Im Bann der Eule

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

Heiter, geistreich, humorvoll, authentisch und zuweilen selbstironisch - Christine Lagarde hat auf ihrer ersten Pressekonferenz als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) eindrucksvoll gezeigt, über welch einnehmende Persönlichkeit sie verfügt. Geldpolitisch bleibt vorerst zwar alles beim Alten, doch der neue Stil könnte im Vergleich zu ihrem Vorgänger Mario Draghi kaum unterschiedlicher sein. Deutlich zum Ausdruck kam dies vor allem unmittelbar im Anschluss an das knapp 15 Minuten in Anspruch nehmende Verlesen der obligatorischen Pflichtmitteilung, deren ziemlich technokratisch gehaltenen Formulierungen ihr für eine Nichtökonomin ganz nebenbei bemerkt schon erstaunlich leicht über die Lippen kamen.

So brach sie an dieser Stelle mit dem üblichen Protokoll, das den direkten Übergang in die Fragerunde vorsieht, und machte zunächst einige persönliche Erklärungen. "Ich werde ich selbst sein - und damit vermutlich anders", betonte sie gleich vorweg. Sie bat außerdem darum, nicht jedes ihrer Worte überzuinterpretieren und daraus möglicherweise falsche Schlüsse abzuleiten. Erfrischend auch: "Wenn ich etwas nicht weiß, dann sage ich, dass ich es nicht weiß." Und schließlich stellte sie mit einem Lächeln noch klar, dass sie geldpolitisch weder dem Lager der Tauben noch der Falken zuzuordnen sei. Ihr Anspruch bestehe vielmehr darin, eine Eule zu sein - das Tier der Weisheit also. Als ersten weisen Schritt kann ihr dabei mit Sicherheit die bereits jetzt im Januar beginnende, grundlegende Überprüfung der EZB-Strategie, in deren Rahmen man wohlgemerkt auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft in Austausch treten möchte, attestiert werden. Dieser erstmals seit 16 Jahren unternommene Check ist Lagarde eine "überfällige" Herzensangelegenheit: "Wir werden jeden Stein umdrehen", versicherte sie und stellte zugleich einen Abschluss der Strategieüberprüfung noch vor Ende 2020 in Aussicht. Ein ehrgeiziger Zeitplan, denn dass es eine ganze Menge zu hinterfragen gibt, ist in den vergangenen Wochen und Monaten offenkundig geworden. Dazu gehört unter anderem die Frage, ob die EZB ihre Entscheidungen transparenter machen sollte. Mit Blick auf die denkwürdige September-Sitzung 2019 erscheint es angebracht, künftig eine formale Abstimmung unter den Ratsmitgliedern durchzuführen und das Stimmverhalten im Anschluss offenzulegen, ähnlich wie es etwa die Fed handhabt.

Die US-Notenbank könnte denn auch bei einem weiteren wichtigen Punkt, der Orientierungsgröße für die Inflationsrate, als Vorbild dienen. So ist kaum nachvollziehbar, weshalb die Kosten für selbst genutzten Wohnraum bislang nicht in den von der EZB herangezogenen harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) miteinfließen. Anders als in den USA wird damit der Lebenswirklichkeit vieler Europäer von spürbar steigenden Wohnkosten nicht Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang wird schließlich auch über die Sinnhaftigkeit des EZB-Inflationsziels von "nahe, aber unter zwei Prozent" zu diskutieren sein. Sollte man dieses nach einer Periode von fast sieben Jahren der Verfehlung vielleicht doch senken, insbesondere vor dem Hintergrund weltweit immer niedrigerer Inflationsraten? Damit würde sich die EZB in die wünschenswerte Lage versetzen, die Leitzinsen in absehbarer Zeit auch endlich einmal wieder erhöhen zu können. Eine Art Kompromiss könnte hier zumindest die Definition eines Zielkorridors sein, der angesichts globalisierter Produktionsketten sowie rasanten technologischen Fortschritts deutlich zeitgemäßer erscheint als das bisher verfolgte Punktziel.

Äußerst behutsam sollten sich Lagarde & Co. derweil der Frage nach einem stärkeren Engagement im Kampf gegen den Klimawandel nähern. Die EZB hat ihr Mandat ohnehin bereits stark strapaziert. Nun auch noch umweltpolitische Ziele auf die Agenda zu nehmen würde die Geldpolitik wohl endgültig überfrachten. Die EZB ist und sollte weiterhin allein der Preisstabilität verpflichtet sein - mit dieser Aufgabe ist sie genug ausgelastet. ph

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X