Den Exit im Auge behalten

Philipp Hafner, Redakteur, Foto: Verlag Helmut Richardi

Es hat schon fast märchenhafte Züge - kaum tut sich dieser Tage irgendwo ein Finanzloch auf, so wird es umgehend gestopft. Im Schulterschluss und in Windeseile stellen Regierungen und Zentralbanken Geldmittel in Dimensionen bereit, die bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen wären. Seit März summieren sich die weltweit angekündigten Hilfsmittel dieser beiden Akteure auf jeweils rund zehn Billionen US-Dollar. Im Vertrauen auf die Allmacht dieser üppigen Füllhörner ging es an den internationalen Börsen Anfang Juni plötzlich wieder rasant bergauf. Dem schnellsten und stärksten Crash aller Zeiten folgte die schnellste und stärkste Erholung aller Zeiten. Die steile V-förmige Erholung der Wirtschaft, die die Aktienmärkte hier ganz offensichtlich eingepreist haben, dürfte aber letztlich ebenfalls eher märchenhaftes Wunschdenken gewesen sein.

Es war schließlich US-Notenbankchef Jerome Powell, der die Anleger im Nachgang zur Fed-Sitzung am 10. Juni wieder ein Stück weit auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Ausgerechnet Powell möchte man sagen, immerhin war es seine Institution, die mit ihren gigantischen Liquiditätsspritzen - die Bilanzsumme der Fed ist zwischen Ende März und Mitte Mai von 4,2 auf 7,1 Billionen US-Dollar förmlich explodiert - wesentlich zur überzogenen Partystimmung an den Börsen beigetragen hat. Jedenfalls warnte Powell eindringlich vor dem historisch beispiellosen Ausmaß der Pandemie und stellte zugleich den erwähnten V-förmigen Konjunkturverlauf offen in Frage: "Vor der Wirtschaft liegt ein extrem unsicherer Weg." Unmittelbar im Anschluss an diesen trüben Ausblick sackte der Dax um knapp fünf Prozent unter die Marke von 12 000 Punkten, ähnlich erging es dem US-Leitindex S & P 500, der sogar einen Tagesverlust von über sechs Prozent erlitt.

Das zeigt: Volatilität und Nervosität bleiben vorerst stete Begleiter an den Finanzmärkten. Hingegen hat sich die zu Beginn der Corona-Krise verbreitete Befürchtung, dass es zu panikartigen, möglicherweise die Stabilität des Finanzsystems bedrohenden Entwicklungen kommen könnte, nicht erfüllt. Dafür gebührt den rund um den Globus entschlossen reagierenden Notenbanken zweifellos Respekt. Allerdings darf diese Entschlossenheit nun nicht in hektischen Aktionismus umschlagen. Das gilt insbesondere auch für die EZB, die auf ihrer jüngsten Sitzung Anfang Juni das mit 750 Milliarden Euro ohnehin bereits schwindelerregende Notfallanleihekaufprogramm PEPP um weitere 600 auf nunmehr 1 350 Milliarden Euro aufgestockt hat. Vielleicht wäre es hier vernünftiger gewesen, die Füße zunächst einmal still zu halten. Zum einen lehrt die Vergangenheit, dass weder bei wirtschafts- noch geldpolitischen Instrumenten automatisch die Devise "Viel hilft viel" gilt. Und zum anderen weckt die EZB damit ohne Not zusätzliche Begehrlichkeiten: Aktuelle Umfragen zeigen, dass mehr und mehr Teilnehmer an den Finanzmärkten bereits für eine weitere Aufstockung des Programms plädieren - das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.

Bedauerlich (gleichwohl nicht überraschend) ist außerdem, dass Lagarde & Co. sich noch keinerlei Gedanken über die Laufzeit des PEPP gemacht haben. Offiziell ist es zwar als temporäre Maßnahme vorgesehen, bis der EZB-Rat die kritische Covid-19-Phase als abgeschlossen einschätzt. Doch wie großzügig die EZB solche Vorgaben auslegt, zeigen die Erfahrungen mit den anderen "temporären" Anleihekaufprogrammen seit der Finanzkrise: Diese laufen größtenteils immer noch beziehungsweise wurden durch neue ersetzt - selbst während des Wirtschaftsbooms der Eurozone im Jahr 2017 konnte sich die EZB nicht von Anleihekäufen lossagen. Bislang mag dieses Vorgehen funktioniert haben. Doch spätestens mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist der Druck, für das PEPP eine möglichst verbindliche Exitstrategie zu erarbeiten, deutlich gestiegen. Es wartet also eine neue und zugleich sicher bereichernde Aufgabe auf die europäischen Währungshüter. ph

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