Wirtschaftspolitik

Armes Deutschland?

Der renommierte Ökonom Joseph Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger, ehemaliger Chefvolkswirt der Weltbank und Professor an der Columbia University, ist einer der bekanntesten Vertreter des Neuen Keynesianismus (nicht des Neokeynesianismus). Vertreter dieser Theorie gehen davon aus, anders als ihr Vordenker John Meynard Keynes, dessen Visionen in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterten, dass es auch bei Rationalverhalten der Individuen zu Starrheiten kommen kann. Dies ist prinzipiell nur möglich, wenn vom Bild des vollkommenen Marktes abgerückt und von einer Vielzahl von Marktversagen ausgegangen wird. Der unvollkommene Wettbewerb, die neukeynesianische Lehre spricht von monopolistischer Konkurrenz, führt dazu, dass Preis- und Lohnstarrheiten erzeugt werden und sich beide Parameter dadurch nicht mehr flexibel an Veränderungen der ökonomischen Bedingungen anpassen können. Lohn- und Preisstarrheiten sowie andere Formen von Marktversagen können zur Folge haben, dass die Wirtschaft nicht automatisch Vollbeschäftigung erreicht. Daher argumentieren Neukeynesianer, dass die makroökonomische Stabilisierung mittels Fiskal- und Geldpolitik zu einem effizienteren makroökonomischen Ergebnis führen kann als das freie Spiel des Marktes. Die Geldpolitik steuert in ihren Augen nicht über die Geldmenge, sondern über den Zins und eine expansive Fiskalpolitik wird zur Wachstumsförderung eingesetzt.

Entsprechend können Vertreter dieser Schule mit typisch deutschen Tugenden nichts anfangen. Vor allem die ausgeprägte Austeritätspolitik passt nicht in ihre Welt. Joseph Stiglitz ist da keine Ausnahme. Schon 2016 behauptete er, die Sparpolitik sei gescheitert, gar eine absolute Katastrophe. Der Europäischen Union drohe einmal mehr die Stagnation, wenn nicht gar eine Triple-Dip-Rezession. Viele Länder wie Griechenland oder Spanien befänden sich in einer tiefen Depression. Und selbst in den Volkswirtschaften, die sich am besten entwickelt haben - wie etwa Deutschland -, ist das Wachstum seit der Krise von 2008 so gering, dass man es unter anderen Umständen als trostlos einstufen würde. Und mehr noch: Deutschland zwinge andere Länder zu einer Politik, die ihre Wirtschaft und ihre Demokratie schwäche, da die lange Rezession das Wachstumspotenzial Europas verringere, junge Menschen, die neue Fertigkeiten erwerben sollten, dies nicht tun und diese entsprechend ein deutlich niedrigeres Lebenseinkommen erwartet, als sie es gehabt hätten, wären sie in einer Phase der Vollbeschäftigung aufgewachsen. Stiglitz forderte ein Umdenken und berief sich dabei auf das Haavelmo-Theorem, das besagt, dass die gleichzeitige Erhöhung der Steuern und der Staatsausgaben die Wirtschaft ankurbele. Wenn dabei zielgerichtet die Reichen besteuert würden und die Ausgaben sich an die Armen richten, sei der Effekt besonders hoch. Eine Fehlinterpretation, wie wir heute wissen - bis Corona hat sich die Wirtschaft im Euroraum längst erholt.

Nun versucht Joseph Stiglitz es erneut. Mitten in den Koalitionsverhandlungen erneuert er gemeinsam mit dem britischen Ökonomen Adam Tooze seine Forderungen nach einer Kehrtwende in der deutschen und europäischen Finanzpolitik. Eine unangemessene und zum falschen Zeitpunkt durchgesetzte Haushaltsdisziplin, die ein Minderheitsbündnis von Nordstaaten einer Mehrheit der europäischen Wählerschaft zwangsverordnet, sei die größte Gefahr für Europas Demokratie, schreiben die beiden in einer großen deutschen Zeitung. Die vorgebrachten Argumente sind nicht neu. Neu ist, dass sich ein US-amerikanischer und ein britischer Ökonom in die deutsche Politik einmischen und gezielt Personen diskreditieren. Sie warnen in besagtem Artikel nämlich davor, Christian Lindner in das Finanzministerium einziehen zu lassen. Seine finanzpolitische Agenda sei "vorsintflutlich", gar aus einem vergangenen Jahrhundert.

Das ist nicht nur unerhört. Das ist auch falsch. Die Entwicklungen in Europa der vergangenen Jahre zeigen, dass viele Schulden nicht automatisch für hohes Wachstum stehen. Europa braucht einen deutschen Finanzminister, der einen Gegenpol zu den lauter werdenden Rufern nach einer Aufweichung des Vertrags von Maastricht darstellt. Die Welt, nicht nur Deutschland, muss bei den Staatsaufgaben die richtigen Prioritäten setzen, statt sie nur immer weiter auszudehnen. Künftige Generationen sind mit dem Klimawandel schon herausgefordert genug. Man sollte ihnen nicht auch noch einen zu großen Berg von Schulden hinterlassen.

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