Carl Schmitt als Wiedergänger der bevorstehenden Europawahl

Michael Altenburg, Foto: Studio Ecker

Im Europawahlkampf erkennt der Autor bei den drei großen politischen Lagern das Denken von Carl Schmitt: Die Mitte denunziert das rechts- wie das linksextremistische Lager als Populisten und die Extremisten wollen den Status quo umstürzen. Seine Botschaft: Die drei Lager verkennen den globalen Charakter des wirtschaftlich-technologischen Wandels, dessen Herausforderungen nur durch internationale Verständigung zu bewältigen sind. (Red.)

Irgendwie läuft es nicht rund bei den bevorstehenden Europawahlen. Die Spitzenkandidaten für die Nachfolge von Jean-Clau­de Juncker als Präsident der Kommission sind europaweit nicht wirklich bekannt. Weshalb sollte man dann überhaupt wählen gehen?

Drei Hauptlager

Es konkurrieren im Wesentlichen drei Hauptlager:

1. Die Mitte, also Pro-EU-Politiker der Christdemokraten, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen, plädiert für ein grundsätzliches Weiter-so, korrigiert und beschleunigt allerdings durch energische Reformen in Richtung Innovationsförderung, Klimaschutz, mehr soziale Gerechtigkeit und konsequentere Dezentralisierung der Zuständigkeiten und Durchführungsverantwortungen. Für dieses Lager sagen die Meinungsumfragen Stimmenverluste voraus, vermutlich mit Ausnahme der Grünen.

2. Die EU-kritische Rechte, also etwa aus Deutschland die AfD, aus Frankreich der Rassemblement National (früher Front National) von Marine Le Pen, die italienische Lega Nord und die österreichische FPÖ, lehnt die gegenwärtige Governance der EU als bürokratisch-zentralistisch und undemokratisch ab und fordert eine weitestgehende Rückverlagerung nationaler Souveränität. Nationale Selbstbestimmung in der Geld- und Migrationspolitik stehen im Vordergrund.

3. Die EU-kritische Linke lehnt die gegenwärtige Governance der EU ebenfalls ab, aber mit einer betont antikapitalistischen Grundposition. Sie kämpft, pauschal gesprochen, gegen die Capture von Politik durch Lobbyisten und gegen deren Verfil­zung mit Big Business und dem globalen Finanzkapital und für mehr Mitbestimmung und ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Insgesamt sind natürlich alle drei Lager daran interessiert zu gewinnen, also zum Wahlgang zu motivieren. Dabei kann man Tendenzen im Lager der Mitte beobachten, die EU-kritische Rechte und die EU-kritische Linken zusammen in einen Topf zu werfen als Populisten. Viele Kandidaten aus Lager 2 möchten sich ins Europaparlament nur deshalb wählen lassen, um es endlich abzuschaffen, während im Lager 3 Überlegungen vorherrschen, die direktdemokratische Transparenz und Verantwortlichkeit sämtlicher EU-Institutionen im Wege einer Änderung der Gründungsverträge von Maastricht und Lissabon zu stärken.

Ob die niedrige Wahlbeteiligung von 42,6 Prozent bei den letzten Europawahlen von 2014 weiter unterschritten oder deutlich übertroffen werden wird, bleibt ungewiss. Ob das erste Lager gesteigerten Enthusiasmus entfachen kann, erscheint eher fraglich, während Abwanderungen älterer Wähler ins zweite Lager und jüngerer Wähler ins dritte Lager erwartet werden könnten. Da die Migrationsproblematik in letzter Zeit an Schärfe verloren hat und das Europaparlament, welches ohnehin nur eingeschränkte Befugnisse im Vergleich mit den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsländer genießt, auch kein Wählermagnet für Befürworter seiner Abschaffung sein dürfte, ist auch ein deutlicher Stimmenzuwachs im rechten EU-kritischen Lager eher un­sicher. Überraschungen sind am ehesten zu erwarten aus dem linken EU-kritischen Lager, in dem leidenschaftliche Anhänger eines radikaleren Klimaschutzes und der verbindlichen Einhaltung ethischer Grundsätze im Finanz- und Wirtschaftsbereich bereits während der letzten Monate einen beachtlichen Mobilisierungsgrad erreichen konnten.

Renaissance eines Gedankenguts

Angesichts anhaltender großer politischer Unsicherheit und des sich unabsehbar beschleunigenden technologischen Wandels, gepaart mit dem verbreiteten, zuweilen in Wut und Aggression umschlagenden politischen Vertrauensverlust zeichnet sich eine Rückkehr, eine Renaissance des Gedankenguts von Carl Schmitt nahe, also des 1985 verstorbenen, von seinen Kritikern als Kronjurist des Nationalsozialismus bezeichnet.

Der 1888 geborene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt war Zeuge des Scheiterns der Weimarer Republik, die er als schwächlich und entscheidungsunfähig wie den liberalen Parlamentarismus überhaupt ablehnte. Darin war er sich mit der Mehrheit deutsch-national gesinnter Kollegen seiner Zeit einig. Seine aus Ehrgeiz und/oder Opportunismus darüber hinaus versuchte Anbiederung bei der nationalsozialistischen Führung scheiterte indes an der Radikalität seiner Fragestellungen, die aber so gescheit waren, dass er bis heute als politischer Philosoph international rezipiert und fasziniert diskutiert wird, und zwar auch von denen, die seine Fragestellungen liberal rechtsstaatlich umgedeutet und beantwortet haben wie etwa auch der kürzlich verstorbene langjährige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde. Aber Carl Schmitt war und bleibt, was der deutsche Princeton Politologe Jan-Werner Müller in seinem Buch über Carl Schmitts Wirkung in Europa als „Ein gefährlicher Geist“ beschreibt.

Globalisierung als Hauptproblem

Kern der anhaltenden intellektuellen Sprengkraft ist Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ als einer Unterscheidung von Freund und Feind, wie er es erstmals 1927 in einem Aufsatz umschrieb.  Dabei geht es um Macht, Herrschaft, Entscheidung, und zwar lediglich um ihrer Durchsetzung, ihres Erfolges, ihres Sieges willen, völlig abstrakt von Gut und Böse im Moralischen oder von Schön und Hässlich im Ästhetischen. 

Demgegenüber kann sich der auf Verständigung, Ausgleich, Kompromiss angelegte permanente politische Diskurs, der das Selbstverständnis des liberalen Parlamentarismus ist, nur so lange halten, wie alle einigermaßen zufrieden sind. Wenn der Vertrauensfaden aber einmal gerissen ist, hilft auch zum Beispiel eine zweieinhalbstündige Presseerklärung des französischen Präsidenten im Anschluss an die Grand Débat über die Proteste der Gelbwesten nicht mehr, genauso wenig wie eine Beschimpfung und Ausgrenzung der Unzufriedenen als Populisten durch die politische Mitte. Da muss, wie es so schön auf Neudeutsch heißt, Action her, schnell, effizient und ohne weiteres Rumgezockel. Das ist das gegenwärtige Problem der politischen Mitte, die in großen Teilen sich dessen noch nicht einmal bewusst zu sein scheint.

Die Gefährlichkeit des Schmitt‘schen Wiedergängertums zeigt sich aber am schärfsten in den beiden Anti-EU-Establishment-Lagern, die an Unversöhnlichkeit und Feindseligkeit bisweilen perfekt in das politische Freund-Feind-Schema Carl Schmitts passen. Das reicht aber bestenfalls zur Zerstörung bestehender Strukturen wie etwa auch die noch immer nicht auszuschließende Eventualität eines harten No-Deal-Brexits. Aber es langt nicht für die nachhaltige Lösung der drängenden Probleme – erst recht nicht, wenn überzogene Lösungsansätze auch noch mit ethischem Wahrheitsanspruch auftreten.

Weite Strecken der jüngeren Nachhaltigkeitsdiskussion im Schlepptau der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der UN haben sich eine autoritäre, kompromisslose Selbstgerechtigkeit zu eigen gemacht. Ausstieg aus der fossilen Energie am liebsten vorgestern? Unterwerfung von Corporate Governance unter ein Moraldiktat der Giganten im Asset Management? Wie weit müssen Gewinnerzielung, Konsum, Wachstum, Arbeitsplätze zurückstehen? Die ewigen Zielkonflikte zwischen Kapital und Arbeit wie die komplexen Zusammenhänge von Klimaerwärmung und Begrenztheit der natürlichen Ressourcen machen nüchterne, sorgfältige Abstimmungen unverzichtbar. Die Beibehaltung eines auch gegenüber abweichenden Positionen respektvollen politischen Diskurses ist also auch den moralisch ambitionierten Reformern abzuverlangen.

Die bei allen drei Lagern klaffende Denklücke besteht letztlich in den Heraus­forderungen der Globalisierung. Die wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Rahmenbedingungen sind zunehmend interdependent, was zu Komplexitäten führt, die durch einseitige Zurückeroberung nationaler Souveränität weder ganz aufzulösen noch auch nur teilweise zu reduzieren sind. Da Politiker herkömmlich nur durch nationale Wähler legitimiert sind und nicht etwa durch Expertise in globalen Wirtschaftszusammenhängen, tut sich hier ein Kompetenz- und Governance-Defizit auf, das mit herkömmlichen Demokratiemodellen, die ebenfalls rein national verankert sind, nicht zu schließen ist.

Die liberale Herausforderung für Europa heute ist es – und auch das hat Carl Schmitt in seinen Visionen einer Weltordnung in kontinentalen Großräumen bereits vorgedacht, allerdings rein hegemonial –, gegenüber den Herausforderungen einer schwindenden Garantenrolle der USA als westlicher Führungsmacht einerseits und einem rücksichtslosen machtpolitischen Griff Chinas nach globaler Hegemonie, einen dritten Weg zu verteidigen und zu erhalten, in dem Freiheit, individuelle Selbstbestimmung und Würde den ihnen von jeher in allen Hochkulturen zukommenden hohen Rang wahren können durch ein System regelbasierter internationaler Abstimmung und Zusammenarbeit. Wenn Europa das nicht schafft, droht über kurz oder lang vielleicht nicht so sehr Brüsseler Bürokratismus oder konfuser Populismus, als eher ein international perfektes, anonymes Überwachungsregime durch digitale Giganten wie Google oder Baidu, die schon heute durch strategisches Datensammeln so viel und mehr wie die Regierungen, Verwaltungen und Geheimdienste wissen. Die stören dann doch nur und könnten abgeschafft werden. Das wäre dann wie eine Art späte Rache des Carl Schmitt.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
Noch keine Bewertungen vorhanden


X