Großsiedlungen erneuern? - Für einen neuen Blick auf einen zukunftsfähigen Wohnungsbestand

Abbildung 1: Beispiel Köln - Ostheim Quelle: Dokumentation Deutscher Bauherrenpreis

Die Revitalisierung der Innenstädte erfährt politische Aufmerksamkeit. Die Preise steigen aufgrund hoher Nachfrage. Die Kommunen haben nicht mehr genug Bauland und die Gentrifizierung ist auch nicht leicht. Zudem kann sich nicht jeder die angesagten Neubauten in den schicken Vierteln leisten. Neuerdings richtet sich der Blick daher wieder stärker auf die in den zwanziger bis achtziger Jahren erbauten Wohnsiedlungen, in denen weit mehr Menschen als in den Innenstädten wohnen und leben. Warum? Zum einen, weil auf angespannten Märkten bezahlbares Wohnen nicht mehr selbstverständlich ist. Zum anderen, weil die Kommunen Bauflächen für ergänzenden Neubau innerhalb der Stadt suchen. Für beides bieten die Wohnsiedlungen Lösungen. Zudem sind sie auch unter energetischen Gesichtspunkten für die wachsenden Anforderungen gut gerüstet, wie der Autor beschreibt. Red.

Die mittlerweile in die Jahre gekommenen Wohngebiete des mehrgeschossigen Mietwohnungsbaus stellen ein Marktsegment dar, das breiten Schichten der Bevölkerung qualitätsvolles Wohnen ermöglicht. Doch nicht nur das. Dieses Segment wirkt in besonderer Weise als sozialer wie ökonomischer Stabilitätsfaktor der Städte und ist Vorreiter beim klimagerechten Stadtumbau. Warum ist das so?

Der Siedlungsbau der Weimarer Republik

Hierfür lohnt ein Blick zurück in die Geschichte: 2009 wurden Berliner Wohnsiedlungen der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in die Welterbeliste der Unesco eingetragen. Damit wurden erstmalig ganze Wohnensembles zum Weltkulturerbe erklärt - und zwar nicht nur wegen ihres gestalterischen Denkmalwertes, sondern ebenso aufgrund ihrer sozialpolitischen und wohnungswirtschaftlichen Konzeption.

Der großangelegte, in allen Städten greifende Siedlungsbau der Weimarer Republik

- löste die dichte Blockbebauung zugunsten locker bebauter Wohngruppen im Grünen auf,

- trennte mit Blick auf gesunde Wohnverhältnisse das Wohnen vom Arbeiten und

- orientierte auf ein gemeinschaftsorientiertes Wohnen in überschaubaren Nachbarschaften mit den dazugehörigen Gemeinbedarfseinrichtungen.

Damit waren Grundzüge einer neuen Wohnform entwickelt, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges mit der unerträglich gewordenen Wohnungsnot einer Wohnungsbaupolitik zugrunde lagen, die den Bau möglichst vieler gesunder Wohnungen für die breite Bevölkerung zum Ziel hatte. Die soziale Konzeption und städtebauliche Struktur des Baus großer Wohnsiedlungen in den fünfziger bis achtziger Jahren folgte der Tradition der Vorgänger. Was sind Merkmale, die bereits in den zwanziger Jahren entwickelt wurden?

Die offene Stadtlandschaft: Zum einen hat das städtebauliche Leitbild der offenen, durchgrünten Stadtlandschaft hier seine Wurzel - ein Leitbild, das als Alternative zu eng bebauten Innenstadtquartieren auch heute noch für Familien mit Kindern und für Ältere attraktiv ist. Die meist weiträumige städtebauliche Grundstruktur ermöglicht einen Attraktivitätsgewinn des Wohnumfeldes. Den gemeinschaftlichen und öffentlichen Raum als Aufenthalts- und Begegnungsraum für Bewohner verschiedener sozialer und ethnischer Herkunft im Wohnumfeld zu gestalten, ist ein Anspruch, der für stabile Nachbarschaften unerlässlich ist.

Einheit von Wohnungsbau und Gemeinbedarf: Zukunftsweisend war der emanzipatorische Charakter des Siedlungsbaus der zwanziger Jahre. Die räumliche Nähe von Kindereinrichtungen und Wohnungen sollte ebenso wie rationelle Wohnungsgrundrisse mit modernen Küchen die Berufstätigkeit der Frau ermöglichen. Schulen, Sport- und Spielplätze gehörten ebenso zum Anspruch des neuen Siedlungsbaus wie ein gemeinschaftsorientiertes Wohnumfeld mit subtil abgestuften privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Aufenthaltsqualitäten. Die komplexe Ausstattung mit Gemeinbedarfseinrichtungen - und die deshalb gute Eignung für Familien mit Kindern ebenso wie die Anpassungsfähigkeit an gewandelte Bedürfnisse, zum Beispiel für seniorengerechtes Wohnen - ist ein struktureller Vorteil der großen Wohngebiete.

Krisenfestes Wohnen zur Miete: Der Mietwohnungsbau großer Siedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg hat die in den zwanziger Jahren entwickelte Konzeption aufgegriffen, durch um fassende Objektförderung hohe Qualitätsstandards zu ermöglichen, die für breite Schichten der Bevölkerung attraktiv sind. Gut und sicher zu bezahlbarer Miete wohnen zu können, ist keine Selbstverständlichkeit. Länder mit marginalem und stigmatisiertem Mietwohnungssektor können davon nur träumen. Wohnen zur Miete erleichtert nicht nur die berufliche wie räumliche Flexibilität. Es gewinnt auch als Bestandteil kommunaler Daseinsfürsorge an Bedeutung in einer Zeit, die durch eine stärkere Spreizung der Einkommen gekennzeichnet ist.

Organisierte Wohnungswirtschaft als Partner der Kommunen: Die Vorteile einer überschaubaren und professionellen Eigentümerstruktur werden angesichts der schwieriger werdenden Erneuerung von Stadtvierteln mit Miethäusern in kleinteiligem Eigentum immer augenscheinlicher: In den großen Wohnsiedlungen ist ganzheitliches Handeln weniger Eigentümer auf Quartiersebene in enger Kooperation mit den Kommunen möglich. Die heutigen Wohnungsunternehmen sind in ihrer Mehrzahl die Nachfolger der im Zuge der Reformbewegung des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts entstandenen Genossenschaften und kommunalen GmbHs mit ausgeprägter Ortsbindung und Interessen an nachhaltiger Bewirtschaftung ihrer Bestände.

Kritik am Großsiedlungsbau: Heute werden die Ideen der Städtebaumoderne manchmal verantwortlich gemacht für die Extreme des monofunktionalen Massenwohnungsbaus vor allem der sechziger und siebziger Jahre und für die Verkennung der urbanen Werte innerstädtischer Altbauquartiere. Der aus der Zukunftseuphorie der sechziger Jahre heraus geplante und teilweise durchgeführte Abriss ganzer Stadtquartiere wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung im Zuge der behutsamen Stadterneuerung der achtziger Jahre korrigiert. Die Qualität und Bedeutung des sozial orientierten Wohnungsbaus der zwanziger bis achtziger Jahre wird hingegen im öffentlichen Bewusstsein noch nicht mit dem nötigen Respekt wahrgenommen.

Unterschiedlicher Handlungsbedarf

In der oberflächlichen Betrachtung werden Großwohnsiedlungen als eintönige Masse weitgehend gleichartiger Bauten wahrgenommen. Sieht man genauer hin, fallen erhebliche Unterschiede auf, die von der Zeit der Bebauung, der Siedlungsgröße, der Qualität der Bauherren und Planer sowie von dem Niveau der gegenwärtigen Bewirtschaftung und Belegungspolitik abhängen. Zu unterscheiden sind:

- die Bestände des mehrgeschossigen Siedlungsbaus der zwanziger und dreißiger Jahre,

- die nach dem Leitbild der aufgelockerten Stadtlandschaft errichteten mehrgeschossigen Wohngebiete der fünfziger und sechziger Jahre,

- die nach dem Leitbild "Urbanität durch Dichte" errichteten, häufig vielgeschossigen Wohnensembles der siebziger Jahre in den alten Ländern und

- die in industrieller Bauweise errichteten Wohngebiete der siebziger und achtziger Jahre in den neuen Ländern.

Schwierige Sanierungsaufgaben stehen an in den nach dem städtebaulichen Leitbild "Urbanität durch Dichte" errichteten Großwohnsiedlungen der alten Länder, die häufig von Hochhausbebauung und verdichteten, baulich komplizierten Strukturen geprägt sind und Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre erbaut wurden. In den neuen Bundesländern sind die nach der Konzeption des komplexen Wohnungsbaus erbauten Siedlungen der siebziger und achtziger Jahre umso problematischer, je jünger sie sind - aufgrund der Qualitätsabstriche, die in den letzten Jahren der DDR infolge der ökonomischen Krise erforderlich wurden. Die ambitionierten Wohngebiete zu Beginn des Wohnungsbauprogramms in der ersten Hälfte der siebziger Jahre unterscheiden sich erheblich von der Spätphase in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Städtebaulich wie sozial eher unproblematisch sind die meist kleineren Wohnsiedlungen der zwanziger bis frühen sechziger Jahre, die manchmal sogar schon Denkmalschutzstatus haben.

Von der Großsiedlung zur Großen Wohnsiedlung

Der Überblick zeigt zweierlei:

- Zum einen Kontinuitäten im sozialpolitischen Herangehen und in den Grundzügen der räumlichen Gestaltung des Mietwohnungsbaus der zwanziger bis achtziger Jahre,

- zum anderen eine große Vielfalt in der konkreten Ausformung der gebauten Wohngebiete mit der Folge starker Qualitätsunterschiede.

Mit Recht war die Diskussion der letzten Jahre fokussiert auf die "Sorgenkinder", nämlich zum einen auf die als "Großsiedlungen" bezeichneten verdichteten Hochhaussiedlungen der alten Länder der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, in denen städtebauliche Defizite mit unsensibler Belegungspolitik so korrespondierten, dass überforderte Nachbarschaften entstanden. Zum anderen wurden der Begriff und das damit verbundene Negativimage auf die im Zuge des Wohnungsbauprogramms der DDR industriell errichteten Wohngebiete übertragen. Um den Charakteristika der Wohngebiete umfassend gerecht zu werden, wäre eine Verengung auf Platte (neue Länder) und verdichtete Hochhausensembles (alte Länder) unklug. Bei der kritischen Sicht auf die "Großsiedlungen" gerät schnell aus dem Blick, dass die Wohnsiedlungen des Mietwohnungsbaus in ihrer Mehrzahl nachgefragte, durchgrünte Bestände sind, die auf vielfältige Weise zukunftsfähig weiterentwickelt werden können. Welches Spektrum an Möglichkeiten gegeben ist, zeigen die Ergebnisse der Wettbewerbe um den Deutschen Bauherrenpreis, die seit Jahren zukunftsweisende Erneuerungsvorhaben in den Mietwohnbeständen der zwanziger bis achtziger Jahre prämieren.

Gut gerüstet für Klimaschutz und Energieeinsparung

Das bisherige Erneuerungsgeschehen belegt, dass die großen Wohnsiedlungen an die Erfordernisse des Klimaschutzes gut gerüstet sind, und zwar aufgrund

- ihres hohen Potenzials für sparsamen Energieverbrauch durch ihre kompakte Bebauung (Mehrfamilienhaustyp),

- der Möglichkeit erheblicher Einspareffekte durch rationelle Modernisierungsverfahren zu tragbaren Kosten und

- der Möglichkeit abgestimmten Handelns professioneller Vermieter auf Quartiersebene.

Eine völlig neue Qualität des Wohnens entsteht, wenn die energetische Sanierung im ganzheitlichen Zusammenhang mit weiteren Maßnahmen angegangen wird, wie beispielsweise Grundrissänderungen (vor allem mit Blick auf bedürfnisgerechte Küchen und Bäder), barrierearmes, generationenübergreifendes Wohnen, Lärmminderung, nutzerfreundliches Wohnumfeld, Gemeinschaftsräume sowie Service-Wohnen. Die bisherige Erneuerung von großen Wohnsiedlungen ist folgendermaßen skizzierbar: In den achtziger Jahren überwogen die städtebauliche Nachbesserung und soziales Management.

Große Wohnensembles wurden in den alten Ländern städtebaulich aufgewertet und sozial stabilisiert vor dem Hintergrund der Zunahme des Anteils von Geringverdienern und Migranten an der Einwohnerschaft. In den neunziger Jahren folgte die bautechnische Modernisierung und städtebauliche Weiterentwicklung. In den neuen Ländern wurden vielfältige Erfahrungen bei der ganzheitlichen Erneuerung der großen industriell errichteten Wohngebiete gesammelt.

Und seit 2000 sieht man den Stadtumbau in der Einheit von Aufwertung und Rückbau. Als Reaktion auf den Rückgang der Einwohnerzahlen haben die meisten Städte der neuen Länder gemeinsam mit ihren Wohnungsunternehmen weitreichende Abrissmaßnahmen eingeleitet und zugleich die langfristig notwendigen Bestände aufgewertet. Integrierte Stadtentwicklungskonzepte wurden zur neuartigen Entscheidungsgrundlage. Vorhaben des Stadtumbaus West lernen aus diesen Erfahrungen und verfolgen vielfältige Konzepte, die Modernisierung, Rückbau und Neubau miteinander kombinieren.

Das aktuelle Erneuerungsgeschehen könnte vor dem Hintergrund der dringenden Anforderungen des Klimaschutzes und der sozialen Wohnraumversorgung als klimagerechter und sozialverträglicher Quartiersumbau bezeichnet werden, wobei einer sozialverträglichen Belegungspolitik als Pendant der baulichen Erneuerung besondere Bedeutung zukommt.

Für eine integrierte Strategie zur zukunftsfähigen Gestaltung der großen Wohnsiedlungen setzt sich das in der Berliner Großwohnsiedlung Hellersdorf angesiedelte Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. ein. Es wirbt für das Leitbild, die großen Wohnsiedlungen der zwanziger bis achtziger Jahre sozial so zu stabilisieren und baulich so zu erneuern, dass sie auf Dauer zukunftsfähig sind. Bei diesen Anstrengungen darf nicht nachgelassen werden, zumal die soziale Wohnraumversorgung vor dem Hintergrund angespannter Wohnungsmärkte in Wachstumsregionen für große Bevölkerungsgruppen von existenzieller Bedeutung ist.

Der Autor

Dr. Bernd Hunger Referent für Stadtentwicklung, GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V., Berlin

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