Virtuelle Geldgeschäfte

"Der Trend zur Automatisierung ist nicht mehr aufzuhalten" Interview mit Roland Weber

Roland Weber, Vorsitzender des Vorstands, Deutsche Aktuarvereinigung e.V., Köln Quelle: DAV

Die Digitalisierung ist längst in die Pubertät gekommen, so Roland Weber - auch in der Versicherungswirtschaft. Und das ist gut für die Branche, ist er sich sicher. Denn durch die wachsende Datenflut sind ganz neue Produkte und Tarife möglich geworden, die auch die Abschlusspotenziale und Abschlussbereitschaft steigen lassen. Dabei ist die Akzeptanz von Big Data in der Sachversicherung ungleich höher als in der Personenversicherung. Die gesellschaftliche Diskussion über Big Data, so Weber, steht ohnehin erst ganz am Anfang. Und sie darf keinesfalls nur national geführt werden. Red.

Was bedeutet die Digitalisierung aus Sicht der Versicherungsmathematik: Wird es einfacher oder schwieriger, Tarife zu kalkulieren?

Die Versicherungsmathematik ist sicherlich nur ein kleines Teilchen im großen Puzzle der Digitalisierung, die in den vergangenen 15 Jahren das Geschäftsmodell ganzer Branchen infrage gestellt hat. Die Hersteller von analogen Filmen, der stationäre Einzelhandel oder Zeitungs- und Landkartenverlage haben das schmerzlich zu spüren bekommen. Und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Digitalisierung auch das Versicherungs- und Finanzwesen erreicht. Die ausschließlich online agierenden Banken und Versicherungen waren hierbei nur die Vorboten einer ganz neuen Ära für diesen Wirtschaftszweig und damit auch für die Aktuare.

Um das Zeitalter der digitalen Wirtschaft mitzugestalten, müssen sich die Assekuranzen die Frage stellen: Wie können sie die Bedürfnisse der Kunden nach Schnelligkeit und Innovationsfreude befriedigen? Hierzu bedarf es sicherlich keiner neuen Versicherungsmathematik, sehr wohl aber des konsequenten Anwendens von neuesten mathematischen Verfahren, um die zusätzlichen Datenmengen beherrsch- und nutzbar zu machen.

Und in diesem Zusammenhang wird die Datenaufbereitung noch wichtiger und komplexer als bisher. Aktuell verwenden wir beispielsweise für die Tarifkalkulation Statistiken, bei denen wir bereits im Voraus festgelegt haben, welche Daten wir brauchen und wie diese strukturiert sein müssen. Durch Big Data bekommen wir riesige Mengen unstrukturierter Daten, möglicherweise im Minuten- und Sekundentakt.

Wir wissen anfangs noch nicht, was wir damit machen können. Diese Datenflut ist mit traditionellen Methoden der Datenverarbeitung kaum auszuwerten. Deshalb haben in den Aktuariaten längst neue Methoden der Datenauswertung Einzug gehalten, die unter Begriffen wie Data Analytics, Advanced Analytics, Predictive Modelling oder auch maschinelles Lernen diskutiert werden.

Durch die Digitalisierung sind ja schon ganz neue Versicherungsprodukte auf den Markt gekommen, beispielsweise die situativen Versicherungen, die für bestimmte Situationen oder Zeiträume kurzfristig abgeschlossen werden. Wird sich dieser Trend fortsetzen?

Die Entwicklung der Digitalisierung lässt sich gut mit der Lernkurve eines Kindes vergleichen. Wir beobachten enorme Sprünge, die man zuvor kaum für möglich gehalten hat. Um im Bild zu bleiben: Während die Digitalisierung vor drei oder vier Jahren im Versicherungsbereich gerade begann zu laufen, ist sie inzwischen mitten in der Pubertät. Es wird sich ausprobiert, Grenzen werden ausgetestet, man versucht, sich von den Eltern - in unserem Fall dem klassischen Versicherungsdenken - abzugrenzen, schaut über den eigenen (nationalen) Tellerrand und lernt neue Freunde kennen.

Genauso ist es derzeit auf dem Versicherungsmarkt. Es herrscht eine große Aufbruchstimmung, mit gleichzeitig großer Volatilität. Die heutige Auflistung aller Fin- und Insurtechs wäre nächsten Monat schon wieder veraltet.

Aber diese Dynamik ist gut für das Versicherungswesen und auch für die Aktuare. Denn sie entfacht Handlungsbedarf und fördert verstärkt auch bei den etablierten Häusern das zutage, was originärer Bestandteil der Versicherungs-DNA ist: Innovationskraft. Seit Anbeginn der Versicherungen müssen und wollen sich die Assekuranzen auf verändernde gesellschaftliche, technische oder politische Veränderungen einstellen, um den Versicherungsnehmern gute Produkte zu liefern.

Sicherlich ist das den Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer mit dem nötigen Tempo gelungen. Hier haben uns die Start-ups mit ihren schlanken Strukturen und einer grundlegend anders ausgerichteten Teamarbeit einiges voraus. Dies haben die Unternehmen erkannt und kooperieren vielfach mit den neuen Marktplayern, statt sie als Totengräber zu verteufeln. Vielmehr nehmen sie sich Online-Firmen wie Amazon sogar zum Vorbild, wenn es um ein zeitgemäßes, auf den Kunden ausgerichtetes Denken geht.

Ob dies am Ende aber in einer Zerfaserung auf Micro- und Kurzzeitversicherungsbasis endet, muss schlussendlich der Kunde entscheiden. Technisch und kalkulatorisch ist vieles denkbar. Einen klaren Trend kann ich aber zumindest derzeit noch nicht erkennen.

Mit der Digitalisierung wächst die Datenbasis enorm und das lässt eine immer stärkere Individualisierung der Tarife zu. Wie viel Individualisierung ist darstellbar, wie viel ist wünschenswert, ohne dass der Kollektivgedanke völlig ausgehöhlt wird?

Nehmen Sie die Schaden- und Unfallversicherung: Dank der Digitalisierung können heute mehr Menschen und Gebäude versichert werden als jemals zuvor, ohne dass der Kollektivgedanke aufgegeben werden muss. Denn dank moderner Geoanalyticsmethoden lassen sich Risiken noch genauer bestimmen.

Anfänglich wurden die Big-Data-Verfahren vor allem eingesetzt, um besonders gefährdete Gebiete zu erkennen. Hierbei stand also die Risikotransparenz im Mittelpunkt. In einer zweiten Phase wurde visualisiert, welche Schäden zum Beispiel Sturm- oder Überschwemmungsereignisse verursacht haben, und diese wurden mit den Bestandsdaten abgeglichen. Dadurch haben die Schadenexperten die Möglichkeit, Schadenschwerpunkte, Schadenmuster und Auffälligkeiten im Portfolio zu erkennen. Und inzwischen erlauben globale Datenbestände und daraus abgeleitete Informationen aus der Erdbeobachtung ein tägliches Monitoring von Risiken.

All dies hat dazu geführt, dass Prämien risikoadäquater berechnet werden können, ohne den einzelnen Kunden unverhältnismäßig zu belasten - da über das Gesamtkollektiv und die Zeit ein entsprechender Ausgleich erfolgen kann.

Diese feine und damit bestmögliche, "faire" Zuordnung von erwarteten Schäden in der Zukunft auf die einzelnen Risiken eines Kollektivs hat zwei weitere Vorteile:

- Einerseits wird für das jeweilige eigene Risiko eine hohe Sensitivität geschaffen. Dadurch wird die Schadenvermeidung und -minderung maximal gefördert.

- Andererseits wird die Motivation sich zu versichern, erheblich gesteigert, da (potenzielle) Versicherungsnehmer eine risikogerechte Prämie besser annehmen als ein ungebührlich hohes Mitzahlen für andere über Einheitsprämien.

Inwieweit wird die Tarifkalkulation künftig noch von Menschen übernommen werden? Oder wird die Versicherungsprämie künftig nur noch von Algorithmen berechnet werden, die von IT-Spezialisten ohne Versicherungs-Knowhow programmiert werden? Stichwort hier vielleicht auch Smart Contracts?

Ich bin davon überzeugt, dass auch künftig die menschliche Kreativität und Intelligenz der Ausgangspunkt für die Tarifkalkulation ist, die dann aber zweifellos im zweiten Schritt von Computern übernommen wird. Denn die können viel schneller und fehlerfreier als wir mit den großen Datenmengen umgehen.

Der Mensch ist aber weiterhin notwendig, um den Computern überhaupt erst einmal beizubringen, was sie wie zu rechnen haben. Algorithmen fallen schließlich nicht vom Himmel und die künstliche Intelligenz ist noch nicht so weit entwickelt, dass sie sich diese komplexen Zusammenhänge ganz ohne menschliche Unterstützung beibringen könnte. So legt der Mensch zunächst bei jedem regelbasierten Computersystem die Parameter fest, die analysiert werden. Der Trend zur zunehmenden Automatisierung ist aber ganz klar und nicht aufzuhalten.

Für die Versicherungen und damit auch ganz direkt für die Aktuare hat dies zwei konkrete Auswirkungen.

1. Zum einen bringt die Digitalisierung ganz neue Berufsgruppen hervor und verlangt von den bestehenden Mitarbeitern andere Fähigkeiten. Diese Entwicklung macht selbstverständlich auch nicht vor den Aktuaren halt. Sie werden sich noch mehr als bisher dem IT-Bereich öffnen und weiterbilden müssen. Dadurch wird das Arbeitsfeld aber noch breiter und interessanter werden als es ohnehin schon ist - und es wird mehr Spezialisierungsmöglichkeiten geben.

2. Zum anderen wird es durch Big Data künftig noch engere Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen geben müssen, denn mit den neuen Datenfluten wird ein Bereich überfordert sein.

Um die Aktuare auf diese veränderte Arbeitswirklichkeit vorzubereiten, hat die Deutsche Aktuarvereinigung ihre Ausbildung zum "Aktuar DAV"/"Aktuarin DAV" Anfang 2018 grundlegend überarbeitet und das neue Fach Actuarial Data Science eingeführt. Dieses beschäftigt sich mit Fragestellungen wie Big Data, Machine Learning oder Cognitive Computing. Mit diesem zusätzlichen Ausbildungsstrang reagiert die DAV auf den skizzierten rasant steigenden Bedarf an Mitarbeitern in der Versicherungswirtschaft, die die quantitativen, methodischen Grundlagen der digitalisierten Welt exzellent beherrschen.

Welche neuen Datenquellen können Versicherer heute und künftig zur Kalkulation neuer Tarife nutzen, welche dürfen sie überhaupt nutzen, ohne dass der einzelne Versicherte zu "gläsern" wird?

Hier muss man unterscheiden zwischen lebenslangen Verträgen, wie sie vor allem in der Lebens- und Krankenversicherung vorkommen, und kurzfristigen Verträgen, wie sie in der Sachversicherung üblich sind.

In der Sachversicherung ist die Akzeptanz von "Big Data" ungleich größer als in der Personenversicherung. Smart-Home-Systeme können eine Fülle von Daten über das Wohnumfeld liefern, sodass mögliche Schäden am Haus frühzeitig erkannt oder sogar vermieden werden. Das reduziert die Versicherungsprämie und steigert zugleich die Lebensqualität der Bewohner, da die aufwendige Schadenbehebung weitgehend entfällt.

In der privaten Krankenversicherung gibt es aufgrund ihrer Einbindung in das Sozialsystem enge Vorschriften. Eine verhaltensbasierte Tarifierung ist nicht zulässig. Daten, die mit Wearables ermittelt werden, sagen sowieso nichts darüber aus, wie sich der Gesundheitszustand über Jahrzehnte verändert. Ob ein Mensch krank oder berufsunfähig wird, hängt oft von ganz anderen Faktoren als dem Verhalten oder der sportlichen Betätigung ab. Zudem kann niemand mit Sicherheit sagen, ob die Menschen die Geräte wirklich nutzen oder sie an sportbegeisterte Freunde weitergeben. Für die deutschen Aktuare ist das auf jeden Fall keine Grundlage für eine seriöse, langfristige Kalkulation. Das gilt auch für die Lebensversicherung.

Ist dieses Themenfeld aus Ihrer Sicht schon ausreichend geregelt? Welche Wünsche hätten Sie in dieser Hinsicht an die nationalen und europäischen Regulatoren?

Wir stehen erst ganz am Anfang einer umfassenden gesellschaftlichen und politischen Diskussion zum Umgang mit Big Data - und diese darf auf keinen Fall nur national geführt werden. Denn die großen Player der digitalen Welt denken nicht in den Grenzen von Nationalstaaten.

Zum einen brauchen wir eine Art europaweiten Kodex, der ethische Grenzen festlegt, welche Daten für die Kalkulation von Versicherungstarifen verwendet dürfen. Was darf ein Versicherer über die versicherten Objekte und Menschen wissen - und was nicht? Der Kodex sollte zwischen Verbraucherschützern, Politikern und Versicherern abgestimmt sein. Das wäre sinnvoll, denn die EU-Datenschutzgrundverordnung reicht hier nicht aus.

Und zum anderen müssen wir bereits heute Debatten über den Zeitpunkt in der Zukunft führen, an dem die Maschinen so intelligent geworden sind, dass sie auf Grundlage von selbsterlernten Algorithmen Entscheidungen ohne menschliches Zutun treffen können. Die Aktuare und die DAV als deren Standesorganisation stehen für eine tiefgreifende inhaltliche Auseinandersetzung jederzeit zur Verfügung.

Was erwarten Sie vom Internet der Dinge für die Assekuranz? Die neuen Anwendungsszenarien könnten ja auch ganz neue Sicherheitsrisiken und damit Schadensfälle mit sich bringen?

Das Internet der Dinge wird definitiv auch den Versicherungsbereich weiter verändern. Für uns alle ist es doch zur Selbstverständlichkeit geworden, ständig online zu sein - zu Hause, im Büro oder unterwegs. Dieser Megatrend zum "always on" lässt sich auch an zwei Zahlen ablesen: Während 2010 weltweit gut 300 Millionen Smartphones verkauft wurden, waren es 2016 etwa 1,4 Milliarden. Und jeder EU-Bürger hat heutzutage durchschnittlich knapp 100 Online-Accounts - vom Girokonto über das Treuepunkte-Programm an der Tankstelle bis zum Musik- und Video-Streaming-Dienst. Und die Zahlen werden zweifellos weiter steigen, sodass der Rückversicherer Hannover Re im Jahr 2020 mit weltweit 25 Milliarden verbundenen Geräten im Internet of Things rechnet. Im Jahr 2015 waren es gerade einmal fünf Milliarden.

Mit dieser zunehmenden weltweiten Vernetzung gehen neben vielen Chancen - ich denke hier beispielsweise an Telemedizin oder ganz neue Lernformate - auch viele Gefahren und auch Befürchtungen bei den Bürgern einher. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2017 haben die deutschen Internetnutzer inzwischen mehr Angst vor Datendiebstahl als vor Viren.

Mit Blick auf die Statistik scheint diese Sorge auch nicht unberechtigt. Wahrscheinlich gibt es kaum noch ein Unternehmen, das nicht schon einmal in irgendeiner Form von Hackerangriffen betroffen war. Gut jeder vierte deutsche Mittelständler sagte in einer Forsa-Umfrage sogar, bereits finanzielle oder materielle Schäden durch derartige Attacke erlitten zu haben. Und immer öfter geraten auch Privatpersonen ins Fadenkreuz von Cyberkriminellen. Ein falscher Klick reicht und schon hat man sich den Rechner mit Verschlüsselungs-Software infiziert. Dann stellt sich schnell die Frage: Schutzgeld zahlen oder Daten verlieren?

Wir Aktuare beobachten diese Entwicklungen auch sehr genau und diskutieren in den Unternehmen, wie wir die Kunden gegen derartige Risiken absichern können. Um beim Beispiel der Schäden durch Verschlüsselungssoftware zu bleiben. Das ist für einen Versicherer ein beherrschbares, da noch relativ gut kalkulierbares Risiko. Ganz anders sieht es aus, wenn beispielsweise Social-Media-Profile gehackt werden und dabei ganze Identitäten gestohlen werden.

Die Versicherungen müssen sich fragen, in welcher Form sie den Kunden im Fall eines solchen Reputationsschadens zur Seite stehen können. Reicht es aus, eine Art "digitales Schmerzensgeld" zu zahlen oder sind die Assekuranzen nicht schon beim Thema Prävention gefordert? Durch eine verbesserte Aufklärung konnte in den vergangenen Jahren zum Beispiel die Bereitschaft zum Abschluss einer Elementarversicherung in Hochwassergebieten deutlich erhöht werden.

Im Industriebereich stehen wir vor noch größeren Herausforderungen. Bereits vor Jahren warnte die Pilotenvereinigung Cockpit vor Hackerangriffen auf Flugzeuge. Auch Autos mit ihrer ganzen Elektronik sind ein naheliegendes Ziel für Cyberattacken. Nur bisher kann der Mensch meist noch korrigierend eingreifen, wenn an der Steuerung etwas nicht stimmen sollte. Doch mit den autonom fahrenden Autos wird dieser menschliche Sicherheitspuffer irgendwann abgeschaltet.

Wir sollten keine Angst vor der Zukunft haben, denn Angst lähmt nur. Aber eine reine Glorifizierung der Digitalisierung ist sicherlich genauso verkehrt. Die Aktuare und auch die Versicherungen müssen den Mittelweg zwischen diesen beiden Polen finden, um im Interesse der Kunden gute Produkte zu entwickeln. Hierzu leistet auch die Deutsche Aktuarvereinigung mit ihren Aus- und Weiterbildungsangeboten einen wichtigen Beitrag, um die Aktuare fit für die digitale Zukunft zu machen."

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