürfte die Technik Blockchain ungleich wichtiger sein als die virtuelle Währung Bitcoin. Die Blockchain-Welt ist groß. Nach Angaben des World Economic Forum wurden in den vergangenen drei Jahren weltweit über 1,4 Milliarden US-Dollar in Blockchain-Projekte investiert. Daraus sind über 2 500 Patente entstanden. Es wird erwartet, dass 80 Prozent aller Banken bis 2017 mindestens ein Blockchain-Projekt beginnen. Und über 90 Zentralbanken beteiligen sich aktiv an der Debatte über die künftige Nutzung der Blockchain.

Erfindung des Bitcoin

Lassen Sie mich trotzdem mit Bitcoin beginnen. Denn hier liegt der Ursprung der Debatte über Blockchain und digitale Währungen. Bitcoin wurde erfunden von Satoshi Nakamoto. Wer oder wie viele Personen hinter diesem Namen stehen, ist der Öffentlichkeit bis heute unbekannt. Unter diesem Namen jedenfalls wurde im November 2008 ein Artikel veröffentlicht. Er heißt: "Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System". Darin schlägt Nakamoto ein Verfahren vor, wie man digitale Transaktionen zwischen Einzelpersonen (zum Beispiel über das Internet) so verschlüsseln kann, dass damit eine sichere Übertragung von Werten möglich wird. Gleichzeitig gewährleistet das Verfahren eine Bestandskontrolle. Es löst das sogenannte Double-Booking-Problem. Sie wollen ja bei einer Übertragung nicht nur sichergehen, dass Sie als Empfänger tatsächlich Eigentum erlangen, sondern auch Gewissheit haben, dass der vorherige Eigentümer nicht zugleich dasselbe Gut noch einmal an einen anderen überträgt. Die Technik ermöglicht beides.

Damit Nakamoto das Verfahren ausprobieren konnte, wurde eine Währung, nämlich Bitcoin, erfunden und transferiert. Außerdem erfand er einen Mechanismus, wie neue Bitcoin geschaffen werden. Wichtig für Nakamoto war, dass die Übertragung ohne einen vertrauenswürdigen Dritten erfolgen konnte. Man brauchte also keine zentralen Institutionen mehr. Ein Finanzsystem ohne die Voraussetzung von Vertrauen, ohne Banken und eventuell auch ohne Zentralbanken schien denkbar. In der Szene der Programmierer und bei Kritikern des gegenwärtigen Finanzsystems fand Bitcoin schnell Anklang. Das Motiv, eine Währung unabhängig von Banken zu schaffen und zu transferieren, lockte eine wachsende Fangemeinde. Die Technik funktioniert und Bitcoin entwickelte sich rasant. Die gegenwärtige Marktkapitalisierung von Bitcoin liegt laut einer einschlägigen Webseite1) bei über 10 Milliarden US-Dollar und damit etwa bei dem Zehnfachen der nächstkleineren virtuellen Währung "Ethereum". Aber Bitcoin ist eine rein erfundene Währung, eben virtuell. De facto ist ein Bitcoin nur das in der Bitcoin-Blockchain festgehaltene Recht, einen Bitcoin zu transferieren.

Man kann jederzeit andere Währungen erfinden. Und in der Tat entwickelten sich schnell leichte Änderungen zur Bitcoin-Blockchain, auf denen alternative Währungen, sogenannte Alt-Coins transferiert wurden. Die Zahl der virtuellen Währungen liegt laut der bereits erwähnten Webseite derzeit bei 710, von denen allerdings nur 25 eine Marktkapitalisierung von über 10 Millionen US-Dollar erreichen. Zum Vergleich: Die Liste der offiziellen Währungen2) umfasst gerade einmal 179 Einträge - haben aber ganz andere Marktkapitalisierungen.

Vergleich Bitcoin mit Zentralbankgeld

Was bedeutet "virtuelle Währung"? Lassen Sie mich dazu etwas ausholen und über Geld an sich sprechen. Die Ökonomen sprechen von Geld, wenn es drei Funktionen erfüllt:

- Die Funktion als Tauschmittel: Geld wird als universales Tauschmittel im Handel genutzt.

- Die Funktion als Wertaufbewahrungsmittel: Man verwendet Geld zur Wertaufbewahrung und späteren Verwendung als Tauschmittel.

- Die Funktion als Recheneinheit: Der Wert von Gütern wird in Geldeinheiten ausgedrückt.

All diese Funktionen erfüllen weder Bitcoin noch eine andere virtuelle Währung im strengen Sinn. Natürlich bezahlen manche mit Bitcoin. Es gibt angeblich 310 Akzeptanzstellen für Bitcoin in Deutschland.3) Das ist recht bescheiden werden Sie zu Recht sagen. In der Tat, allein Tankstellen gibt es in Deutschland nach Angaben des ADAC über 14 000 Stück.4) Aber nicht nur die geringe Anzahl von Bitcoin-Akzeptanzstellen ist eine Einschränkung der Eigenschaft als Tauschmittel zu dienen, sondern auch die faktische Nutzung. Die meisten Händler, die Bitcoins akzeptieren, tauschen diese praktisch sofort wieder in Zentralbankgeld, also zum Beispiel Euro, um. Das Wechselkursrisiko für Bitcoin ist ihnen zu hoch, weil der Kurs heftig und erratisch schwankt. Bitcoin ist ebenso wenig ein Wertaufbewahrungsmittel. Dafür spricht die recht geringe Marktkapitalisierung. Natürlich halten einige Personen einen Teil ihres Vermögens in Bitcoin. Dafür dürfte das Spekulationsmotiv eine Rolle spielen. Und eine Recheneinheit ist Bitcoin erst recht nicht. Selbst viele Bitcoin-Enthusiasten geben den Wert ihrer Bitcoin in US-Dollar oder Euro an.

Was ist aber der entscheidende Unterschied zwischen Zentralbankgeld und virtuellen Währungen? Hinter Zentralbankgeld steht die Zentralbank eines Landes. Jeder Euro, den die Bundesbank ausgibt, wird als Verbindlichkeit in der Bilanz der Bundesbank verbucht. Zentralbankgeld ist so gesehen eine Forderung an die Zentralbank. Das vom Zentralbankgeld abgeleitete Geschäftsbankengeld wiederum ist eine Forderung an die jeweilige Geschäftsbank. So kann man sagen, dass die offiziellen Währungen stets "Forderungsgeld" sind. Sie stellen eine Forderung dar gegenüber einer Geschäftsbank oder der Zentralbank. Und mit dem Vertrauen in die Zentralbank steigt und fällt auch der Wert dieser Währung. Daher ist Vertrauen das höchste Gut einer Zentralbank. Virtuelles Geld ist dagegen keine Forderung. Die Bitcoin-Blockchain beschreibt nur das Recht, Bitcoins zu transferieren. Gleichsam wie ein Eigentumsregister, etwa wie beim Grundbuch. Sie können als Eigentümer eines Bitcoin anhand der Bitcoin-Blockchain nachweisen, dass sie das Recht haben, eine bestimmte Summe an Bitcoin zu transferieren. Sie haben aber keine Forderung gegen irgendeine Institution. Niemand muss ihre Bitcoins als Zahlungsmittel annehmen.

Virtuelle Währungen unterscheiden sich also von Zentralbankgeld durch die andere Form des Eigentumsübergangs (gleichsam eine Registeränderung) und dadurch, dass keine Wertgrundlage (zum Beispiel das Vertrauen in eine Zentralbank) vorliegt. Für mich liegt in der fehlenden Wertgrundlage das Virtuelle, die Künstlichkeit dieser Währung. Das ist meines Erachtens auch ein wesentlicher Grund für die relativ starken Wertschwankungen virtueller Währungen.

Grundlagen zur Blockchain

Daher zeigen Notenbanker auch wenig Interesse an einer Nutzung virtueller Währungen. Wohl aber an der Blockchain, welche die Technik ist, mit der virtuelle Währungen übertragen werden. Die Blockchain bietet potenziell eine Reihe von Vorteilen. Wenn die Daten über alle Transaktionen bei allen oder vielen Teilnehmern gespeichert werden, gibt es naturgemäß mehr Absicherung gegen Datenverlust. Man sagt, das System sei im höheren Maße widerstandsfähig, weil es keinen sogenannten Single Point of Failure aufweise. Weiterhin gilt als Vorteil, dass alle Beteiligten in arbeitsteiligen Prozessen auf einer einheitlichen Datenbasis arbeiten. Dadurch entfallen Übermittlungsfehler und nachträgliche Abstimmungsrunden. Die können nämlich bisweilen sehr arbeitsintensiv sein. Da alle Transaktionen grundsätzlich einsehbar sind, ergibt sich auch ein relativer Schutz vor nachträglicher Änderung. Nicht zuletzt gilt als Vorteil, dass mit einer Blockchain eine sofortige oder zumindest relativ schnelle Abwicklung möglich wird.

Allerdings hat die Blockchain auch eine Reihe von Nachteilen beziehungsweise Hürden, die sie überwinden muss. Es gibt in der Basisversion einer Bitcoin-Blockchain keine zentrale Institution, die das System überwacht. Das heißt, man arbeitet erstmal mit einer geringen Vertrauensbasis. Weiterhin weist die Basisversion einen recht niedrigen Transaktionsdurchsatz auf, obwohl sie mit sehr hohem Energieaufwand betrieben wird. Es ist unklar, ob sie jemals für die Anwendung in der Massenabwicklung tauglich gemacht werden kann. Leider bestehen auch einmalig hohe Investitionskosten für Anwender, um die Technologie überhaupt nutzen zu können. Zudem sind die bisherigen Verfahren hinsichtlich ihrer Benutzerfreundlichkeit nicht gerade massentauglich. Die Blockchain-Community arbeitet mit viel Energie daran, auch diese Nutzungsschwellen zu senken. Allerdings bedeutet jede vorgeschaltete Benutzeroberfläche wieder eine neue Angriffsmöglichkeit für potenzielle Betrüger. Insgesamt bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Systeme gegen Cyberrisiken und hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre.

Ansätze zur Nutzung der Blockchain im Finanzsektor

Die Institute im Finanzsektor haben ein grundsätzliches Interesse an einer Nutzung der Blockchain. Damit verbindet sich die Hoffnung, die Kosten der Abwicklung von Finanzgeschäften senken zu können. Allerdings kann dies aufgrund der beschriebenen Nachteile nicht mit der Bitcoin-Blockchain erfolgen. Wenn man die Blockchain für Finanztransaktionen nutzen möchte, muss sie angepasst werden an die Bedingungen im Finanzsektor. Die wichtigsten Anpassungen im Vergleich zur Bitcoin-Blockchain sind:

1. Für Finanztransaktionen eignen sich tendenziell nur geschlossene Blockchains oder auf Englisch "permissioned blockchains". Bei diesen ist die Identität aller Teilnehmer grundsätzlich bekannt und eine Zentraleinheit kontrolliert den Zugang zur Blockchain.

2. Für eine Blockchain, die Finanztransaktionen abwickelt, muss es eine klare Governance geben. Eine anarchische Struktur ist aus Gründen der Stabilität und der regulatorischen Verantwortlichkeit nicht hinnehmbar.

3. Daten auf der Blockchain dürfen nicht offen einsehbar gespeichert werden. Wie immer im Finanzsektor sollte auch hier Vertraulichkeit gewahrt sein. Das sogenannte "need-to-know"-Prinzip muss Geltung haben.

4. Wir brauchen eine schnelle Abwicklung mit einer definierten Finalität der Transaktion. Bisher läuft die Bestätigung einer Transaktion in der Bitcoin-Blockchain gleichsam als Abstimmungsprozess ab und es gibt nur eine relative Rechtssicherheit. Wir brauchen aber in der finanzwirtschaftlichen Realität verbindliche Rechtssicherheit. Wenn zwei Parteien einen Handel abgeschlossen haben, sollen andere nicht noch über dessen Gültigkeit abstimmen dürfen.

5. Nicht zuletzt dürfte die Blockchain nur als Technologie, aber ohne eine eingeschlossene Kryptowährung genutzt werden.

Welche Nutzungsmöglichkeiten für die Blockchain zeichnen sich im Finanzsektor ab? Blockchain-basierte Technologien eröffnen die Chance, aufwendige Intermediationsprozesse in Zahlungsverkehr und Abwicklung zu vereinfachen und Kosten zu sparen. Nahezu alle Dienstleister im Zahlungsverkehr beschäftigen sich deshalb derzeit mit verschiedenen Einsatzmöglichkeiten der Technologie. Ein positiver Effekt, der sich bereits jetzt eingestellt hat, ist die branchenweite Zusammenarbeit. In der Entwicklung von Blockchain-Anwendungen kommt es, wie in der Politik auch, zu Koalitionen. Der Dialog verschiedener Marktteilnehmer zu künftigen Marktentwicklungen kann das gegenseitige Verständnis fördern und eine Harmonisierung von Prozessen begünstigen. Damit kann auf die Herausforderungen neuer Technologien adäquat reagiert werden.

Zahlungsverkehr und Wertpapierabwicklung

Bei einer Blockchain handelt es sich zunächst einmal im Kern um eine Transaktionstechnik. Das heißt, wir schauen primär auf Zahlungsverkehr und Wertpapierabwicklung, also neudeutsch: auf das Trans action Banking. Im Zahlungsverkehr innerhalb eines Währungsgebietes dominieren die Zahlungsverkehrssysteme. Dies sind große Finanzmarktinfrastrukturen, die einen zentralen Betreiber haben und an denen die beteiligten Finanzinstitute angeschlossen sind. Die Abwicklung erfolgt zumindest in den Individualzahlungssystemen in Echtzeit und insgesamt sehr effizient. Die Einführung von zentralen Zahlungsverkehrssystemen ist einer der Ursprünge des Zentralbankwesens und hat wesentliche Effizienzgewinne zur Folge gehabt. Ohne eine - ganz wörtlich zu nehmende - Zentralbank haben die Banken hohe Kosten in der Überwachung ihrer bilateralen Zahlungsströme und hohe Liquiditätskosten. So erfüllt zum Beispiel Target2, das große europäische Individualzahlungssystem, das von der Bundesbank mit entwickelt wurde und mit betrieben wird, eine ganz wichtige Funktion für das europäische Finanzsystem. Zahlungen über Target2 erfolgen in sicherem Zentralbankgeld, verlässlich, schnell, günstig und liquiditätssparend. Target2 und ähnliche Systeme dürfen heute als Benchmark für effiziente Abwicklung angesehen werden. Trotz vielfältiger Funktionen erzeugt Target2 fast keinen ergänzenden Abstimmungsbedarf für die beteiligten Institutionen. Auf absehbare Zeit erwarte ich daher auch nicht, dass große Zahlungssysteme ernsthafte Konkurrenz von Blockchainbasierten Lösungen bekommen werden.

Das könnte im Fall der Wertpapierabwicklung etwas anders sein. Die Wertpapierabwicklung ist ungleich komplexer als der Zahlungsverkehr. Bedingt durch fehlende Interoperabilität und deshalb notwendige Abstimmungsprozesse gibt es eine ganze Reihe von Ineffizienzen in der Wertpapierabwicklung. Mit einer Blockchain-Anwendung wäre eine einheitliche sofortige Datenvorhaltung bei allen Marktteilnehmern erreichbar. Prozesse könnten optimiert, Risiken aus Differenzen und mangelndem Datenabgleich reduziert werden. Allerdings dürfte für die geldseitige Abwicklung von Wertpapiergeschäften die Notwendigkeit einer digitalen Währung bestehen. Aus Gründen der Risikominimierung kommt generell für die Abwicklung größerer Beträge nur Zentralbankgeld infrage.

Es gibt andere Transaktionsformen, in denen die Blockchain noch vielversprechender eingesetzt werden kann. Das gilt zum Beispiel für die Handelsfinanzierung. Die Handelsfinanzierung ist nach wie vor mit einer Vielzahl manueller Abwicklungsschritte und vielen zu übermittelnden Dokumenten verbunden. Hier ist es denkbar, eine gemeinsame Dokumentationsbasis zu schaffen und durch Digitalisierung den Gesamtprozess erheblich zu beschleunigen. Weitere Beispiele, in denen Blockchains Fuß fassen könnten, sind Korrespondenzzahlungen über Währungsgrenzen hinweg und die sogenannten Remittances. Das sind Transfers meist von Personen mit Migrationshintergrund zur Unterstützung ihrer Familie in den Herkunftsländern. Speziell wenn die Versorgung mit Finanzdienstleistungen in diesen Ländern nicht gut ausgebaut ist, könnte die Blockchain eine Alternative bilden. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass die Blockchain in unterstützenden Systemen eine Rolle spielen wird. Im Finanzsektor wird in vielen Prozessen auf Referenzdaten zurückgegriffen, zum Beispiel Stammdaten von Kunden. Bislang müssen alle Beteiligten ihre eigenen Stammdatensysteme selbst führen, pflegen und verifizieren. Es würde eine große Kostenersparnis bedeuten, wenn ein bestätigtes verlässliches Register vorläge, auf das Kreditinstitute zur Identifikation von Kunden zurückgreifen könnten. So etwas wäre mit einer Blockchain durchaus darstellbar.

Digitales Zentralbankgeld und seine Implikationen

Ich hatte bereits erwähnt, dass sich bestimmte Transaktionen über die Blockchain nur mit digitalem Zentralbankgeld denken lassen. Blockchain-Handel braucht digitales Zentralbankgeld. Das ergibt sich, wenn wir noch einmal an die Form der Übertragung denken. Ich denke da nämlich nicht einfach an die elektronische oder digitale Überweisung herkömmlichen Zentralbankgeldes. Das gibt es ja schon und funktioniert sehr gut. Wenn Sie Geld von Ihrem Konto bei einer Geschäftsbank überweisen, dann reduziert sich Ihr Guthabenstand, sprich Sie haben weniger Forderungen gegen Ihre Geschäftsbank. Der Überweisungsempfänger erhält eine Gutschrift und hat jetzt mehr Forderungen gegen seine Geschäftsbank. Das implizite Risiko, das damit verbunden ist, hat er durch seine Bankverbindung akzeptiert. Wenn Sie statt der Überweisung Bargeld geben, dann erhält der Empfänger gleichsam eine Forderung gegen die Zentralbank. Das wird gerne genommen, denn das Risiko ist deutlich geringer als bei Geschäftsbankengeld.

Wenn wir aber eine digitale Währung wie Bargeld übertragen wollen, dann kann dies zur Risikominimierung eigentlich nur Zentralbankgeld sein, sofern die Beträge eine relevante Größe erreichen. Denn wer wollte gleichsam Bargeld annehmen müssen, das von irgendeiner Geschäftsbank in der Welt emittiert wurde? Eine funktionierende Blockchain braucht eine einheitliche stabile digitale Währung. Und das müsste Zentralbankgeld sein. Allerdings stellen sich hier viele Fragen, die noch nicht alle definiert und noch nicht alle gelöst sind. Noch haben wir etwas Zeit, denn auch die Entwicklung der Blockchain als Technik steckt noch in den Kinderschuhen.

Vier Szenarien

Zum Abschluss möchte ich unseren Blick über den Finanzsektor hinaus richten. Wie wird sich die Welt durch die Blockchain verändern? Was haben wir zu erwarten? Nun, das hängt zum großen Teil von uns ab. Und nicht zuletzt davon, ob es gelingt, die Nachteile und Probleme der Blockchain so zu lösen, dass ihre Vorteile uns Nutzen bringen. Ich möchte vier Szenarien vorstellen, die alle binnen einer Generation möglich scheinen. Und ich bewege mich dabei in einem Vier-Quadranten-Feld. Die Szenarien ergeben sich also als Ergebnis der Antworten auf zwei Fragen: Erstens, kommt es zu einer funktional breiten Anwendung der Blockchain in der Wirtschaft? Und zweitens, welchen Einfluss wird die Blockchain auf die Wirtschaftsstruktur haben?

- In meinem ersten Szenario - ich nenne es "Blockchain in Nischen" - bleibt die Blockchain auf wenige funktionale Bereiche beschränkt. Sie wird zur Verbesserung von einigen traditionellen Prozessen genutzt, meist aber nur branchen- oder unternehmensspezifisch. Selektiv trägt sie zur Effizienzsteigerung bei. Eine starke Veränderung der Wirtschaftsstruktur geht davon nicht aus.

- Szenario zwei heißt "Mainstream Blockchain". Auch hier dürfte die Wirtschaftsstruktur weitgehend unverändert bleiben. Aber die Wirtschaft wird gekennzeichnet sein durch den Einsatz vieler miteinander verbundener Blockchain-Anwendungen, wodurch arbeitsteilige Prozesse schneller, reibungsloser und günstiger ablaufen können. Die Blockchains werden durch große IT-Konzerne oder die jeweiligen Branchenführer betrieben.

- Wenn wir etwas mehr Veränderung der Wirtschaftsstruktur unterstellen, aber von einer funktional nur begrenzten Nutzung der Blockchain ausgehen, dann erreichen wir Szenario drei: "Selektive Disruption". Einzelne heute gültige Wertschöpfungsketten werden aufgebrochen und teilweise entstehen neue Geschäftsfelder. Aber dies bleibt auf wenige Branchen beschränkt.

- Schließlich Szenario vier: Die "Peer-to-Peer-Gesellschaft". In ihr kommt es zur umfassenden Anwendung der Blockchain, auch durch Privathaushalte. Sinkende Transaktionskosten führen zu neuen Formen der Arbeitsteilung und insgesamt zur Zerlegung großer Unternehmen. Freiberufler und Selbstständige dominieren das Bild. Die Blockchains werden durch Kooperationen Unabhängiger betrieben.

Grundsätzliche Zuversicht

Das alles ist denkbar. Sicher auch Mischformen oder ganz andere Szenarien. Und vieles kann anders kommen als es die besten Experten heute vorhersehen. Ich plädiere für eine nicht euphoriegeleitete, aber grundsätzlich zuversichtliche Beschäftigung mit der Blockchain wie mit anderen neuen Ideen. Dies gilt auch für die Bundesbank, die natürlich vor allem auf Stabilität und Vertrauen baut. Daran machen wir keine Abstriche.

Wenn aber die gleiche Lösung effizienter umgesetzt werden kann, dann müssen wir das im Interesse unserer Volkswirtschaft auch tun. Und wenn Sie mich fragen, ob Sie als Unternehmer die Blockchain nutzen sollen, kann ich nur sagen: Das ist Ihre Entscheidung. Ich halte es da mit dem deutschen Dichter Wilhelm Jensen. Er hat so treffend formuliert: Nicht stets gewann, wer kühn gewagt; doch stets verlor, wer bang verzagt.

Fußnoten

1) https://coinmarketcap.com/all/views/all/

2) Die Liste der gegenwärtig aktiv verwendeten Währungscodes nach ISO 4217.

3) Vgl. http://bitcoin-einfach.de/akzeptanzstellen

4) Vgl. https://www.adac.de/infotestrat/tanken-kraftstoffe-und-antrieb/

Dieser Beitrag basiert auf einer Rede des Autors beim Zahlungsverkehrssymposium der Deutschen Bundesbank am 18. Mai 2017 in Frankfurt am Main.

Zwischenüberschriften sind teilweise von der Redaktion eingefügt.

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