MARKT- UND OBJEKTBEWERTUNG

"BEZÜGLICH DATENQUALITÄT UND TRANSPARENZ SPIELT DEUTSCHLAND SICHER NICHT IN DER ERSTEN LIGA"

Dr. Michael Brandl Quelle: Kenstone

"Stetig steigenden Anforderungen" sieht Michael Brandl, Geschäftsführer der Kenstone GmbH, die Immobilienbewertung ausgesetzt. Welche dies im Einzelnen sind und wie sich sein Unternehmen darauf einstellt, erläutert er ausführlich im Interview mit I & F. Mit Blick auf den Megatrend Digitalisierung seien insbesondere moderne Datenanalyse-Methoden unter Einbindung von Data-Mining- und KI-Technologien vielversprechend. Derartige Entwicklungen werden seiner Einschätzung nach das Berufsbild der Sachverständigen positiv in Form von Qualitätssteigerung beeinflussen. Darüber hinaus spricht er über die Implikationen der Shared Economy, die Idee eines einheitlichen europäischen Standards zur Beleihungswertermittlung sowie die zuletzt überaus dynamische Preisentwicklung auf dem hiesigen Immobilienmarkt. Red.

Herr Dr. Brandl, Sie haben vor gut einem Jahr die fachliche Geschäftsführung bei Kenstone von Günter Wattig übernommen. Wie fällt Ihr erstes Zwischenfazit aus?

Eine spannende und ereignisreiche Zeit in einem fantastischen Team! Gleich zu meinem Einstieg haben wir in einem zweitägigen Offsite unter Einbindung aller Mitarbeiter Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen. In mehreren Projektteams bauen wir seither gemeinsam aktiv an der Zukunft unseres Unternehmens.

War die Umstellung mit Blick auf Ihren vorherigen Arbeitgeber, die Abwicklungsanstalt FMS Wertmanagement, groß?

Es macht natürlich einen Unterschied, ob man auf der Auftraggeberseite oder auf der Auftragnehmerseite von Bewertungsdienstleistungen sitzt. In meiner vorherigen Position musste ich mich nicht um eine stets gefüllte Deal-Pipeline kümmern. Aus Sicht meiner gutachterlichen Tätigkeit macht es aber keinen Unterschied. Als Auftragnehmer bin ich jetzt dafür verantwortlich, die hohen Standards einzuhalten, die ich als Auftraggeber immer gefordert habe.

Kenstone ist bekanntlich ein Tochterunternehmen der Commerzbank. Darf man annehmen, dass die Mutter auch gleichzeitig der wichtigste Auftraggeber für Sie ist?

Der weitaus größere Anteil der über 13 000 Bewertungsaufträge pro Jahr, die über die Tische der Kenstone-Gutachter gehen, entstammt natürlich dem Finanzierungsgeschäft der Commerzbank. Wir sind aber sehr bestrebt und durchaus erfolgreich darin, das externe Bewertungsgeschäft zu stärken. So konnten wir bereits Rahmenverträge mit mehreren großen Banken und vielen Sparkassen schließen. Zu unserem Kundenkreis zählen auch Finanzierungsvermittler, große Immobilienbestandshalter, Fonds, Investoren, Family Offices und Privatpersonen.

Welche Dienstleistungen erbringen Sie abgesehen von Ihrem Kerngeschäft der Immobilienbewertung? Haben sich die Ansprüche Ihrer Kunden über die Jahre gewandelt beziehungsweise sind diese gestiegen?

Abgesehen von der reinen Ermittlung von Marktwerten und Beleihungswerten werden wir auch mit der Einschätzung der Rentierlichkeit von Projektentwicklungen und der anschließenden Kontrolle von Bautenständen beauftragt. Eine immer größere Rolle spielen aber auch Consultingleistungen rund um die Immobilie, Portfolioanalysen und die Erstellung von Marktberichten. Die Anforderungen an die Immobilienbewertung steigen dabei ständig, nicht zuletzt aus aufsichtsrechtlichen Gründen.

Dem begegnen wir, indem wir extrem um die Weiterbildung unserer Mitarbeiter bemüht sind. Unsere Gutachter sind, bis auf wenige Junggutachter, die wir direkt nach ihrem Studium einstellen konnten, durchwegs personalzertifiziert nach ISO/IEC 17024 (HypZert), einige zudem Members der Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) oder öffentlich bestellt und vereidigt. Die Kenstone ist zudem "Approved by HypZert" und erfüllt damit höchste Qualitätsstandards im Geschäftsbetrieb.

Inwieweit hat sich Ihrer Einschätzung nach die Immobilienbewertung in den vergangenen Jahren grundsätzlich verändert? Ist sie komplexer geworden?

Jeder Gutachter, der für Finanzierungsinstitutionen arbeitet, kennt die kontinuierlich steigenden Anforderungen, was die Dokumentation und Begründung von Wertansätzen betrifft. Das erleichtert natürlich nicht die Arbeit des Gutachters, ist aber für den Schutz von Investoren, Finanzierern und Pfandbriefgläubigern vor Ausfällen sowie vor dem Hintergrund volatiler Märkte absolut begrüßenswert und erforderlich.

Ist das alte Mantra "Lage, Lage, Lage" für die Wertermittlung einer Immobilie denn noch ein guter Indikator? Oder werden neue Bewertungsparameter angesichts der vielen Megatrends (Nachhaltigkeit, Demografie, Digitalisierung, Urbanisierung et cetera) immer wichtiger?

Die Lage hat ihren Einfluss auf Höhe und Nachhaltigkeit des Immobilienwerts nicht verloren. Auch in Deutschland entwickeln sich nicht alle Immobilienwerte kontinuierlich positiv. Die Lagequalität wird aber zunehmend auch durch externe Faktoren bestimmt, wie Urbanisierung beziehungsweise "Entvölkerung" von Landstrichen und dem einhergehenden demografischen Wandel. Manche Immobilien schaffen es, sich ihre eigene Lage "zu machen", zum Beispiel durch kluges Management und Nutzung der Möglichkeiten, die die Digitalisierung und Verbesserung von Mobilitätskonzepten bieten.

Stichwort "Trends": Auf der Expo Real 2018 haben Sie zu den Themen "Co-Working" und "Co-Living" referiert. Worauf müssen sich Bewerter hierbei einstellen?

Mit Einzug der Shared Economy in angestammte Bereiche der Wohn- und Dienstleistungsindustrie wandeln sich auch die Ansprüche an den Gutachter in der Ableitung angemessener Mietansätze. Zunehmend bildet nicht mehr die Quadratmeter-Miete die Vergleichsbasis. Vermietet werden "Betten" oder "Arbeitsplätze". Die Wertermittlung folgt dann eher einer Pachtwertableitung unter Beachtung von Auslastungskennzahlen, wie wir sie aus der Bewertung von Managementimmobilien wie Hotels oder Pflegeeinrichtungen kennen.

Ein weiterer Trend ist bekanntlich das Thema Nachhaltigkeit: Inwieweit verändert das Ihre Arbeit als Bewerter? Fließen nachhaltige Qualitäten von Immobilien bereits positiv in die Markt- und Beleihungswertermittlung ein?

Die Nachhaltigkeit einer Immobilie beeinflusst in erster Linie den Aspekt der Vermarktbarkeit. Vielen Immobilienfonds ist es inzwischen gemäß ihren Statuten verwehrt, in Immobilien ohne Nachhaltigkeitszertifikat zu investieren. Damit erleiden nicht nachhaltige Immobilien zunehmend einen Vermarktungsnachteil, den der Gutachter nicht zuletzt in der Ableitung des Zinssatzes einpreist. Meines Erachtens wird letztendlich der Nachhaltigkeitsaspekt über die Zeit seine Bedeutung eher verlieren, da Neubauten die Ansprüche an Nachhaltigkeit, insbesondere deren energetische Aspekte, ohnehin erfüllen (müssen). Ich kann mich noch gut an die Aufkleber an den Autohecks erinnern: "Ich fahre schon mit Katalysator!"

Dem deutschen Immobilienmarkt wird bezüglich Datenqualität und Transparenz oft kein gutes Zeugnis ausgestellt. Wie beurteilen Sie die Lage?

In Deutschland spielen wir, was allgemein verfügbare Datenqualität und Transparenz betrifft, sicher nicht in der ersten Liga. Hierzulande spielen unabgestimmte Standards und Methoden in der Datenaufbereitung und -bereitstellung, die extrem hohen Anforderungen an den Datenschutz, aber auch die Bewahrung von Herrschaftswissen durch die Beteiligten eine abträgliche Rolle. Wir haben uns entschlossen, zumindest einen Beitrag bei der Aufbereitung und Bereitstellung von Bewertungs-Knowhow zu leisten, indem wir bis Mitte nächsten Jahres unsere Webpräsenz zu einer Collaboration-Plattform umbauen wollen, um dort in der Zusammenarbeit mit anderen Gutachtern Bewertungsstandards weiterzuentwickeln und bereitzustellen. Wir sind schon sehr gespannt.

In diesem Zusammenhang wird derzeit viel über das Potenzial von "Big Data" diskutiert. Wie können Sie die oftmals unstrukturierten Daten für die Immobilienbewertung nutzbar machen?

Viele Bewertungsfirmen, wie auch wir, arbeiten bereits an der Nutzbarmachung moderner Datenanalyse-Methoden unter Einbindung von Data-Mining- und KI-Technologien. Das ist ein ungeheuer spannendes Feld, das das Berufsbild des Gutachters deutlich beeinflussen wird - meines Erachtens aber nicht zu dessen Nachteil. Zeitintensive Tätigkeiten des Datensammelns und -aufbereitens werden abgelöst durch anspruchsvollere Aufgaben des Plausibilisierens und Qualitätssicherns. Dies birgt das Potenzial zur Arbeitserleichterung und Qualitätssteigerung.

Birgt unter Umständen auch Building Information Modeling (BIM) Potenzial für die Ermittlung der Immobilienwerte?

Das BIM ist das Datenabbild einer Immobilie. Kluge BIM-Systeme legen bereits neben den reinen Vermaßungszahlen auch weitere Informationen ab, die für die Bewertung relevant sind. Das umfassende Datenmodell enthält zum Beispiel neben der Grundstücksgröße auch die Angaben aus dem Grundbuch, neben der Mietfläche auch die zugehörigen Mietverträge und die Qualitäten von Bauzustand, Ausstattung und eine Einschätzung, wann bestimmte Bauteile zu erneuern sind. Hieraus lässt sich ableiten, welche Kosten über die Zeit anfallen werden.

Einige Anbieter werben inzwischen mit automatisierten Immobilienbewertungsmodellen, die mithilfe von Machine Learning und künstlicher Intelligenz innerhalb von Sekunden einen Marktwert liefern. Wie verlässlich sind solche Konzepte und könnten sie perspektivisch den Sachverständigen überflüssig machen?

Automatisierte Bewertungsmodelle haben (bislang) da eine Berechtigung, wo große Mengen an Vergleichsdaten zur Verfügung stehen, inklusive der zugehörigen Qualitätsmerkmale, die die Preisbildung beeinflussen. Bei der Bewertung von zum Beispiel Eigentumswohnungen können manche Modelle bereits heute gute Dienste leisten, soweit sie auf verifizierte Daten zurückgreifen können. Den qualifizierten Sachverständigen macht das noch lange nicht überflüssig, denn nur ihm gelingt es, auch für individuelle Immobilien und bei eingeschränkter Datenlage verlässliche Wertaussagen zu produzieren. Die aufsichtsrechtlichen Vorgaben an die Immobilienbewertung tun ein Übriges, dass die sachverständige Wertermittlung nachhaltig ihren Beitrag in der Qualitätssicherung leisten wird.

Sie sind bundesweit an sieben Standorten mit Büros vertreten. Wie wichtig ist die lokale Nähe anno 2018 noch? Können Sachverständige nicht zunehmend "vom Schreibtisch aus" arbeiten?

Wir pflegen nach wie vor mit voller Überzeugung das Regionalitätsprinzip in der Gutachtenerstellung. Unseres Erachtens kann ein Gutachter nur dann dauerhaft gute Arbeit leisten, wenn er auch regional in seiner Bewertungsumgebung verhaftet ist und dort täglich die lokalen Nachrichten und Entwicklungen am Markt aufnimmt.

Kenstone hat vor einigen Monaten zusammen mit Crédit Foncier Immobilier aus Frankreich eine Allianz führender europäischer Immobilienbewerter (European Valuers' Alliance - EVA) ins Leben gerufen. Was war der Anlass dafür und welche Ziele verfolgen Sie damit?

Auch hier war das Regionalitätsprinzip treibender Gedanke. Die Kenstone fühlt sich sicher in ihrem Heimatmarkt. Aber wir haben auch Kunden, die grenzüberschreitende Immobiliengeschäfte tätigen. Hieraus ergab sich schon früh eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Crédit Foncier Immobilier, einer französischen Bewertungsgesellschaft, die die gleichen hohen Qualitätsstandards erfüllt, wie wir sie für uns in Anspruch nehmen. Dieses Modell heben wir nun mit "EVA" auf eine europäisch Basis, unter Beteiligung von lokalen Bewertungsgrößen in den europäischen Nachbarländern. Die EVA-Mitgliedsinstitute ermöglichen damit ihren Kunden auf überregionale Expertise zuzugreifen, ohne den direkten, lokalen Ansprechpartner zu wechseln.

Stichwort Europa: Es gab vor einigen Jahren vonseiten der EBA die Überlegung, einen einheitlichen europäischen Standard zur Beleihungswertermittlung. Das Vorhaben liegt momentan zwar auf Eis, dennoch die Frage: Wie stehen Sie zu dieser Idee?

Absolut positiv! Was auf dem Felde der Entwicklung des Beleihungswertes in Deutschland geleistet wurde, hat meines Erachtens einen stabilisierenden Effekt für den gesamten deutschen Immobilienmarkt und ist Garant für die Stellung des Pfandbriefs als mündelsicheres Anlagevehikel. Allerdings scheitert eine europaweite 1:1-Übertragung der Methodik des Beleihungswerts an den Usancen und teilweise nachvollziehbaren Vorbehalten unserer Nachbarländer.

So haben sich, auch in Deutschland, die als inzwischen nachhaltig einzuschätzenden Marktrahmenbedingungen gegenüber den Verhältnissen bei und vor der Einführung der BelWertV geändert. Die Schere zwischen Markt- und Beleihungswert ist dadurch zuletzt übertrieben deutlich aufgegangen. Die Entwicklung und Abstimmung eines neuen, paneuropäischen Sicherheitenwertes, wie er mit dem L-TSV Network (Long-Term Sustainable Value) auch vdp-seitig unterstützt wird, hätte meines Erachtens großes Potenzial.

Es wird derzeit viel über mögliche Überhitzungen auf einigen deutschen Teilimmobilienmärkten spekuliert. Wie beurteilen Sie die dynamische Entwicklung bei den Preisen?

Die dynamische Entwicklung ist in vielen Teilbereichen unverkennbar. Eine "Blase" kann ich dennoch nicht erkennen. Das Platzen einer Blase würde bedeuten, dass Immobilienpreise auf breiter Front schlagartig einbrechen. Hierfür sehe ich vor dem Hintergrund der Nachfrage- und Angebotssituation noch kein Anzeichen. Geld ist liquide und Geld sucht nach Anlage. Will man die Entwicklung des Immobilienmarktes beurteilen, so darf man bei Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen, deren Auswirkung auf andere Anlageklassen nicht außer Acht lassen. So stellt sich die Frage, wie sich zum Beispiel eine allgemeine Zinsanhebung auf andere Anlageklassen auswirken würde. Das Volumen der Anleihemärkte rund um die Welt liegt bei etwa 150 Billionen US-Dollar. Das ist in etwa das Siebenfache des Bruttoinlandsproduktes der USA. Stiege der Zins um einen Prozentpunkt, so würde der Kurs einer zehnjährigen Festanleihe um rund zwölf Prozent fallen, bei einer dreißigjährigen Laufzeit betrüge der Verlust über 20 Prozent.

Die Folge wäre vermutlich eine enorme Kapitalverlagerung in "sicherere" Anlageklassen. Abgesehen davon ist meines Erachtens eine abrupte Zinsanhebung vor dem Hintergrund der Verschuldungsproblematik der europäischen Länder ohnehin eher unwahrscheinlich. Ein internationaler Konflikt könnte das Anlageverhalten von Investoren ebenfalls stark beeinflussen. Nachdem Deutschland nach wie vor als Hort der Stabilität in der Welt gesehen wird, würde ich in einer solchen Situation jedoch eher eine Zunahme von Immobilieninvestitionen sehen, da diversifizierte Mieterstrukturen einen risikodämpfenden Effekt auf die Ertragskraft der Immobilie ausüben.

Ist das Szenario "Soft Landing", sprich das Ausbleiben eines Markteinbruchs in Deutschland, realistisch?

In der Tat sehe ich eher eine stagnierende Entwicklung in der Preisentwicklung. Wenn Sie heute ein Mietangebot für eine Münchener Wohnung inserieren, erhalten Sie im Schnitt über 2 000 Anfragen. Sollten sich in ein paar Jahren nur noch 50 Interessenten melden, so sehe ich darin keinen Grund für einen Preiseinbruch am Mietmarkt. Meine Prognose für den hiesigen Immobilienmarkt 2019: Die Kombination aus hoher Nachfrage, geringem Angebot, guter Konjunktur und niedrigem Zins wird uns erst mal erhalten bleiben.

ZUR PERSON DR. MICHAEL BRANDL Geschäftsführer, KENSTONE GmbH, München
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