Pro und Kontra - Genossenschaftliches Bauen

Verstößt ein Verkauf von genossenschaftlichem Wohnraum gegen die Grundidee?

Dr. Rolf Bosse, Vorstand und Rechtsberater, Mieterverein zu Hamburg, Hamburg

Anlass für große Kritik und Verunsicherung bot jüngst der Verkauf von 74 vermieteten Wohnungen. Die Genossenschaft VHW - Vereinigte Hamburger Wohnungsgenossenschaft eG - veräußerte diese an die Vonovia SE, offenbar, ohne die Mieter und die 56 Genossenschaftsanteilsinhaber darüber zu informieren. Der Mieterverein zu Hamburg kritisiert diesen Deal scharf. Merkmal des Wohnungsbestandes der Vonovia sei ein jahrelanger Instandsetzungsstau. Und werde eine Modernisierung durchgeführt, stiegen hinterher die Mieten massiv an. Die Zielmiete der Bestände liege dann über dem Mittelwert des Mietspiegels. Weder die Mietpreisbremse noch die bei Genossenschaften sonst übliche moderate Deckelung würden hier eingehalten. Die VGH selbst gibt sich zum Verkauf leider sehr schmallippig und hat lediglich eine kurze Erklärung abgegeben. Der Vorstand selbst war nicht zu einer Stellungnahme zu bewegen. Darin wird darauf verwiesen, dass die vorhandenen Genossenschaftsanteile weiterhin bei der VHW bleiben. Das ist eine bemerkenswerte Argumentation, da dies in Zukunft sicherlich nicht so bleiben wird. Denn welchen Sinn würde es für die Mieter haben, Anteile von einer Gesellschaft zu halten, mit der sie nun zwangsläufig nichts mehr zu tun haben? Der Bau sei ein Fehler gewesen, die Modernisierung und die Lärmschutzmaßnahmen seien zu teuer. Die Gebäude seien nicht wirtschaftlich gewesen. Eine in der Tat bemerkenswert berechnende Argumentation für eine Genossenschaft. Die Sozialbindung bleibe darüber hinaus erhalten. (Red.)

KONTRA

Die VHW verrät ihre eigenen Ziele

"Raum zum Leben in jedem Alter": Der Slogan der VHW verspricht Verlässlichkeit, Beständigkeit, Sicherheit. Werte, für die eine Genossenschaft steht und die das Handeln einer Genossenschaft bestimmen sollten. Vier Prozent Dividende auf die Genossenschaftsanteile, der restliche Ertrag ist zu verwenden für Investitionen in den Bestand in Form von Instandhaltung, Instandsetzung und Modernisierung sowie in den Neubau und kommt damit den Mitgliedern und Nutzern der Wohnungen direkt zugute. Mieten unter dem Mittelwert des Mietenspiegels - auch bei Neuvermietung, moderate Mieterhöhungen - auch nach Modernisierungsmaßnahmen.

Für die 74 nunmehr ehemaligen Nutzer genossenschaftlichen Wohnraums in Wilhelmsburg dürften diese Grundsätze sowie die Erwartung einer moralisch integren Bestandsbewirtschaftung den Ausschlag gegeben haben, gerade bei der VHW wohnen zu wollen, Genossenschaftsanteile zu zeichnen, dazu zu gehören. Jetzt sind sie draußen. Ohne vorher überhaupt informiert, geschweige denn gefragt worden zu sein. Ihr neuer Vermieter heißt Vonovia und ist Deutschlands größtes Wohnungsunternehmen. Auch hier ist im Internetauftritt von Verantwortung die Rede, die nicht an der Wohnungstür ende.

Gewaltige Veränderung für die Betroffenen

Die Realität der Mieter der Vonovia sieht allerdings anders aus. Betrachtet man die Bestände des Unternehmens im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel und anderswo in Hamburg, wird ein jahrelanger Instandsetzungsstau augenfällig. Um der Folgen des Raubbaus an den Immobilien, der mit der Privatisierung der Gagfah durch den US-amerikanischen Investmentfonds Fortress begonnen hat, Herr zu werden, investiert Vonovia en gros in die "Modernisierung" ihrer Bestände und erhöht mit deren Hilfe systematisch die Mieten. Die Zielmiete der Bestände liegt über dem Mittelwert des Mietspiegels. Bei Neuvermietungen wird weder die Mietpreisbremse konsequent beachtet noch werden Mieterhöhungen auf das moderate Maß gedeckelt, das bei Genossenschaften üblich ist.

Das Streben nach maximaler Rendite endet aber nicht bei der Miete: Instandsetzung, Modernisierung und laufende Bestandsbewirtschaftung werden in immer größerem Umfang von Vonovia-Töchtern erledigt, was die Gewinne dieser Unternehmen, die von den eingenommenen Mieten und Betriebskosten bezahlt werden, dem Konzern zufließen lässt und "andere Erlöse aus der Immobilienbewirtschaftung" generiert, die laut Geschäftsbericht von 28 Millionen Euro 2015 auf 39 Millionen Euro 2016 gestiegen sind.

Ein Unternehmen, das durch Standardisierung, Optimierung und Verschlankung laufende Kosten reduziert, seinen 330 000 Wohnungen zählenden Bestand zentral von zwei Standorten aus verwaltet und nur über eine zentrale Service-Hotline zu erreichen ist, in dem es keinen individuellen Betreuer gibt, entzieht sich dem persönlichen Kontakt zu seinen Mietern, entfremdet sich.

Verglichen damit mutet die VHW, die ihren Immobilienbestand von etwa 7 500 mit gut 170 Mitarbeitern bewirtschaftet, an wie ein Familienunternehmen. Das bringt Vorteile. Persönliche Kontakte zwischen Wohnungsnutzern und der Wohnungsverwaltung erleichtern die Abwicklung von Anliegen.

Es gibt also in Aufbau, Ausrichtung und Zielsetzung eine gewaltige Veränderung beim neuen Vermieter, die die 74 ehemaligen Genossinnen und Genossen in Wilhelmsburg hinnehmen müssen.

Da hilft auch nicht, dass die Wohnungen öffentlich gefördert sind und der Kostenmiete unterliegen. Dass innerhalb des Bindungszeitraums Modernisierungen nicht zu erwarten sind und die Mieten stabil bleiben. Denn schon jetzt wird das System Vonovia seine neuen Mieter vor Herausforderungen stellen, etwa mit seinen innovativen Betriebskosten ("Hauswart-Aufzug", 50 verschiedene "sonstige Betriebskosten" im Standard-Mietvertrag), mit der Nutzung der Mieterdaten für die Vermarktung von Produkten wie TV- und Internetdiensten oder mit der Herangehensweise an Mängelmeldungen ("Ticket-System").

Und bald wird auch die Mietpreisbindung enden und die dann dem Mietspiegel unterliegenden Wohnungen werden einen Preisanstieg zu spüren bekommen, der bei der VHW nicht zu erwarten gewesen wäre. Die VHW verspricht in ihrem Internetauftritt "Sozial verantwortbare Wohnraumversorgung zu angemessenen Mieten", Vonovia hingegen rühmt sich mit Sätzen wie "Seit unserem IPO im Jahre 2013 konnten wir jedes Jahr die Dividende je Aktie um mindestens zehn Prozent erhöhen." Eine Genossenschaft, die Wohnungen an einen börsennotierten Konzern verkauft, begeht Verrat an ihren Zielen.

Nur dünne VHW-Argumente vorhanden

Die Argumente der VHW für den Verkauf wirken im Übrigen dünn. Zwei Kilometer liegen zwischen der Thielenstraße und den großen Beständen der VHW entlang der Georg-Wilhelm-Straße, weitere Bestände liegen in Harburg. Von einem isolierten Bestand kann kaum die Rede sein. Werden jetzt auch die 108 deutlich isolierter gelegenen Wohnungen im Eitnerweg in Hummelbüttel verkauft? Eine Genossenschaft wird ihrer Aufgabe, preisgünstigen Wohnraum anzubieten, gerade dann gerecht, wenn sie dies überall im Hamburger Stadtgebiet tut. Und dass Ausgaben für die Lärmberuhigung die übrigen Genossen unangemessen belastet hätten, dürfte angesichts der guten Gewinne ausgeschlossen sein.

Eine Genossenschaft wirtschaftet für ihre Mitglieder. Ein Immobilienkonzern für Aktienkurs und Shareholder Value. Die verschiedenen Ansätze haben ganz erhebliche Auswirkungen auf den Umgang mit den Mietern beziehungsweise Nutzern. Für 74 Mitglieder der VHW in Wilhelmsburg haben sich die Rahmenbedingungen für das Wohnen gravierend verändert. Dies hätte unbedingt vermieden werden müssen und darf sich nicht wiederholen.

Dr. Rolf Bosse Vorstand und Rechtsberater, Mieterverein zu Hamburg, Hamburg

PRO

Strategischer Verkauf

Der Verkauf war und ist richtig. Er ist unter strategischen Gesichtspunkten erfolgt, stellt sich als wirtschaftlich rundum vernünftig dar und ist mit der Option der Bewohner auf Fortführung ihrer Mitgliedschaft in unserer Genossenschaft auch unter sozialen Aspekten verantwortungsvoll gelaufen. Dem Verkauf liegt eine Vorstandsentscheidung mit Beteiligung des Aufsichtsrats zu Grunde. In gemeinsamer Verantwortung gegenüber unseren 15000 Mitgliedern war er unbedingt geboten.

Rückblickend war der Bau der Wohnungen Ende der neunziger Jahre durch die VHW falsch. Die Wohnungen fielen, gemessen an unseren sonstigen Beständen in Wilhelmsburg und anderen Hamburger Stadtteilen, geografisch aus der Reihe. Zudem waren die Gebäude in ihrer Bewirtschaftung sehr kostspielig. Da sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu Bahngleisen liegen, wären weiterhin hohe Investitionen in Lärmschutzmaßnahmen und Instandhaltung erforderlich gewesen.

Die Fehler der Vergangenheit korrigieren

Die Wohnimmobilien waren damit unterm Strich sehr unwirtschaftlich. Auch eine Genossenschaft muss in solchen Fällen handeln und sollte Fehler der Vergangenheit korrigieren können, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Mit dem Kaufinteresse der Vonovia bot sich hier eine einmalige Chance. Vor Vertragsabschluss mit der Vonovia waren die Wohnungen der Stadt sowie einer ihr nahen Stiftung und Unternehmen angeboten worden. Dort bestand kein Kaufinteresse.

Die Sozialbindung der Wohnungen bleibt im Übrigen auch nach dem Verkauf unverändert bis 2030 erhalten. Die Mietverträge mussten von der Vonovia übernommen werden. Die Miete liegt unverändert bei durchschnittlich 8,30 Euro/ Quadratmeter.

Annika Klein Projektmanagement, VHW, Hamburg

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