Gedämpfte Feierlaune in Europa

Dr. Berthold Morschhäuser

"Die europäische Einigung hat (...) Gemeinsamkeit gestiftet und Gegensätze überwunden." ...

"Dass heute Europas unnatürliche Teilung endgültig überwunden ist, verdanken wir der Freiheitsliebe der Menschen in Mittel- und Osteuropa." ... "Die Europäische Union gründet sich auf Gleichberechtigung und solidarisches Miteinander. So ermöglichen wir einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedstaaten." ... "Die offenen Grenzen und die lebendige Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Regionen bereichern uns. Viele Ziele können wir nicht einzeln, sondern nur gemeinsam erreichen." ... "Wir werden den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam bekämpfen. Die Freiheits- und Bürgerrechte werden wir dabei auch im Kampf gegen ihre Gegner verteidigen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen nie wieder eine Chance haben." ... "Die Europäische Union lebt auch in Zukunft von ihrer Offenheit und dem Willen ihrer Mitglieder, zugleich gemeinsam die innere Entwicklung der Europäischen Union zu festigen."

All diese schönen Sätze sind aus der sogenannten Berliner Erklärung zitiert, die vor zehn Jahren als eine Art Erneuerung des Glaubensbekenntnisses zu Europa von 27 europäischen Staats- und Regierungschefs zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge im Berliner Zeughaus unterzeichnet wurde. Die seinerzeit im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft formulierte Absichtserklärung war als Orientierungshilfe für die europäische Bevölkerung gedacht. Die Werte, Aufgaben und die Struktur des europäischen Staatenverbundes, die fünfzig Jahre zuvor von der Sechsergemeinschaft der Benelux-Staaten, Frankreich, Italien und Deutschland zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Europäischen Atomgemeinschaft festgeschrieben worden waren, sollten als Basis für die politische Agenda der Folgejahre in Erinnerung gerufen werden. Heute, also nicht einmal ganze zehn Jahre später, klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Selbst die vier Grundprinzipien der Römischen Verträge, freier Personenverkehr, freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr, sind ganz offensichtlich nicht tief genug in den Gesellschaften der Nationalstaaten verankert, um das Projekt Europa unumstößlich zusammenzuhalten. In Großbritannien hat sich die Bevölkerung im vergangenen Jahr in einer freien Abstimmung für einen Austritt aus der Europäischen Union entschieden.

Für den Rest Europas und die verantwortlichen Politiker war das überraschende Brexit-Votum freilich nur der bisherige Gipfel der Europamüdigkeit. Schon in den Jahren zuvor war immer deutlicher geworden, dass die europäische Idee, mit der die heute 50- bis 70-Jährigen wie selbstverständlich aufgewachsen sind, nicht mehr so gut trägt. Die über ein halbes Jahrhundert feststellbare enorme Anziehungskraft der Europäischen Union für die Länder der Iberischen Halbinsel, für Großbritannien, für die Mittelmeeranrainer sowie für die Staaten aus Nord-, Mittel- und Osteuropa ist verblasst und auch in den Gründungsländern gibt es massive Identifikationsprobleme. Ursache dieser merklich gedämpften Euphorie war die Finanz-, Euro- und Staatenkrise, die seit fast zehn Jahren eine wirkliche Belastungsprobe darstellt. Erst die immer wieder neue Zuspitzung der Lage auf verschiedensten Feldern - besonders im Zuge der Banken- und Staatenrettung - förderte zutage, wie schwierig es ist, die festgeschriebenen Werte einer Staatengemeinschaft mit der immer noch vergleichsweise freien Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik unabhängiger Nationalstaaten in Einklang zu bringen und dabei in einem demokratischen Prozess souveräner Länder eindeutig Kurs auf ein vereinigtes Europa zu halten.

Vor allem die diversen Rettungsschirme zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit gefährdeter Mitgliedsstaaten wie Griechenland, Irland und Portugal bescherten den nationalen Haushalten dieser Staaten massive Sparauflagen mit festen Maßnahmenkatalogen, die mit den Geldgebern, also den anderen europäischen Staaten und dem IWF, ausgehandelt werden mussten. Die überaus zähen Verhandlungsrunden in Brüssel und anderswo wirkten sich in den Geber- wie in den Empfängerländern enorm auf das politische Klima aus und bescherten der Tendenz nach Parteien am rechten und linken Rand Auftrieb. Die Regierungsbildung nach Neuwahlen führte in einigen Staaten wie Ungarn und Polen zu einem eher europakritischen Kurs. Verstärkt wurde ein zunehmend beobachtbarer Rückzug in die Nationalstaatlichkeit durch die Wanderungsbewegungen vieler Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten beziehungsweise die generellen Auswirkungen der Globalisierung. Auch in Deutschland muss sich die Regierungskoalition der berechtigten Frage stellen, ob die Energiewende wie auch die Flüchtlingspolitik der Jahre 2015 und Anfang 2016 unter dem Blickwinkel Europa nicht besser hätte koordiniert werden müssen. Denn auch in einer Gemeinschaft souveräner Staaten können politische Entscheidungen mit einer solchen Tragweite nicht ohne Nebenwirkungen auf die Partnerländer bleiben.

Ganz besonders deutlich werden die unterschiedlichen Wirkungen einheitlicher Bedingungen und Maßnahmen auf den voll auf die EU oder deren Institutionen übertragenen Feldern – der Handelspolitik, der Finanzmarktregulierung und der Geldpolitik. An dieser Stelle gibt es je nach Blickwinkel die Gefahr, durch einheitliche Maßnahmen für alle Länder der EU oder auch der Währungsunion gewachsene Wirtschaftsstrukturen zu gefährden. Umgekehrt kann man das aus der europäischen Perspektive freilich auch als Chance betrachten, durch kluge Harmonisierung die Rolle Europas im globalen Wettbewerb ganz im Geiste der Römischen Verträge zu stärken beziehungsweise zukunftsfähig zu machen.

In diesem Sinne ist es aller Ehren wert, wenn EU- Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jetzt einen konstruktiven Diskussionsprozess zur Zukunft Europas anstößt. In seinem am 1. März dieses Jahres erschienenen Weißbuch lädt er demütig dazu ein, bis Ende dieses Jahres fünf Szenarien (siehe Übersicht) breit und offen in allen EU-Staaten zu diskutieren. Im Europäischen Rat soll dann mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2019 über das weitere Vorgehen entschieden werden. In seiner Analyse weist Juncker zu Recht auf die lange Friedensperiode hin, die der europäische Integrationsprozess nun schon mehr als zwei Generationen beschert hat. Er ruft zu Recht den sinkenden Anteil Europas an der Weltbevölkerung (von 25 Prozent im Jahre 1900 auf voraussichtlich 4 Prozent im Jahre 2060) sowie am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (von 26 Prozent im Jahre 2004 auf 22 Prozent im Jahre 2015) ins Bewusstsein, und zwar bei einer demografischen Entwicklung, die zugleich hohe Belastungen für die Wohlfahrtssysteme erwarten lässt. Vor dem Hintergrund von Bedrohungen durch Krieg, Terrorismus, Cyberangriffen und Armutsflucht in vielen Teilen der Welt wirft er zu Recht die Frage auf, wie die künftigen Haushaltsetats in Europa für Verteidigung und für Entwicklungshilfe ausgestattet und wie sie gestaltet werden sollten. Mit Blick auf die innere Verfassung der europäischen Staaten spricht er unaufdringlich die hohe öffentliche und private Verschuldung an und fragt mit Blick auf die besonders hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Ländern, ob sich eine solidarische Ländergemeinschaft damit abfinden sollte, dass Teile der jüngeren Generation die Befürchtung haben müssen, schlechtere wirtschaftliche Verhältnisse zu erleben als ihre Eltern. Er macht aber zugleich Hoffnung dank guter Bildungssysteme sowie einer hohen Kompetenz und Leistungsfähigkeit auf den Gebieten Umwelt, Energie und Klima.

Für welches Lösungsszenario Jean-Claude Juncker plädiert, will er in einer Grundsatzrede Mitte September offenlegen. Bis dahin haben die 27 Regierungschefs vor und nach den anstehenden 60-Jahre-Feierlichkeiten der Römischen Verträge und mit fünf flankierenden Diskussionspapieren der EU-Kommission zur sozialen Dimension Europas, zur Globalisierung als Chance, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur Zukunft der europäischen Verteidigung und zur Zukunft der EU-Finanzen Zeit für ihre Meinungsbildung. Im jetzigen frühen Diskussionsstadium ist es klug, die vielen kleinen und mittleren EU-Länder offensiv in die Debatte einzubeziehen. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der drei weiteren großen Staaten Frankreich, Italien und Spanien haben gleichwohl schon Anfang März eine gewisse Sympathie für das Modell der zwei Geschwindigkeiten erkennen lassen. Dieser pragmatische Weg könnte in der Tat für größeren sozialen Frieden sorgen und damit die nationalen Entscheidungsprozesse in einigen Fällen erleichtern, weicht aber bei der konkreten Arbeit das Level-Playing-Field im Inneren der Staatengemeinschaft auf und leistet möglicherweise einer Zweiklassengesellschaft der Mitgliedsstaaten Vorschub. Eine Betrachtung der Gesamtwirkungen und ein ständiges Ringen um viele komplizierte Einzelentscheidungen wird damit zur Daueraufgabe. Übrigens: Das ist ein Procedere, das die beiden Verbünde der deutschen Kreditwirtschaft nur zu gut kennen.

Für die Idealisten bedeutet ein Weg der zwei Geschwindigkeiten zudem den Abschied oder zumindest die Verschiebung des Traums von einem schon bald vereinten Europa. Die EU als Gemeinschaft souveräner Staaten mit einer Währungsunion und vielen Freiheiten in der Gestaltung der nationalen Politik bleibt ein Experiment, das auf ganz lange Sicht vielleicht in einen europäischen Staat münden, aber auch recht schnell scheitern kann. Noch ist die Umsetzung der Idee weiterer Mühen wert.

Dr. Berthold Morschhäuser , ehem. Chefredakteur , Fritz Knapp Verlag

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