Ein unangenehmer Realitätscheck

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

Seit dem 23. Januar 2020 ist es nun also offiziell. Die Europäische Zentralbank unterzieht sich in diesem Jahr erstmals nach über 16 Jahren einem tiefgreifenden Realitätscheck. Angefangen bei den Themen Inflationsmessung, -ziel, und -erwartung, über die Effektivität und Nebenwirkungen der eingesetzten Instrumente (Negativzinsen und QE), bis hin zu Fragen der Kommunikationsstrategie, "grüner" Geldpolitik, Ungleichheit, Finanzstabilität und Arbeitsmarktentwicklung - "jeder einzelne Stein" im geldpolitischen Werkzeugkasten werde umgedreht, versprach EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf der ersten Ratssitzung des Jahres.

Keine Frage: Es ist ein sinnvolles und nach so langer Zeit, in der sich die Weltwirtschaft grundlegend gewandelt hat, sicher auch überfälliges Unterfangen. Zugleich könnte es kaum komplexer sein. Bereits Ende 2020 soll die Großinventur, die wohlgemerkt einen breiten zivilgesellschaftlichen Diskurs vorsieht, abgeschlossen sein und handfeste Ergebnisse liefern. Um sich da nicht zu verzetteln, wird man an einer Priorisierung der langen To-do-Liste kaum vorbeikommen. Zu allererst sollte deshalb wohl das ureigene Kerngeschäft fokussiert werden, sprich das Thema Preisstabilität. Im Rahmen der letzten Strategieüberprüfung 2003 ergänzte der EZB-Rat die Formulierung des 1998 gefassten Inflationsziels von "unter zwei Prozent" um einen kleinen, nichtsdestotrotz gewichtigen und zugleich für Interpretationen offenen Zusatz: "Unter, aber nahe zwei Prozent" müsse die Inflation mittelfristig betragen. Dem Wort "nahe" maß vor allem Mario Draghi große Bedeutung zu. So wurde unter seiner Ägide schleichend der Eindruck erweckt, dass darunter eine Art Punktziel von 1,9 Prozent zu verstehen sei - Werte unterhalb davon wurden pauschal als unbefriedigend erachtet. Der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing, den die extrem expansive Geldpolitik der EZB inzwischen mit großer Sorge erfüllt, brach vor diesem Hintergrund kürzlich gar mit dem ungeschriebenen Gesetz, wonach Ehemalige doch eigentlich schweigen sollten über das Handeln der Aktiven. Als Verfechter des ursprünglichen EZB-Inflationsziels stellte er die simple, gleichwohl berechtigte Frage, ob eine Notenbank eine Inflationsrate von 1,5 Prozent oder gar 1,0 Prozent nicht eher als Erfolg ansehen sollte.

Berechtigt deshalb, da es nicht nur infolge des verstärkten Auftretens strukturell preisdämpfendender Effekte (Digitalisierung, Globalisierung und demografischer Wandel), sondern auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen letztlich keine Anhaltspunkte gibt, diese Frage zu verneinen. Und schließlich wird dieser in den vergangenen Jahren von der EZB vergeblich praktizierte Versuch der Inflationsfeinsteuerung gegenüber der Bevölkerung immer schwieriger zu vermitteln. Hier lohnt ein Blick über den großen Teich, wo sich die Fed bereits im Endspurt ihrer Strategieüberprüfung befindet. Eine der bei den extra dafür veranstalteten Zusammenkünften mit der Zivilbevölkerung ("Fed listens") gewonnenen Schlüsselerkenntnissen besteht nämlich darin, dass die US-Bürger eine niedrige Inflation nicht als problematisch erachten.

Die EZB dürfte im Laufe des Jahres also auf eine Vielzahl an Argumenten stoßen, die eine Abkehr von der bisherigen Definition von Preisstabilität hin zu einem flexibleren Ansatz rechtfertigen. Konkret könnte dies in Form eines Zielkorridors erfolgen, der angesichts der genannten Entwicklungen idealerweise zwischen einem und zwei Prozent liegen würde. Ob es dafür eine Mehrheit im EZB-Rat gibt, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt, immerhin wären die Implikationen beträchtlich. Dem momentan gefahrenen geldpolitischen Extremkurs würde die Grundlage entzogen und müsste zumindest in Teilen zurückgedreht werden. Das wäre gerade zu Beginn für so manche Euroländer ein schmerzhafter Prozess, um den man - Hand aufs Herz - langfristig aber ohnehin nicht umherkommen wird. Man darf sich auf lebhafte und kontroverse Debatten gefasst machen. ph

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