Die neuen alten Prioritäten der Geldpolitik

Zins und Inflation Quelle: EZB

Die Geldpolitik steht vor einer Zäsur. Acht Jahre lang waren die Zentralbanken so etwas wie die "Master of the Universe". Sie trugen die Hauptlast bei der Überwindung der großen Finanzkrise. Sie halfen, die Rezession zu überwinden. Sie stabilisierten das Finanzsystem. Die Europäische Zentralbank rettete den Euro. Die ursprüngliche Aufgabe der Zentralbanken, die Inflation zu bekämpfen, trat dabei in den Hintergrund. Sie erschien angesichts der großen Aufgabe, das System zu retten, und der geringen Preissteigerung an den Märkten auch nicht so dringlich.

Die Zentralbanken entwickelten in dieser Zeit ein Selbstbewusstsein, wie es bei ihnen zuvor nicht bekannt war. Symptomatisch ist der unvergessliche Satz des EZB-Präsidenten Mario Draghi im Sommer 2012: "... the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough." Das strotzte nur so vor Überzeugungskraft. Es hat damals die Welt verändert. Draghi ist damit in die Geschichte eingegangen.

Was immer man aus heutiger Sicht darüber denken mag: Es ist unbestreitbar, dass die Zentralbanken in diesen Jahren Außerordentliches geleistet haben. Ohne ihr beherztes Zugreifen stünde das Finanzsystem heute nicht so da. Ohne die EZB und ihre damaligen Aktionen gäbe es den Euro vielleicht nicht mehr. Vielleicht wäre die Welt auch in eine sich selbst beschleunigende Deflation gerutscht, wie in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Wir sollten froh sein, dass die Welt so mutige und handlungsbereite Zentralbanker hatte - auch wenn sie bei ihren Maßnahmen ihr Mandat manchmal sehr großzügig ausgelegt haben.

Jetzt aber ist diese Zeit vorbei. Das Finanzsystem ist zwar immer noch nicht so stabil und widerstandsfähig wie es sein sollte. Das Wachstum bleibt hinter den Erwartungen zurück. Trotzdem müssen sich die Zentralbanken nun wieder ihrem traditionellen Auftrag, der Bekämpfung von Preissteigerungen und der Sicherung des Geldwerts, zuwenden. Zu groß sind die Ungleichgewichte geworden, die sich im monetären Bereich aufgebaut haben. Die Zentralbankgeldmenge ist weit stärker gestiegen als das nominale Sozialprodukt. Da droht nach allen Regeln der Ökonomie Inflation, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern ganz gehörig.

Erste Indizien dazu sind erkennbar. Die Verbraucherpreise sind zuletzt zwar noch um 0,1 Prozent gesunken. Wenn man sich die dahinterliegenden Faktoren anschaut, dann kann man jedoch nicht so entspannt sein. Die ausgewiesene negative Inflationsrate beruht derzeit allein auf den gesunkenen Energiepreisen. Hier aber deutet sich schon seit einigen Monaten ein Umschwung an. Wenn der Ölpreis auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben sollte, dann wird - allein aus statistischen Gründen - die Inflation in einem Jahr um 0,8 Prozent höher sein. Wenn die Ölpreise weiter steigen sollten, was nicht unwahrscheinlich ist, dann wird der Inflationsdruck von dieser Seite noch größer.

Hinzu kommt, dass es auch an anderen Stellen Preisdruck gibt. Die Löhne steigen in Deutschland in diesem Jahr um 2 bis 3 Prozent. Das ist weit mehr als die Zunahme der Produktivität (0,5 Prozent). In Südeuropa ist der Lohndruck noch nicht so hoch. Aber allein die deutschen Löhne wirken sich natürlich auf die Euro-Inflation aus. Schließlich ist zu bedenken, dass die Konjunktur ordentlich läuft. Im Euroraum ergab sich im ersten Quartal eine auf das Jahr hochgerechnete Wachstumsrate von über 2 Prozent. Das ist mehr als die Potenzialrate. Die Kapazitätsauslastung nimmt daher zu. Damit erhöht sich auch der Spielraum der Unternehmen, ihre Preise auf den Märkten zu erhöhen. Man muss also davon ausgehen, dass die Geldentwertung zunimmt und sich im Laufe des kommenden Jahres der Zielmarke von "nahe, aber unter 2 Prozent" nähert. Die Zentralbank muss aufpassen, dass sie angesichts dieser Sachlage nicht "hinter die Kurve" zurückfällt.

Ein solcher Paradigmenwechsel der Geldpolitik von der "Rettung des Systems" hin zum "Brotund-Butter-Geschäft" der Inflationsbekämpfung ist schwer. Einmal weil das neue "Geschäft" nicht mit so großen Meriten verbunden sein wird. Die Zentralbanken müssen bescheidener werden. Sie müssen, um es militärisch auszudrücken, "zurück ins Glied treten". Zum anderen, weil die Finanzkrise noch nicht vollkommen überwunden ist. Die Geldpolitik muss aufpassen, dass sie nicht alte Wunden aufreißt, wenn sie sich wieder mehr um den Geldwert kümmert.

Wir sehen in den USA, mit wie viel Schwierigkeiten die Umstellung verbunden ist. Die amerikanische Zentralbank brauchte drei Jahre, um den Kurswechsel zu vollziehen. 2013 verkündigte sie ihn. Das führte damals zu dem berühmten "Taper Tantrum", das die Welt erschütterte. Dann vergingen fast eineinhalb Jahre, nur um das "Quantitative Easing", also die Wertpapierkäufe, auslaufen zu lassen. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis sie die Zinsen zum ersten Mal um gerade einmal einen Viertelprozentpunkt erhöhte. Jetzt steht ein zweiter solcher Minischritt bevor.

In Europa wird das nicht viel anders sein. Der Kontinent hinkt im Zyklus weit hinter den USA her. Die EZB hatte daher noch keinen Anlass, über eine Kehrtwende nachzudenken. An den Märkten wird jetzt aber zunehmend die Frage diskutiert, was passiert, wenn das Wertpapierankaufsprogramm im kommenden März ausläuft. Die Zentralbank muss nun nicht in hektische Betriebsamkeit verfallen. Die Preise reagieren heute nicht mehr so schnell auf Geldmengensteigerungen, wie das früher der Fall war. Aber früher oder später kommt sie nicht darum herum, Antworten auf diese Fragen zu geben.

Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wäre ein Kurswechsel der EZB und eine Hinwendung zur Inflationsbekämpfung sehr zu begrüßen. Sie würde die Märkte wieder normalisieren. Anleger bekämen einen - wenn auch zu Beginn noch sehr niedrigen - Zins. Die Zentralbank selbst erhielte wieder "Munition" in Form von höheren Zinsen. Das hilft bei künftigen Konstellationen, in denen die Wirtschaft vielleicht wieder stimuliert werden muss. Und schließlich normalisiert sich auch die internationale Situation, wenn die beiden größten Zentralbanken der Welt, die der USA und die Europas, nicht mehr gegeneinander agieren, sondern an der gleichen Seite des Seils ziehen.

Last, but not least: Die Zentralbanken würden zeigen, dass sie sich nicht durch das Scheinwerferlicht der Krisenbekämpfung korrumpieren ließen, sondern ihre Kernaufgabe, die Sicherung des Geldwerts, nach wie vor ernst nehmen.

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