Redaktionsgespräch mit Theo Waigel

"Investitionen in den Frieden und in eine dauerhafte Zukunft sind nicht zu teuer"

Dr. Theo Waigel, GSK STOCKMANN + KOLLEGEN Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB, München, Bundesfinanzminister a. D.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Start der deutsch-deutschen Währungsunion hält Theo Waigel die seinerzeit getroffene Entscheidung für richtig und würde sich in der Rückschau wieder genauso entscheiden. Aber auch der EU und der europäischen Währungsunion bescheinigt der frühere Bundesfinanzminister im Redaktionsgespräch trotz aller aktuellen Turbulenzen rund um Griechenland eine stabilisierende Rolle in Europa und der Welt. Als elementaren Unterschied zwischen beiden Projekten verweist er gleichwohl auf das unvergleichlich engere Zeitfenster für die Wiedervereinigung und die Währungsunion. Als bemerkenswert stellt er die im allgemeinen doch große Verlässlichkeit aller Beteiligten im Umsetzungsprozess heraus. (Red.)

Herr Waigel, mit Ihnen kann man viel Historisches verbinden: Fast 3500 Tage Finanzminister - mehr als jeder andere - die Wiedervereinigung und die deutsch-deutsche Währungsunion, die Einführung des Euro ... Wie zufrieden, wie stolz macht Sie das heute noch?

Stolz ist nicht das richtige Wort. Zufrieden und dankbar bin ich dafür, in diesem für Deutschland so wichtigen Jahrzehnt gehandelt und Entscheidungen für die Zukunft getroffen zu haben, die für unsere Kinder und Enkel und für nachfolgende Generationen von Bedeutung sind.

Was war das schwierigere Projekt: Die deutsch-deutsche oder die europäische Währungsunion, gibt es Parallelen?

Die deutsch-deutsche Währungsunion und die europäische Währungsunion sind nicht miteinander zu vergleichen, obwohl sie in die gleiche Zeit fallen. Für die deutsche Währungsunion und die Vorstufe zur Wiedervereinigung hatten wir nur wenige Wochen Zeit. Die europäische Währungsunion hatte eine Vorbereitungszeit von Jahren. 1979 wurde das europäische Währungssystem etabliert. Zum 1. Januar 1999 trat die europäische Währungsunion in Kraft. Es waren also 20 Jahre der Vorbereitung und Evaluierung.

Und was war das wichtigere Ereignis für Deutschland - kann man das sagen?

Für Deutschland war natürlich die deutsche Wirtschafts- und Währungsunion von zentraler nationaler Bedeutung. Damit fand der unselige Zweite Weltkrieg endlich sein Ende und wir konnten beginnen, unser gemeinsames Vaterland zusammenzuführen und in ein friedliches Europa einzubetten.

Sind beide Ereignisse eigentlich überhaupt getrennt voneinander bewertbar? Der Entschluss für den Euro fiel aber fast zeitgleich mit dem Mauerfall. War das wirklich Zufall?

Die Entscheidung für eine gemeinsame europäische Währung war nicht der Preis für die Deutsche Einheit. Schon 1988 hatte ein europäischer Gipfel in Hannover beschlossen, die Vorarbeiten für eine gemeinsame Währung zu beginnen. Der entsprechende Delors-Bericht lag im März 1989 auf dem Tisch. Zu dem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass die Wiedervereinigung in eineinhalb Jahren vollendet sein könnte. Richtig ist, dass der Prozess der europäischen Einigung während der Chance der Wiedervereinigung nicht unterbrochen wurde. Das war ganz wichtig für unsere Nachbarn, um Besorgnisse, Ängste und Befürchtungen abzubauen. Jeder konnte sich darauf verlassen, Deutschland bleibt in Europa und arbeitet mit seinen europäischen Partnern eng zusammen, wir sind und bleiben berechenbar.

25 Jahre deutsch-deutsche Währungsunion am 1. Juli: Ein historischer Tag, auch wenn durch den Euro kaum mehr jemand daran denkt? Sie sprechen immer von einer Erfolgsgeschichte. Würden Sie es heute noch einmal genauso machen?

Die Entscheidung für die deutsche Währungsunion, die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 18. Mai und der Beginn der Einführung der DM in der DDR am 1. Juli waren richtig und ich würde mich genauso wieder entscheiden. Wir haben uns die Probleme gut überlegt und haben schnell und rasch gehandelt. Wir wussten nicht, wie lang das Zeitfenster offen sein würde, um die Zustimmung der Sowjetunion zu erlangen.

Die Zeitfenster für die Wiedervereinigung und für die Währungsunion waren ausgesprochen eng: Was waren die größten Herausforderungen bei der Wiedervereinigung und bei der Währungsumstellung?

Das größte Problem bestand im Mangel an verlässlichen Daten im Wirtschafts- und Finanzbereich. Die Produktivität in der DDR war wesentlich niedriger als zuvor Fachleute festgestellt hatten. Es fehlten Bilanzen und verlässliche Berechnungen. Die Höhe des Volksvermögens wurde von Modrow mit über 1 000 Milliarden DM angesetzt. Wenige Monate später musste der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Rohwedder, erkennen, dass wohl ein Defizit von zirka 300 Milliarden DM entstehen würde. Die Deutsche Bundesbank hat die Logistik für die Umstellung und für die Einführung der DM in Ostberlin glänzend bewältigt. Es gab keine Pannen. Am 1. Juli konnte jeder das ihm zustehende Geld auf einer Bank abheben.

Was waren Wendepunkte, von denen an Sie glaubten, jetzt kann es gelingen?

Der Wendepunkt war die demokratische Wahl in der DDR am 18. März 1990. Ab diesem Zeitpunkt konnten wir mit gewählten demokratischen Politikern sprechen und verhandeln. Alle waren sich über die Notwendigkeiten im Klaren und die Repräsentanten der demokratischen Parteien wollten die Deutsche Einheit. Von Moskau kam kein Veto, weil sich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher intensiv mit Michael Gorbatschow und Eduard Schewardnadse absprachen. Auch unsere europäischen Nachbarn hatten nach teilweise zögerlichem Verhalten begriffen, dass die deutsche Einheit kommen musste und damit auch die Spaltung Europas beendet werden könne.

Es gab kaum oder keine Informationen über den Zustand der DDR-Wirtschaft und der DDR-Betriebe - was haben Sie gemacht, um die Wirkung der Währungsreform einigermaßen verlässlich abschätzen zu können?

Vielleicht gäbe es heute mehr Daten, die zur Verfügung stünden. Andererseits waren wir in der Lage zu handeln, ohne dass große Indiskretionen entstanden. Einmal ist eine Studie des Finanzministeriums, das die künftige Arbeitslosigkeit in der DDR abschätzte, zu einer Boulevardzeitung gelangt. Ansonsten konnte sich jeder auf jeden verlassen.

Welche Rolle spielte die Treuhand für die Währungsunion und die Stabilisierung der DDR-Wirtschaft?

Die Treuhandanstalt wurde schon zu Zeiten von Ministerpräsident Modrow errichtet, später aber auf stärkere Füße gestellt. Detlev Rohwedder, der später ermordet wurde, und Birgit Breuel haben sich große Verdienste in einer ganz schwierigen Zeit und mit ganz schwierigen Aufgaben erworben. Die Treuhand hatte Zehntausende von Privatisierungs- und Sanierungsunternehmen abzuwickeln und mehr als hunderttausend Verträge zu schließen. Sie hat nach vier bis fünf Jahren ihre wesentliche Tätigkeit beendet. Jedes Unternehmen, das ein tragfähiges Konzept erarbeitet hatte, wurde mit entsprechendem Kapital ausgestattet. So hat die Treuhandanstalt auch eine wichtige strukturpolitische Aufgabe in den neuen Bundesländern bewältigt. Ihre Bilanz ist weit positiver als die öffentliche Wahrnehmung, die durch die Presse verzerrt wurde.

Hätte man sich nicht mehr Zeit für die wirtschaftliche Anpassung nehmen sollen? Sie nahmen von einem Stufenplan Abschied und entschieden sich für die sofortige komplette Umstellung der alten DDR-Währung. War das rückblickend betrachtet immer noch richtig?

Wir hatten nicht die Zeit, die wir uns ursprünglich vorgestellt hatten. Ein Stufenplan hätte mindestens drei bis vier Jahre gedauert. In dieser Zeit hätten wir Zuzugsbeschränkungen und Abwehrmaßnahmen gegen DDR-Bürger erlassen müssen, damit es nicht zu einer Massenabwanderung in den Westen gekommen wäre. Wir hätten die Mauer wieder aufbauen müssen, um die Menschen zum Verbleib in der DDR zu zwingen. Das war nach dem 9. November völlig unmöglich, hätte unserem Freiheits- und Demokratieverständnis widersprochen und hätte all unsere programmatischen Aussagen der letzten Jahrzehnte zur Makulatur werden lassen. Schon ein Jahr später hätte Gorbatschow als Verhandlungspartner nicht mehr zur Verfügung gestanden. Jelzin hat zwar alles eingehalten, was Gorbatschow mit uns vereinbart hatte. Doch wenn ein Mann wie Putin an die Macht gekommen wäre, wären die Ereignisse wahrscheinlich anders abgelaufen.

Löhne und Gehälter in der DDR betrugen etwa ein Drittel dessen, was in Westdeutschland in D-Mark bezahlt wurde - zwang das zur Umstellung eins zu eins?

Bei einer Umstellung von eins zu zwei bei den Stromgrößen (Löhne, Gehälter, Renten) wären den Arbeitnehmern im Durchschnitt 625 DM geblieben. Im Westen hätte man für die gleiche Tätigkeit etwa das Dreifache erhalten. Bei den Renten wäre das Missverhältnis noch größer gewesen. Ein anderes Umstellungsverhältnis hätten die Verantwortlichen der DDR nicht akzeptiert. Auch in der Bundesbank gab es Stimmen, die ein Umstellungsverhältnis bei den Stromgrößen von eins zu eins für vertretbar gehalten hatten. Problematisch waren die anschließenden zu starken Lohnerhöhungen, die mit dem Produktivitätsfortschritt nicht in Einklang standen.

Es gab viele Kritiker beispielsweise Widerstand der Bundesbank. Bundesbank-Präsident Pöhl kündigte seinen Rücktritt an, trat ein Jahr später sogar zurück, weil er sich von Ihnen schlecht informiert fühlte? War das alles oder gab es auch inhaltliche Differenzen?

Wir haben mit der Bundesbank, Herrn Bundesbankpräsident Pöhl, Vizepräsident Schlesinger und Herrn Tietmeyer intensiv und gut zusammengearbeitet. Leider konnte ich Präsident Pöhl am 6. Februar 1990, als Helmut Kohl, Graf Lambsdorff und ich uns auf die Ankündigung einer Währungsunion einigten, nicht rechtzeitig verständigen, weil er in Ostberlin weilte. Anschließend hat uns die Bundesbank in diesem nationalen Projekt nachhaltig unterstützt. Als ein Jahr später Bundesbankpräsident Pöhl von seinem Amt zurücktrat, wurde er in der Frankfurter Paulskirche von Bundeskanzler Helmut Kohl eingehend gewürdigt.

Welche Rolle spielte die Bundesbank am Ende für den Erfolg der deutsch-deutschen Währungsunion?

Die Bundesbank hat die volle Aufsicht über die Währung ganz Deutschlands übernommen. Das war ein entscheidender Souveränitätsverzicht der DDR und die Deutsche Bundesbank hat das glänzend gemanagt. Es gab keinen Inflationsschub und auch der Anstieg der Geldmenge war beherrschbar.

Was hat die Einheit insgesamt gekostet?

Die Kosten der deutschen Einheit werden von Sachverständigen zwischenzeitlich auf 1 500 bis 2 100 Milliarden Euro geschätzt. Zeitweilig waren das vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes Deutschlands.

Das ist viel mehr als damals geschätzt: Haben Sie für die Menschen heute eine Erklärung, warum die Wiedervereinigung und die Währungsunion am Ende teurer gekommen sind, als erwartet. Wurde dem Osten zu viel versprochen?

Das ist mehr, als wir uns ursprünglich vorgestellt haben und es hat länger gedauert, als wir uns das dachten. Doch es waren Investitionen in die Freiheit, in die Demokratie und die Sicherheit Deutschlands in Europa. Ganz Deutschland war wiedervereinigt, ganz Deutschland war Mitglied der Nato und die Deutsche Einheit war mit eine Vorstufe zur Wiedervereinigung Europas. Investitionen in den Frieden und in eine dauerhafte Zukunft sind nicht zu teuer.

Wenn man in unserer heutigen Zeit des Beginns des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal gedenkt und des Beginns des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal, dann dürfte es nicht schwerfallen, diese Investition als notwendig und gerechtfertigt zu empfinden. Heute steht Deutschland trotz dieser Belastung in Europa glänzend dar. Deutschland hat eine Führungs- und Verantwortungsrolle in Europa und ist sich dieser Aufgabe auch voll bewusst.

Dem Osten wurde nicht zu viel versprochen, wenn man bedenkt, dass die Produktivität und auch das Einkommen der Bevölkerung sich auf etwa 80 Prozent des westdeutschen Niveaus angehoben haben. Auf der anderen Seite muss man in diese Bilanz mit einbeziehen, was drei bis vier Millionen Ostdeutsche in Westdeutschland geleistet und zur Erarbeitung des Sozialprodukts beigetragen haben, die von 1949 bis 1990 von Ost nach West gegangen waren.

Noch einmal zum Euro: "Wir bringen die D-Mark nach Europa", sagten Sie nach Abschluss der Wirtschafts- und Währungsunion 1991. Und meinten damit die deutsche Stabilitätskultur. Das wurde nicht überall gerne gehört, es gab heftige Querelen mit Frankreich, Großbritannien, Italien, die Probleme mit der harten deutschen Währungspolitik hatten. Ist der Euro heute hart?

Die deutsche Stabilitätskultur war nicht auf Deutschland beschränkt. Ein ähnliches Stabilitätsempfinden hatten unsere Nachbarn die Niederlande, Belgien und Luxemburg, Österreich, Dänemark, Finnland und auch Großbritannien. Ein Abgehen von dieser Stabilitätspolitik, die sich von 1948 bis zur Einführung des Euro am 1. Januar 1999 bewährt hatte, kam für uns nicht in Betracht. Das wussten unsere Partner und haben dies auch respektiert. Frankreich und Italien haben in den neunziger Jahren harte Anstrengungen unternommen, um 1997 und 1998 die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrags und des Stabilitätspaktes zu erfüllen.

Viele Deutsche haben immer noch Sorge wegen des Euro und wünschen sich die D-Mark zurück. Was übersehen diese Menschen?

Die meisten Deutschen akzeptieren heute den Euro und sind sich dessen bewusst, wie wichtig eine gemeinsame europäische Währung für uns ist. In den gegenwärtigen finanzpolitisch turbulenten Zeiten hätten wir ansonsten in Deutschland eine Aufwertung einer nationalen deutschen Währung ähnlich wie in der Schweiz. Das wäre für unsere Wirtschaft und für unsere Arbeitsplätze und für unsere Finanzpolitik verheerend. Wir haben das 1995 negativ erfahren.

Fürchten Sie ein Stück weit um Ihr Lebenswerk, den Euro? Welche Zukunft hat der Euro beziehungsweise wie bewerten Sie die aktuellen Vorkommnisse rund um Griechenland?

Ich fürchte nicht um den Euro. Er ist nicht nur mein Lebenswerk, sondern das Werk vieler Menschen, die sich über Jahrzehnte für Europa eingesetzt haben. Das begann 1945 und 1946 mit der Rede von Winston Churchill in Zürich und dem Engagement von Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer. Das wird sich fortsetzen, weil Europa noch längst nicht vollendet ist. Der australische Historiker Christopher Clark, der das interessanteste Buch über den Beginn des Ersten Weltkriegs geschrieben hat, hat auf die Frage "Was unterscheidet das Jahr 1914 von dem Jahr 2014?" geantwortet: "Die Existenz der Europäischen Union als einer friedensstiftenden Institution". Daran ändern auch die Turbulenzen um Griechenland nichts. Die Europäische Union und die Währungsunion werden auch in Zukunft eine stabilisierende Rolle in Europa und in der Welt spielen.

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