Die EU und der Brexitprozess: Ist mehr Verständnis für die zerstrittenen Briten angebracht?

Michael Altenburg, Foto: Studio Ecker

Stand Ende Januar 2019 bleiben die Haltung der britischen Regierung und des dortigen Parlamentes zur Sicherstellung eines geregelten Brexit gleichermaßen verwirrend. Konsensfähig ist allein der Wille zur Vermeidung eines ungeordneten Austritts und es wäre demnach schon ein Fortschritt, wenn bis zum Erscheinen dieser ZfgK-Ausgabe wenigstens zeitlich eine gewisse Entspannung der Lage über das in nicht einmal zwei Monaten anstehende Austrittsdatum hinaus erreicht werden könnte. Der Autor hat nach der deutlichen Ablehnung des ausgehandelten Austrittsvertrages durch das britische Parlament gemischte Reaktionen aufgefangen. Sein Appell an die europäischen Staaten, sich beim Brexit und dem institutionellen Umbau Europas auf das politisch Machbare zu beschränken und flankierend dazu unverzüglich den institutionellen Umbau der EU voranzutreiben, lässt bei den höchst unterschiedlichen Interessenlagen derzeit einen eher kleinen gemeinsamen Nenner erwarten. (Red.)

Am Abend des 15. Januar 2019, unmittelbar nach der vernichtenden Abstimmungsniederlage des mit der EU ausgehandelten Brexit-Vertragsentwurfs im Unterhaus, lud Member of Parliament Jacob Rees-Moog, einer der Führer der konservativen Brexit-Hardliner, zu einer Party in sein Londoner Town House ein, um den Triumph über den von ihm und seinesgleichen bekämpften Deal von Premierministerin Theresa May mit Champagner zu feiern. Nur einen Tag später dagegen stellten sich sämtliche Tories wieder schützend vor die Premierministerin, die so ein Misstrauensvotum von Jeremy Corbyn abwehren konnte, bei dessen Erfolg sofortige Neuwahlen und mit ihnen ihr Verlust der Macht zugunsten Labour gedroht hätten.

Erschrecken in Großbritannien und Resteuropa

Dieses selbstzerstörerische Versagen der britischen parlamentarischen Demokratie, also ihr Unvermögen, innerhalb von zweieinhalb Jahren nach dem Referendum vom Juni 2016 einen praktikablen Kompromiss zu finden, der sowohl der knappen Brexit-Mehrheit wie der starken Remain-Minderheit Genüge getan hätte, erklärt das Erschrecken, das sich seitdem nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Resteuropa verbreitet. Wie konnte so etwas den doch sonst so pragmatischen, ergebnisorientierten Briten passieren?

Offenbar hat gerade die stolze Tradition britischer Souveränität und Demokratie dazu geführt, dass das Thema Brexit das Land in eine größere Anzahl feindlicher Lager gespalten hat, die jeweils nur den eigenen Lösungsansatz für richtig halten und jeden anderen für grundfalsch, undemokratisch, wenn nicht gar für einen Verrat am besten Langfristinteresse der britischen Nation.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages Norbert Röttgen und die Grünen-Abgeordnete Franziska Brantner initiierten gleichwohl umgehend, also schon zum 18. Januar, einen Leserbrief an The Times in London mit vielen weiteren Unterschriften - unter anderen auch der Parteivorsitzenden von CDU, SPD, Grünen sowie dem Präsidenten des BDI, dem Vorsitzenden des DGB und des Ratsvorsitzenden der EKD. Dieser Leserbrief geriet zu einer Botschaft uneingeschränkter, geradezu schwärmerischer Anglophilie, auch für den Fall, dass das Drama nicht mit dem von Deutschland so ersehnten "Remain" enden werde.1)

Der britische Journalist David Marsh nannte diesen Brief aus Deutschland im internationalen Frühschoppen beim Sender Phönix am 20. Januar "niedlich".2) Der Ausdruck war nicht abfällig gemeint, aber umschrieb die nüchterne Einsicht, dass das bittere innerbritische Zerwürfnis nicht durch eine vom Kontinent kommende Sympathiewelle geheilt werden kann - und dann auch noch aus Deutschland. Im Hintergrund schlummern ja nicht nur bei den Engländern, sondern auch bei Franzosen, Polen, Italienern, Griechen, eigentlich bei allen näheren und ferneren europäischen Nachbarländern Deutschlands unvergessene, gar nicht so alte Stereotypen vom Deutschen als rücksichtslosem, aggressivem Bully, welche die gastfreundlich weltoffene Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2006 noch längst nicht bleibend korrigieren konnte.

Komplexität des Abstimmungs- und Ratifizierungsprozesses

Aber wer spricht überhaupt bei einem Leserbrief wen an und welche Chancen bestehen, im beabsichtigten Sinne verstanden zu werden und vielleicht sogar Antwort zu erhalten?3) Es geht hier ja nicht um einen bloßen Sympathieaustausch, sondern letztlich um die konstruktive Lösung einer politisch verfahrenen Situation. Deren Komplexität rührt offensichtlich daher, dass ein mindestens zweitstufiger Abstimmungs- und Ratifizierungsprozess, nämlich einmal innerbritisch und dann zwischen Großbritannien und der EU, in Übereinstimmung gebracht werden muss, wie ihn der Harvard-Politologe Robert D. Putnam 1988 in einem noch immer relevanten Paper mit dem Titel "Diplomacy and Domestic Policies: The Logic of Two Level Games" beschrieben hat.4)

In dem Paper buchstabiert Putnam die möglichen wechselseitigen Verstrickungen und Chancen für Erfolg beziehungsweise Misserfolg aus. Aus der Logik zweistufiger Verhandlungen ergibt sich durchaus, dass ein schwacher, sehr enger innenpolitischer Manövrierspielraum auf der zweiten, der internationalen Ebene zu einer stärkeren Verhandlungsposition führen kann. In diese Logik passt zumindest scheinbar der großzügig wohlwollende Brief aus Deutschland an die Times. Aber die Regierung May verhandelt nicht mit den Unterzeichnern dieses Briefes, sondern mit dem Chef-Unterhändler der Kommission, Michel Barnier, dessen Zielsetzung bei den Verhandlungen der letzten beiden Jahre vorrangig die Abschreckung weiterer Exit-Kandidaten war.

Weder Barnier noch die um einen möglichst vorteilhaften Brexit bemühte englische Regierung haben anscheinend bislang im Ernst damit gerechnet, dass es am Ende zu dem vollkommen absurden Ergebnis eines No-deal-Brexit mangels Einigung kommen könnte. Die britische Volkswirtschaft ist schließlich die zweitgrößte in der EU nach Deutschland. Während 47 Jahren britischer Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaften haben sich nicht nur ein reger Handel, sondernd engste interdependente Finanz-, Service- und Produktionsbeziehungen entwickelt. Ein Crash der UK-Wirtschaft aus der EU wäre daher ein wirtschaftliches, regulatorisches und administratives Desaster nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die EU.

Zusätzlich ergibt sich im Fall eines ungeregelten Brexit das Risiko eines Wiederaufflammens der Spannungen zwischen dem überwiegend protestantischen britischen Teil Nordirlands und der überwiegend katholischen Republik Irland, die im Karfreitagsabkommen von 1998 durch eine offene Grenze zwischen den beiden EU-Mitgliedsländern weitgehend beigelegt werden konnten. Man hat auf britischer Seite die praktischen Konsequenzen eines No-deal-Brexit während der zweijährigen Verhandlungsphase - womöglich geblendet oder angewidert durch die Fantastereien der hard brexiteers - weitgehend ignoriert, verdrängt, geleugnet,5) steht nun aber angesichts der unversöhnlichen innerpolitischen Pattsituation vor der Möglichkeit eines Horrorszenarios.

Überkommene Vorstellungen von Souveränität und Identität

Die deutsche Bundesregierung hielt sich bislang weitgehend bedeckt. Man sei selbstverständlich kompromissbereit, aber wolle abwarten, welche Vorschläge dazu nun aus London kommen würden, wobei das Vertragspaket selbst eher nicht noch einmal aufgeschnürt werden könne. Noch trockener reagierte Chef-Unterhändler Michel Barnier in Brüssel, der Vertragsänderungen ausschloss, während der französische Premierminister Édouard Philippe bereits die Vorbereitungen für den Notfall eines No-deal-Brexit auslöste.

Sollte etwa die bislang recht unverantwortliche britische Verhandlungsstrategie nun zur Abwendung eines allseits noch größeren Schadens durch ein politisches Entgegenkommen der EU auch noch belohnt werden?

Realistischerweise müssten sich beide Seiten bewegen, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Überaus bemerkenswert ist allerdings, welche enormen politischen Anstrengungen unternommen werden müssen, um eine ökonomisch für alle Beteiligten doch so offensichtlich vorteilhaftere Lösung durchzusetzen. Einer solchen stehen noch überall in Europa, nicht nur in Großbritannien, überkommene Vorstellungen von Souveränität und Identität entgegen, an die sich die Menschen in einer Zeit des sich beschleunigenden Wandels um so leidenschaftlicher klammern.

Es braucht Glaubwürdigkeit, Konsistenz und Beharrlichkeit, und zwar über Jahrzehnte hinweg, um Prägungen von Misstrauen und Angst, um eingefleischte Stereotypen und Vorurteile zu überwinden. Das sind die unvermeidlichen Mühen der Ebene. Diese lassen sich weder im Wege bürokratisch oktroyierter Reformschübe noch populistischer Scharfmacherei abkürzen.

Aber genau das wäre eine sicher unbequeme, aber erfolgverheißende, wenn denn beharrlich verfolgte Strategie sowohl zum internen britischen Streit wie dem zukünftigen Verhältnis Europas zum UK. Die hegelianische Vision eines idealen gesamteuropäischen Staates sollte zugunsten eines wirtschaftlich dynamischen Bundes nach außen solidarisch zusammenstehender, gleichberechtigter, eigenverantwortlicher, zivilgesellschaftlich robuster, sozial- und umweltorientierter Mitgliedsstaaten zunächst eher vertagt werden, wozu zügig und zuversichtlich die entsprechenden institutionellen Umbauten in Angriff zu nehmen sind, ehe der schon jetzt weitgehend handlungsunfähige Koloss vollkommen gelähmt wird, erstickt oder kollabiert.

1) www.thetimes.co.uk

2)www.youtube.com

3)Hier die Antwort in der Sun vom 23. Januar 2019 www.thesun.co.uk/news

4)www.guillaumenicaise.com

5)So die Einschätzung von Sir Ivan Rogers, Ständiger Vertreter des UK bei der EU von 2013 bis 2017 in einem Vortrag am University College London vom 22. Januar 2019: www.ucl.ac.uk/european-institute/news/2019/

Michael Altenburg Luzern, Schweiz
Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
Noch keine Bewertungen vorhanden


X