Frage an ... ... Björn Jesch

"Bedeuten die aktuellen politischen Entwicklungen eher Chancen oder Risiken für Asset Manager?"

Björn Jesch, Leiter Portfoliomanagement, Union Investment, Frankfurt am Main

Wenn 2016 für Investoren eine Lehre mit sich gebracht hat, dann diese: Auch die vermeintlich riskantesten und überraschendsten Ergebnisse bergen ihre Chancen. Wir erinnern uns: Der britische Aktienmarkt hat das Brexit-Referendum nach einem kurzen Moment des Innehaltens mit deutlichen Aufschlägen quittiert. Die US-Börsen haben kaum zwei Tage gebraucht, um die Wahl Donald Trumps zu verarbeiten und auf Rekordkurs einzuschwenken. In beiden Fällen hatte das Gros der politischen Analysten mit dem Gegenteil gerechnet und für die letztendlich eingetretenen Szenarien Marktkorrekturen prognostiziert.

Selbst das gescheiterte Verfassungsreferendum in Italien hat den Kursen keinen nennenswerten Schaden zugefügt. Es ist offensichtlich, dass sich der Markt in diesen drei Fällen entschlossen hat, die negative Seite der Ergebnisse auszublenden. Stattdessen wurden an den Börsen ausschließlich die Chancen gehandelt. Ob sich dieses Muster wiederholt oder ob es einmalig war, ist derzeit völlig offen. Fest steht indes: Es hat sich etwas geändert im Umgang mit politischen Events.

Mehr Fragen als Antworten

Gilt also die alte Weisheit "Politische Börsen haben kurze Beine" nicht mehr? Jedenfalls kann man sie als Diktum für das Jahr 2016 nicht uneingeschränkt stehen lassen. Fakt ist: Nicht alles, was an Informationen und Versprechungen durch die Medien rauscht, ist für die Börsen relevant. Das gilt nicht nur, aber besonders für Zeiten des Wahlkampfes. Die zentrale Tätigkeit der Analysten ist in solchen Phasen das, was auf Englisch mit "separating the signal from the noise" bezeichnet wird: zwischen Grundrauschen und echten Veränderungen in langen Entwicklungstrends zu unterscheiden. Was gehört zum tagespolitischen Klein-Klein und was bedeutet tatsächlich eine Weichenstellung für die künftige Wirtschaftsoder Finanzpolitik? Die Frage wird sich in den kommenden Monaten oft stellen, denn die Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland dürften die Investoren 2017 auf Trab halten.

Und es gilt ja noch die längst nicht ausgestandenen Folgen von 2016 zu verarbeiten. Da ist vor allem der Brexit zu nennen. Der Prozess des britischen EU-Austritts könnte im laufenden Jahr in die heiße Phase gehen. Noch hat sich die britische Regierung nicht in die Karten schauen lassen, wie genau der Brexit vollzogen werden soll. Sicher ist, dass Regierungschefin Theresa May hoch pokert, wenn sie einen "harten Brexit" anpeilt. Der Beziehungsstatus zur EU bleibt aber unklar. Als leuchtendes Vorbild für andere potenzielle Aussteiger taugen die Briten jedenfalls nicht. Die lange Zeit des Herumdrucksens ist eher ein abschreckendes Beispiel. Auch in Italien ist offen, wie mit dem No zum Referendum umgegangen wird. Noch gibt es mehr Fragen als Antworten.

Soweit die Agenda 2017. Jede einzelne dieser Herausforderungen hat das Zeug, die Euroskeptiker zu beflügeln und die Sorgen um den Zustand des Kontinents zu schüren. Eine Rückabwicklung der Währungsunion, ein Zerfall der Einheit in ihre Einzelteile würde mit erheblichen Eruptionen und massiven Folgen für den Wohlstand der Europäer einhergehen. Erhöhte Wachsamkeit bleibt daher angebracht.

Umstellungsbedarf bei Investoren

Denn wann und wie die politischen Ereignisse an den Märkten gehandelt werden, ist alles andere als klar. Das Jahr 2016 hat Investoren in dieser Hinsicht überraschende Lehren erteilt. Erstens: Bringe Wahlumfragen derzeit nicht allzu viel Vertrauen entgegen. Und zweitens: Der Markt reagiert, wie eingangs erwähnt, mitunter kontraintuitiv, ja paradox. Chancen und Risiken durch politische Events lassen sich noch schwerer antizipieren als früher, denn es reicht nicht mehr, korrekt vorherzusagen, wie eine Abstimmung oder eine Parlamentswahl ausgeht. Selbst bei korrekter Prognose ist unklar, was die Märkte daraus machen. Die Gegenüberstellung von Chance und Risiko wird dementsprechend deutlich komplexer, als aus der Vergangenheit bekannt.

Eine aussichtslose Situation? Nein, sondern eine herausfordernde. Investoren, die sich nun in Demut hinter ihrer vermeintlichen Unwissenheit verstecken, drohen in den nächsten Jahren zahlreiche Chancen zu verpassen. Die Lösung kann nur eine andere sein: Den Blick weiten und ausgetretene Pfade verlassen. Zwar werden wir auch künftig nicht ex ante wissen, welche Indikatoren uns die besten Hinweise über die bevorstehende Entwicklung liefern. Aber die Verbreiterung der Researchbasis bietet die Chance, der gewachsenen Komplexität durch eine höhere Prognosegüte wirkungsvoll zu begegnen. Künftig wird man daher verstärkt auch auf Dinge achten wie Google-Suchanfragen, Facebook-Likes, Mikrotargeting und neue Formen des Wahlkampfs.

Und wenn sich die Marktreaktionen nicht adäquat antizipieren lassen, dann sollte man vorausschauend und mit Augenmaß in politische Events hineingehen. Denn wenn sich die Wogen glätten und die Sicht sich aufhellt, muss es mitunter sehr schnell gehen. Wenn 2016 für Investoren eine Lehre bereithielt, dann die: Timing ist essenziell, man muss den Zeitpunkt genau abpassen, wann man ins Risiko gehen will. Im Anschluss an die Trump-Wahl deutete sich binnen weniger Stunden eine Trendwende (manche sprechen sogar von einem Regimewechsel) an den Kapitalmärkten an. Die große Rotation setzte kaum 24 Stunden nach der Wahl ein, zyklische Werte schossen durch die Decke, aber auch Öltitel und all die Unternehmen, die von erhöhten Staatsausgaben profitieren können.

Defensive Unternehmen wie etwa Versorger blieben dahinter deutlich zurück. Allerdings fällt dieser Befund vor allem ex post so eindeutig aus. Ex ante hätte - auch angesichts der Sprunghaftigkeit des neuen Präsidenten - zu jeder Zeit der heute scheinbar so klare Trend stoppen oder sich sogar in sein Gegenteil verkehren können. Das fortlaufende Hinterfragen der eigenen Position ist angesichts der gestiegenen Fragilität an den Märkten also wichtiger denn je. Die Chancen lagen also bei denjenigen Investoren, die über eine feste Meinung, klare analytische Fähigkeiten, das passende Timing und die richtige Mischung aus Durchhaltevermögen und Flexibilität verfügen - das wiederum zeichnet erfolgreiche Anleger nicht nur im Jahr 2016 aus.

Den nächsten Zug vorausahnen

Überdies wird es wichtig sein, die Märkte noch genauer zu betrachten als in der Vergangenheit - auch und gerade im Umfeld von Wahlen, wenn abwechselnd verschiedene Einflussfaktoren wie Fundamentaldaten oder Flows die Kurse bewegen. Wer diese Bewegungen richtig einschätzen kann, dem wird es 2017 leichter fallen, gute Ergebnisse zu erzielen. Und schließlich werden neue Informationsquellen gefragt sein. Dabei geht es nicht nur um die Analyse von Social-Media-Gewohnheiten, um herauszufinden, wie die Menschen denken. Es geht auch darum, sich für das Big-Data-Zeitalter zu rüsten. Welche Analyseraster legt man auf die Unmengen von Informationen, wie kann man mit Flow- und Positionierungsdaten der Marktteilnehmer nicht nur den Status quo besser verstehen, sondern auch den nächsten Zug vorausahnen.

Wer weiß, wie die Stimmung der Marktteilnehmer ist und wo in den vergangenen Monaten das meiste Geld hingeflossen ist, der kann sich einen Vorteil erarbeiten. Wer hingegen aus Scheu vor der komplexen Prognosesituation den Kopf in den Sand steckt und erst wieder herauszieht, wenn der Markt gelaufen ist, der wird das Nachsehen haben. Denn: In der Expost-Analyse gibt es für jede große Marktbewegung des vergangenen Jahres auch eine schlüssige Erklärung. Das Ziel muss es sein, dass die Auswertung zeitlich so nah wie möglich an das auslösende Event heranrückt. Dann gibt es auch 2017 die Chance auf gute Renditen.

Quo vadis?

Politisch wie wirtschaftlich betrachtet stellt sich in einem so wichtigen Jahr natürlich die Frage: Werden hier die Weichen für eine Zukunft jenseits einzelner Legislaturperioden gestellt? Denn Europa, so hört man es vielfach, steht am Scheideweg. 2017 könnte in die Annalen eingehen als das Jahr, in dem sich die Bürger des Kontinents zusammenrauften und sich auf die Vorteile der europäischen Integration besannen - oder aber als das Jahr, in dem das Jahrhundertprojekt der europäischen Einigung auch im Kern zu erodieren begann.

Das Wort haben die Bürger in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland, und es ist alles andere als sicher, dass sie eine so klare Sprache sprechen, wie viele Investoren es gerne hätten. Denn neben dem Schicksalsjahr 2017 könnte es durchaus auch ein zweites Szenario geben: Vielleicht, wahrscheinlich sogar, wird 2017 gar nicht so spektakulär. Es fehlt ein zentraler Anlass, der die Stimmung kippen kann. Stattdessen plätschern die Events vor sich hin, nach dem Startschuss in den Niederlanden geht es dann zur Frankreich-Wahl über, im Herbst steht die Bundestagswahl an und dann ist das Jahr schon fast vorüber, ohne dass am Ende mehr Klarheit herrscht als heute. Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders. Spannend wird es allerdings auf jeden Fall.

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