FRAGE AN JOCHEN RABE

DIE DIGITALISIERUNG DER STÄDTE - CHANCE FÜR EINE MENSCHENGERECHTERE POLYZENTRALE STADT?

Prof. Jochen Rabe Quelle: Christian Kielmann

Die Digitalisierung der Stadt wird uns erlauben, die verschiedenen Aspekte des städtischen Lebens neu zu mischen und wieder näher zusammenzurücken. Dieses bedeutet eine große Chance für beiderlei Maßstäbe der Stadt, den Kiez und die Stadt als Ganzes. Die Digitalisierung wird uns ermöglichen unsere Städte in ihren zugrunde liegenden Systemen kleinmaßstäblicher zu verstehen und die Vielzahl von Strömen in unserer Stadt (wie zum Beispiel Menschen-, Waren- und natürlichen Ströme) in ihrer wechselseitigen Beziehungen abzubilden.

Mit diesem wachsenden Verständnis steigt aber auch die Möglichkeit, unsere Nachbarschaften und ihre Infrastrukturen in ihrem Betrieb und ihrer Entwicklung präziser und zeitnaher zu steuern und dieses wird unsere Städte weiter beschleunigen. An dieser Stelle stellt uns die Digitalisierung der Stadt vor zwei Herausforderungen, die dringend Antworten benötigen:

1. Zurzeit obliegt die Daseinsvorsorge gewählten staatlichen Institutionen. Das Vermögen der Erfassung und Steuerung von Big Data verschiebt aber die Macht über wesentliche und teils lebenswichtige Infrastrukturen in Richtung der Privatwirtschaft. Hier braucht es einen reflektierteren Umgang mit der individuellen digitalen Souveränität als Auslöser dieser Verschiebung, und zum anderen normative Setzungen der staatlichen Institutionen.

2. Zum anderen wandelt sich die Stadt und die in ihr wohnende Gesellschaft und Wirtschaft in bislang ungekannter Geschwindigkeit, die es zunehmend zu einer Herausforderung macht, Beteiligungsprozesse entsprechend zeitnah durchzuführen und einer Konsensbildung zuzuführen.

Gesellschaftlicher Diskurs dringend benötigt

Die Digitalisierung ist hier Ursache und Lösung zugleich, die sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringt. Wir benötigen dringend Zeit und Raum für einen gesellschaftlichen Diskurs über Stadtentwicklung. Nicht nur bezüglich der Frage, wie wir den vor uns liegenden Herausforderungen der Digitalisierung begegnen wollen, sondern auch, wie wir in Zukunft in unseren zunehmend digitalisierten Städten leben wollen. Es ist nicht einfach Zukunft zu denken! Die derzeit allseits verbreiteten Dystopien können interessant sein, sind aber zu einfach (sogar die letzte Iteration von Star Trek ist dystopisch ...).

Wir versuchen uns in unserer Lehre und Forschung immer wieder daran, Zukunftsszenarien zu entwickeln und ihre Konsequenzen zu verstehen und es wäre wünschenswert, dass es mehr Orte gibt, die Raum und Gelegenheiten bieten, sich interdisziplinär und unter Einbezug der Zivilgesellschaft mit der Digitalisierung unseres Lebensraumes experimentell zu beschäftigen.

Sehnsucht nach mehr Flexibilität

Eine der wichtigsten Chancen bei der Digitalisierung unserer Städte liegt in der Möglichkeit, diese polyzentraler zu verstehen, zu betreiben und einzurichten. Das entspricht sowohl den menschlichen Bedürfnissen eines Lebensraumes im Kiezmaßstab als auch den infrastrukturellen Anforderungen der zunehmend unter der Zentralisierung ächzenden Städte.

Hochqualifizierte Mitarbeiter, eine äußerst umworbene Ressource für städtische Ökonomien, wünschen sich einen Lebensraum, in dem sich Arbeit, Familie, Freizeit und Bildung im nachbarschaftlichen Maßstab organisieren lassen, idealer Weise auch per Fahrrad oder ÖPNV.

Dieses bedingt nicht nur eine entsprechende und flexible Mischungsnutzung in diesem Maßstab, sondern ebenfalls die menschengerechte Möglichkeit der Einbindung in komplexe globale Ökonomien und stetige Aus- und Weiterbildung. Insbesondere diese beiden Tätigkeiten verursachen, dass wir uns regelmäßig jenseits unserer Kieze bewegen müssen und bringen somit zum Beispiel Verkehrssysteme an ihre Belastungsgrenzen. Hier bietet die Digitalisierung Chancen, das Maß der langwierigen Trips in die Zentren unserer Städte eher an dem Wunsch, als dem Zwang zu orientieren.

Neue Chancen für das Homeoffice

Im Zentrum einer neuen Justierung städtischen Lebens entlang digitaler Technologien sollte die Frage stehen, was und wieviel braucht physische Nähe, was nicht und kann durch digitale Technologien ersetzt werden, die unseren menschlichen Bedürfnissen entsprechen. Bereits vor zehn Jahren riefen die großen Firmen das Homeoffice als die Zukunft der Arbeit aus. Inzwischen ist hier aber Ernüchterung eingetreten und manche Organisationen haben wieder Abstand davon genommen und erwarten ihre Mitarbeiter erneut nach einem oft mühsamen Trip durch die Stadt pünktlich an ihrem Arbeitsplatz.

Zum einen wurde festgestellt, dass die verfügbaren digitalen Kommunikationsmittel nicht den menschlichen und organisatorischen Kommunikationsbedürfnissen entsprachen und zum anderen, dass diese - selbst wenn sie funktionieren - den Bedarf nach sozialem Austausch und Nähe nicht ersetzten konnten. Die menschliche Motivation, neue Technologien dauerhaft einzusetzen, ist ein flüchtiges Gut und bereits kleinere Dysfunktionalitäten und Verzögerungen verursachen mangelnde Adoptionsraten. Verlässlichkeit, intuitiver Zugang, Qualität und Augenblicklichkeit hinken immer noch dem persönlichen Gespräch entscheidend hinterher.

Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass unsere Netzwerke für hohe Downloadraten aus gelegt sind, nicht aber für bidirektional gleichwertige Geschwindigkeiten, wie es zum Beispiel in einem Gespräch zu erleben ist.

Innovative Netzwerktechnologien verändern Verhaltensnormen

Neue Netzwerktechnologien wie 5G werden aber genau an dieser Stelle entscheidende Verbesserungen ermöglichen und so Technologien wie Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR) ermöglichen, die zunehmend unseren Bedürfnissen soweit entsprechen, dass wir sie dauerhaft in unser Arbeitsleben einbauen wollen und können. Wir können dann an wenigen Orten an vielen sein und vieles machen, was vorher einen Ortswechsel bedingte. Die Technologien hierfür sind prinzipiell vorhanden und in der Einführung oder in Entwicklung. Der Weg zu einer Welt, in der diese Technologien eine durchschlagende Wirkung für unsere Städte entwickeln, ist aber noch weit entfernt, denn das bedingt eine hohe Netzwerkabdeckung, Zugänglichkeit und Teilnahme auch jenseits organisatorisch geschlossener Netzwerke.

Mit Verbreitung dieser Netzwerke und entsprechenden ökonomischen und sozialen Applikationen werden sich neue Verhaltensnormen in den Räumen unserer Städte durchsetzen und unsere Verhaltensweisen als User werden sich mit etablierten Verhaltensmuster als Bürger und Nachbar überlappen und entwickeln (Kwiatkowski/Breit/ Thalmann 2018). Somit erlauben nicht nur neue Big-Data-Analysen unsere Städte in Jetztzeit zu analysieren, vorherzusagen und so aus dem Betrieb heraus zu planen, sondern auch die Bürger begreifen städtische Räume zusehends als User und Betreiber.

Menschengerechtere Gestaltung der Städte

Parallel zu den Chancen der betrieblichen und gesellschaftlichen Vernetzung bergen neue Produktionsformen ebenso Chancen, das produzierende Gewerbe wieder besser in unsere Städte zu integrieren. Massenproduktion und emittierende Betriebe werden auch in Zukunft große und zu sichernde Flächen in den Rand- und Außenbezirken benötigen, aber mit der Weiterentwicklung der Robotik, gestützt von globalen Wissensnetzwerken und künstlicher Intelligenz, ergeben sich Chancen, diese Technologien auch in kleineren Betrieben und Räumen einzusetzen.

Die neue Generation von Industrierobotern ist kleiner, leiser, mobiler und durch Sensorik sicher im direkten Umgang mit Menschen. Aufwendiges Programmieren von Bewegungen kann ersetzt werden durch manuelles Anlernen, welches der Roboter dann in der Folge selbstständig optimiert. Diese Geräte werden somit günstiger in der Anschaffung und vor allem im vormals noch teureren Unterhalt, sie brauchen weniger Raum und Sicherheitsmaßnahmen und werden daher eine größere Verbreitung auch in kleineren Betrieben erfahren. Mittels neuer Netzwerk- und Produktionstechnologien wird es daher denkbar, industrielle Prozesse dezentraler und näher an die Bewohner der Stadt heranzurücken. Das birgt die Chance, unsere Schlafstädte aufzuwecken und einer zeitgemäßeren Urbanität Einzug zu gewähren.

Der Münchener Soziologe Armin Nassehi beschreibt Städte als Räume der Disparatheit, in denen zusammenkommt, was nicht zusammengehört. Städte etablieren die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (Nassehi 2015). Die Digitalisierung ermöglicht uns, diese Gleichzeitigkeit neu zu verstehen und die Disparatheit teilweise hinsichtlich der Bedürfnisse der Bewohner und Betriebe aufzulösen. Dabei müssen wir sehr vorsichtig sein, dass die wachsende Vorhersehbarkeit und das Vermögen, städtische Systeme zu kontrollieren, weiter freiheitlichen und demokratischen Prinzipien unterliegen. Gleichzeitig bestehen große Chancen, unsere Städte menschengerechter zu gestalten und zu betreiben.

Literatur:

Kwiatkowski, Marta/Breit, Stefan/Thalmann, Leonie (2018): Die Zukunft des Öffentlichen Raums.

Nassehi, Armin (2015): Wie können Städte urban bleiben? In: vhw-Fachkolloquium.

DER AUTOR PROF. JOCHEN RABE, Urban Resilience and Digitalization, Einstein Center Digital Future, Technische Universität Berlin
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