Europäische Zentralbank

Zu wenig Überraschungsmomente

Dass die Reaktion der Finanzmärkte auf die geldpolitischen Entscheidungen der Notenbanken stark von Erwartungen getrieben wird, ist gewiss keine neue Erkenntnis. Doch der Umgang mit den Wirkungen unerwarteter Beschlüsse ist gänzlich anders geworden. Vor nicht einmal einer Generation hat man es noch als Ausdruck der Unabhängigkeit und einer klaren geldpolitischen Orientierung der Deutschen Bundesbank werten dürfen, wenn deren Zinsentscheidungen und sonstige Maßnahmen die Märkte wenigstens ab und zu einmal kräftig überrascht haben. Im Zeichen der heute von vielen Notenbanken gepflegten Forward Guidance müssen sich die Notenbanker dem vorhersehbaren Medienecho nach bei jedem öffentlichen Auftritt gleich in der Defensive fühlen, wenn ihre geldpolitischen Maßnahmen auffällige Volatilitäten an den Märkten auslösen. Einen so markanten Überraschungseffekt wie die Aufgabe des Mindestkurses des Franken durch die Schweizerische Nationalbank vor einem knappen Jahr hat es unter den wichtigen westlichen Notenbanken denn auch lange nicht mehr gegeben. Allenfalls die chinesische Zentralbank sorgt unter den ansonsten wichtigen Akteuren zuweilen für ein wenig schwerer kalkulierbare Maßnahmen. Gleichwohl wird auch ihr von vielen Zentralbankern und Beobachtern in der Ausschöpfung wie auch in der Dosierung ihres Instrumentariums ein verantwortungsvoller Umgang bescheinigt.

Angesichts der engen Wechselwirkungen zwischen der internationalen Notenbankpolitik und den globalen Märkten sind freilich gerade die Notenbanker in den offenen demokratischen Gesellschaften in einem nur noch schwer zumutbaren Transparenz- und Erklärungszwang. Ob es wirklich der Qualität der europäischen Geldpolitik dienlich ist, wenn demnächst rückwirkend die Terminkalender der EZB-Direktoriumsmitglieder veröffentlicht werden? Muss es außerhalb der "quiet periods" von den Notenbankern Erklärungen für jede unerwartete Marktreaktion geben? Wie nervös die Märkte inzwischen reagieren, wenn vonseiten der Notenbanken nicht genau das beschlossen wird, was längst eingepreist ist, musste beispielsweise die Fed er leben, als sie - wohl auch ein wenig mit Blick auf den Kursrutsch der chinesischen Aktienwerte im Sommer 2015 - nicht schon im September vergangenen Jahres die allgemein erwartete Zinswende einläutete, sondern diese auf Mitte Dezember verschob.

Auch das Luxemburger EZB-Direktoriumsmitglied Yves Mersch sah sich in der zweiten Dezemberwoche vergangenen Jahres vor dem Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten in der Verteidigungsrolle und musste erklären, wieso die Frankfurter Notenbank trotz einer weiteren Senkung des Einlagenzinses und der Verlängerung des Anleiheankaufsprogramms weniger geliefert hatte, als es an den Märkten erwartet worden war. Dass er und seine Kollegen im EZB-Direktorium sich durch den "Aufbau von exzessiven Erwartungen" an den Märkten offenbar veranlasst fühlten, "die Integrität der Institution zu wahren" und sich keine öffentlich diskutierten Maßnahmen in die Agenda schreiben zu lassen, die nun wirklich "nicht ernsthaft zur Diskussion standen", erinnert schon ein wenig an bekannte Verhaltensmuster aus Bundesbankzeiten. Allerdings verleiht der Einsatz der vielen neuen Kommunikationsmöglichkeiten auch der Verbreitung von Gerüchten eine neue Qualität.

Der aktuellen Wahrnehmung nach war die Geldpolitik früherer Zeiten bei allem Richtungsstreit zwischen den Anhängern der beiden großen wissenschaftlichen Lager irgendwie von klareren Vorstellungen geprägt. Heute mag man die unkonventionellen Maßnahmen der Geldpolitik für richtig oder ihr Auslaufen für dringlich geboten halten. Man mag der Geldpolitik auch zugutehalten, dass sie sich mit ihren Maßnahmen zu Zeiten der akuten Finanzkrise in Gefilde vorwagen musste, aus denen der geordnete Exit einfach noch nicht erprobt ist. Und man kann in einer globalen Welt mit ihren ungeheuerlich großen Finanzströmen die Wechselwirkungen und die gegenseitigen Ansteckungsgefahren nicht mit der vergleichsweise heilen Welt der Vorgängergeneration der Notenbanker vergleichen. Aber irgendwie bleibt der Eindruck, als werde die Notenbankpolitik zu sehr von den Märkten getrieben und hätte ihre Lenkungsfunktion auf die Märkte verloren.

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