Inflation: EZB verliert Deutungshoheit

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

Die jüngst zu Ende gegangenen Tarifverhandlungen im deutschen Bauhauptgewerbe galten als die schwierigsten und komplexesten seit langer Zeit. Für die Beschäftigten hat sich das Warten aber definitiv gelohnt: Ein sattes Plus von 6,2 Prozent im Westen und sogar 8,5 Prozent im Osten Deutschlands erreichte die IG Bau, zuzüglich hoher Einmalzahlungen. Es ist nur ein Exempel von vielen, bei denen Gewerkschaftsvertreter derzeit mit breitem Grinsen aus Tarifrunden kommen. Es sei ihnen und den davon profitierenden Arbeitnehmern natürlich vergönnt, auch wenn einem aus der gesamtwirtschaftlichen Vogelperspektive dabei durchaus etwas mulmig zumute werden kann: Sind das etwa schon die ersten Anzeichen für eine gefährliche Preis-Lohn-Spirale, in der sich nach den Preisen schließlich auch die Löhne über Zweitrundeneffekte beziehungsweise ständige Anpassungsreaktionen von Unternehmen und Haushalten gegenseitig in die Höhe schaukeln?

Die Debatte darüber ist jedenfalls in vollem Gange. So schätzen einer Umfrage mehrerer deutscher Wirtschaftsverbände zufolge 84 Prozent der 800 befragten Unternehmen die Gefahr eines solchen Teufelskreises für 2022 als "groß" beziehungsweise "sehr groß" ein. "Tritt nicht bald eine Trendwende bei der Preisentwicklung ein, werden die Arbeitnehmer verständlicherweise höhere Löhne fordern. Dann käme die Inflation erst richtig in Fahrt", klagte unlängst Reinhold von Eben-Worlée, Präsident der Familienunternehmer, gegenüber der Wirtschaftswoche. Christine Lagarde und ihre Kollegen haben derzeit alle Hände voll zu tun, derartige Sorgen einigermaßen zu zerstreuen. Auf der jüngsten Ratssitzung etwa führte sie einmal mehr so ziemlich alle nur denkbaren Einmaleffekte, Nachholeffekte und Basiseffekte ins Feld, um das Narrativ des vorübergehenden Inflationsdrucks aufrecht zu erhalten.

Doch die Deutungshoheit scheint der EZB so langsam aber sicher zu entgleiten. Vor allem am Kapitalmarkt ist das Sentiment mittlerweile gekippt: Dort liegen die Inflationserwartungen für die kommenden fünf Jahre seit kurzem erstmals bei über 2 Prozent. Das wiederum sorgt für Unruhe und höhere Risikoprämien an den Anleihemärkten. Die Verzinsung der zehnjährigen italienischen Staatsanleihe etwa stieg zu Novemberbeginn deutlich von rund 100 auf knapp 140 Basispunkte. Anschließend griffen Anleger aber wieder zu, was die Risikoprämie auf den Pandemie-Durchschnittswert von gut 100 Basispunkten zurückbrachte. Ganz ähnlich war die Entwicklung in den übrigen Ländern der europäischen Peripherie.

Dieses "Luftholen" am europäischen Rentenmarkt dürfte letztlich aber dennoch nur ein Vorgeschmack auf das sein, was passiert, wenn das Pandemie-Notfallankaufprogramm PEPP der EZB tatsächlich ausläuft - nämlich eine spürbare Zunahme der Volatilität. Doch da muss die EZB jetzt einfach durch. Zum einen ist es Mario Draghis Job, die Refinanzierungskosten Italiens niedrig zu halten (was ihm übrigens bislang sehr gut gelingt), zum anderen darf das Inflationsrisiko inzwischen wirklich nicht mehr auf die leichte Schulter genommen werden. Die Preise eilen allerorten von Hoch zu Hoch. Kommen jetzt noch die beschriebenen Zweitrundeneffekte über die Löhne hinzu, dann läuft man schnell Gefahr, dass die Situation entgleitet. Es braucht also endlich ein erstes, starkes geldpolitisches Zeichen, und zwar unmittelbar auf der anstehenden, finalen Sitzung dieses Jahres am 16. Dezember. Alles andere als die verbindliche Ankündigung eines PEPP-Ausstiegs bis März 2022 käme einer Bankrotterklärung gleich.

Die Konditionen für Baudarlehen mit zehnjähriger Zinsfestschreibung sind derweil im Oktober weiter gestiegen und erreichten wieder die 1-Prozent-Marke. Für Mirjam Mohr, Vorständin bei der Interhyp AG, ist dies aber kein Grund zur Beunruhigung: "Dass Kredite etwas teurer werden, bedeutet nicht, dass Geld auf dem Sparkonto mittlerweile wieder besser aufgehoben wäre - im Gegenteil. Während Sparern die hohe Inflation zu schaffen macht, können Kreditnehmer von der Geldentwertung profitieren." ph

Realkredite: Konditionen Stand 19. November 2021 Quelle: Interhyp AG

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