Überlebenschancen in der Region

Dr. Berthold Morschhäuser

Der Zeitpunkt war ohne Frage geschickt gewählt. Pünktlich zum Start der Bilanzsaison 2017 war die Beratungsgesellschaft Oliver Wyman mit einer Studie am Markt, deren plakative Kernbotschaft die deutsche Kreditwirtschaft erschrecken musste. Der Bankenreport 2030 zeichnet für die kommenden zehn bis 15 Jahre Szenarien auf, die die hiesige Bankenstruktur grundlegend verändern würden. Je nach den Auswirkungen des veränderten Kundenverhaltens und dem Antritt neuer Wettbewerber erwarten die Autoren hierzulande nur noch 150 bis 300 Banken mit einem nachhaltigen und damit letztlich wohl auch überlebensfähigen Geschäftsmodell. Mehr noch: In Abwägung der Wahrscheinlichkeiten für das sogenannte Evolutionsmodell und das Disruptionsmodell tendieren sie eher zu Letzterem und siedeln die tatsächliche Zahl der Institute sogar näher bei den 150 als bei 300 an.

In die tagesaktuellen Schlagzeilen der Wirtschafts- und Regionalpresse schafft man es mit solchen Prognosen mühelos. Und auch für die Hochphase der vielen Bilanzpressekonferenzen lieferte eine solche Botschaft so manchen Ansatz für reizvolle Diskussionen. Mit dem Grundtenor der Bilanzberichterstattung 2017 der deutschen Kreditwirtschaft lässt sich diese These allerdings nur schwer in Einklang bringen. Denn den bisherigen Zahlen nach melden viele Institute aus allen Bankengruppen sowie diverse Regionalverbände aus den Verbünden wie schon in den Vorjahren ein merkliches Wachstum der Volumina und vergleichsweise geringe Einbußen in der Ertragsrechnung.

So hat etwa die Commerzbank für ihr Segment Privat- und Unternehmerkunden eine Ertragssteigerung von rund 150 Millionen Euro allein aus den Zuwächsen im Kredit- und Einlagengeschäft errechnet. Die Nationalbank in Essen als weiteres Institut aus dem privaten Bankensektor ist im Kreditgeschäft um 2,5 Prozent gewachsen und konnte bei den Einlagen um 6,2 Prozent zulegen. Im Genossenschaftssektor hat die Wiesbadener Volksbank (Kundeneinlagen plus 7,6 Prozent und Buchkredite plus 7 Prozent) die Rückgänge beim Zinsüberschuss fast vollständig durch Zuwächse im Provisionsgeschäft ausgleichen können und zudem noch Zuführungen zu Pensionsrückstellungen bewältigt. Auf der Ebene der Regionalverbände haben die 402 Institute des größer gewordenen Frankfurter Genossenschaftsverbandes ihr Kreditvolumen um 6,7 Prozent, ihre Einlagen um 4,2 Prozent und ihr ordentliches Betriebsergebnis um 7,6 Prozent gesteigert. Und die 61 Institute des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe melden für ihren Kundenkreditbestand ein Plus von 2,4 Prozent und für den Einlagenbestand plus 2,5 Prozent und haben beim Betriebsergebnis vor Bewertung nur geringe Einbußen um 0,6 Prozent erlitten. Kurzum: Die Bedingungen in einzelnen Häusern und/oder Regionen mögen unterschiedlich sein, und die Reaktionen auf das derzeitige Marktumfeld sind es ganz gewiss. Laut der aktuellen Bilanz- und Ertragsrechnung der hiesigen Institute zeichnen sich für das kommende Jahrzehnt aber keineswegs massenhaft Schließungen von Instituten und/oder Fusionen ab. Das gilt auch über die exemplarisch genannten Institute hinaus.

Die in der Branchenstudie betonten Herausforderungen wie etwa die im internationalen Vergleich recht geringe Profitabilität, die vielerorts noch unzureichende Positionierung für digitale Anwendungen und die Angriffsflächen für globale Technologiekonzerne sowie möglicherweise auch ausländischen Banken sind gleichwohl nicht als banal abzutun. Aber man sollte auch nicht davon ausgehen, als wären all diese Dinge den Instituten vor Ort sowie ihren Verbänden nicht bewusst und würden hoffnungslos unterschätzt. In Gegenteil, viele Häuser steuern mit verschiedensten Maßnahmen gegen. Bei der Wiesbadener Volksbank werden die Marktbedingungen genutzt, um das Geschäft mit der gewerblichen Projektfinanzierung zu pflegen. Die Privatbank Warburg ist ebenso wie die Signal-Iduna- Tochter Donner & Reuschel in der Vermögensverwaltung eine Kooperation mit dem Berliner Fintech Elinvar eingegangen. Die Oliver-Wyman-Studie selbst nennt Dutzende von Beispielen für die Zusammenarbeit von Instituten aus allen Bankengruppen mit Fintechs wie Gini, Figo, Wikifolio, Fini und Tradeshift. Schon vor Jahren hat der hessische Sparkassenverband in seinen Instituten vom Einsatz von Zinsswaps berichtet, um sich gegen Zinsänderungsrisiken abzusichern. Ebenso wie Häuser aus anderen Bankengruppen profitieren seine Mitglieder heute von solchen individuellen Maßnahmen.

Nahezu alle hiesigen Häuser arbeiten schließlich an der Ausdünnung ihrer Filialstrukturen. Der Sparkassenverband Westfalen Lippe hat bei seinen Sparkassen zwischen 2010 und 2017 einen Rückgang der Filialen einschließlich der SB-Stellen von 1 472 auf 1 283 registriert, das sind minus 13 Prozent. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Onlinegirokunden von 1,57 auf 2,31 Millionen erhöht, also um rund 47 Prozent. Für das Jahr 2025 wird die Zahl der Kunden mit reiner Nutzung der Filialen auf nur noch 25 Prozent sinken, die rein digitalen Kunden werden auf 15 Prozent veranschlagt: Der große Rest legt Wert auf eine Mischform aus stationärem und digitalem Vertrieb.

Dieser Sicht der Dinge kann sich auch die Commerzbank anschließen. In umfangreichen Feldversuchen hat die Frankfurter Großbank eine besondere Vorliebe ihrer Kunden für die Nutzung von digitalen Angeboten und den stationären Vertrieb festgestellt und hält dem zufolge Letzteren ganz und gar nicht für ein Auslaufmodell. Von den rund 500 000 Netto-Neukunden, die die Bank allein im Berichtsjahr 2017 für sich reklamiert, wurden rund 60 Prozent in der Filialbank gewonnen. Folglich setzt die Bank ausdrücklich auf ein flächendeckendes Filialnetz und forciert den Ausbau der gut 1 000 Filialen, einschließlich ihrer besonderen Ausprägungen aus sogenannten Flagship- und City-Filialen sowie deren Mischformen je nach Marktsituation. Vom Grundsatz untermauert das die Strategie beider Verbünde. Nur kann die Commerzbank ihre Filialen ganz losgelöst vom Regionalprinzip auf Ertrag trimmen.

Ob und inwieweit solche Maßnahmen der Kreditwirtschaft im kommenden Jahrzehnt auf die hiesige Bankenstruktur durchschlagen werden, hängt aber nicht nur von dem Reaktionswillen und den Eingriffsmöglichkeiten der Institute selbst ab, sondern auch maßgeblich von den politischen und den regulatorischen Rahmenbedingungen. Und die sind derzeit allem Eindruck nach ebenfalls nicht darauf ausgelegt, einen abrupten Wandel zu beschleunigen, sondern im Zweifel eher regionalpolitischen Erwägungen Vorrang einzuräumen. Das fängt an bei dem breiten politischen Wohlwollen für eine Proportionalität der Regulierung von Kreditinstituten in Berlin und Brüssel. Es geht weiter über das Bekenntnis des Bundespräsidenten und aller Parteien für den Erhalt des Dreisäulensystems der Kreditwirtschaft. Auch der neue DSGV-Präsident hat bei seinem Amtsantritt und den ersten öffentlichen Reden vor den negativen Auswirkungen einer Abkehr der Sparkassen von einer flächendeckenden Präsenz in ländlichen Räumen gewarnt. Und der Präsident des Frankfurter Genossenschaftsverbandes hat sich zuversichtlich gegeben, über die Belebung der Genossenschaftsidee zur Lösung von dringlichen Problemen bei der ländlichen Infrastrukturausstattung, der sozialen und ärztlichen Betreuung bis hin zu Wohnungsbau- und landwirtschaftlichen Genossenschaften neue Impulse für die Überlebensfähigkeit von genossenschaftlichen Ortsbanken zu geben.

Nicht zuletzt deutet auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD in mehreren Passagen auf die Wiederentdeckung des ländlichen Raums und der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" hin. Auch wenn derzeit noch nicht klar ist, ob er eine praktische Relevanz haben wird, werden regionalpolitische Erwägungen auf der Tagungsordnung bleiben. Angefangen vom Mitteleinsatz zum Ausbau des Breitbandnetzes über die Wohnungsbauförderung bis hin zu Infrastrukturmaßnahmen werden nicht immer Wachstumsaspekte Vorrang haben.

All dies folgt dem Gebot des Artikels 72 des Grundgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet beziehungsweise der Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Und solche gesellschaftspolitischen Strömungen sollte eine Branchenstudie zumindest nicht gänzlich ausblenden, bevor sie sich auf Zahlen festlegt, die unter diesen Aspekten vielleicht doch zu gewagt sind.

Dr. Berthold Morschhäuser , ehem. Chefredakteur , Fritz Knapp Verlag
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