Europäische Union

Zwei Geschwindigkeiten?

Das positive Brexit-Votum in Großbritannien hat eine seltsame Situation geschaffen. Zwar waren die entsprechenden Szenarien im Vorfeld aufgezeigt und durchgespielt worden (siehe ZfgK 9-2016), doch so richtig mit diesem Ergebnis gerechnet hatten offenbar nur wenige. Im Vorfeld der Abstimmung nicht für die wahrscheinlichste Variante gehalten, aber angesichts einer "Eigendynamik von Referenden dieser Art" zumindest auch nicht ganz ausgeschlossen, hatte Achim Wambach die jetzige Lage. Deren Folgen im komplexen Zusammenspiel der globalen Finanzmarktreaktionen mit der nationalen Politik in Großbritannien und den EU-Mitgliedsstaaten sowie den europäischen Instanzen umfassend einzuschätzen, vermag aber auch der seit 1. April amtierende Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) nicht. Immerhin konnte er sich bei einer ersten Analyse vor dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten in seinem Ausblick auf viele Argumentationsmuster stützen, die er schon vor der Entscheidung öffentlich vorgetragen hatte.

Ähnlich wie bei vielen Kollegen aus der Wissenschaft lautet die Grundbotschaft seiner Empfehlungen an die EU-Verantwortlichen, in den wann immer anstehenden Austrittsverhandlungen nicht zu Strafaktionen gegen Großbritannien zu neigen, sondern möglichst viel von den Errungenschaften und Freiheiten des Binnenmarktes beim Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu bewahren. Das Beispiel Norwegen bringt er dabei zwar als wünschenswerte Verhandlungsgrundlage ins Spiel, wertet es aber aus Sicht der Brexit-Anhänger als höchst berechtigte Frage, inwieweit es dem Geist des Abstimmungsergebnisses entsprechen würde, viele der Pflichten, einschließlich (ermäßigter) Beiträge und der geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit beibehalten zu müssen, aber auf die Mitwirkung bei Entscheidungsprozessen zu verzichten. Keine gute Idee wäre es aber andererseits auch, den Briten unter Beibehaltung aller Privilegien Zugeständnisse zu machen, die sie besserstellen als unter ihrer Vollmitgliedschaft oder als die anderen assoziierten Mitglieder. In diesem Dilemma reift die Einsicht, dass eine Abspaltung von 13 Prozent der Bevölkerung und rund 17 Prozent der Wirtschaftskraft aus der EU (siehe auch Zfgk 13-2016 Leitartikel) rein von den Volumina her für beide Seiten nicht einfach so spurlos zu verkraften sein wird.

Um die Folgewirkungen des Brexit möglichst einzudämmen, legt Achim Wambach den EU-Instanzen - wie schon im Vorfeld des britischen Votums angemahnt - nun erst recht einen Ausbau der Politikfelder nahe, in denen die EU gegenüber nationaler Bereitstellung einen echten Mehrwert für alle Mitglieder bietet. Vor allen Dingen soll es auch darum gehen, die Vorteile einer Mitgliedschaft aufzuzeigen und offensiv zu kommunizieren. Konkret kann er sich dabei bei wichtigen Vorhaben auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten vorstellen, das der Tendenz nach besseren Lösungen zum Durchbruch verhilft und weniger gute Ideen im Praxiseinsatz zum Scheitern bringt. Der große Vorteil eines solchen Verfahrens ist dabei die notwendige Einbeziehung der nationalen Parlamente. Wenn sich eine Regierung eines Landes in einem System der zwei Geschwindigkeiten an gemeinsamen EU-Vorhaben beteiligen oder sie nicht umsetzen will, muss sie die detaillierte Begründung in das nationale Parlament tragen und diese Position dort durchsetzen. Allein dieses Verfahren wirkt dem nicht nur bei vielen Bürgern Großbritanniens, sondern auch in vielen anderen Ländern verbreiteten Eindruck entgegen, Brüsseler Entscheidungen ohne eigenen Einfluss einfach ausgesetzt zu sein. Nach heutiger Einschätzung der Lage dürfte es jedenfalls politisch bei Weitem leichter durchsetzbar sein, als in der EU neue Instanzen bis hin zu einer echten europäischen Regierung zu installieren, wie es einigen EU-Verantwortlichen vorschwebt.

Übrigens: In seiner zusätzlichen Funktion als designierter Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik (Amtswechsel im kommenden Jahr) will Achim Wambach darauf hinwirken, die Mechanismen und Instrumente für volkswirtschaftliche Entscheidungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglicher zu machen als bisher. Um das Projekt Europa zu fördern, wäre es dabei vielleicht sinnvoll, in einigen anderen Ländern Dependancen des Vereins zu gründen beziehungsweise Partnerorganisationen zu gewinnen, die an der gleichen Zielsetzung arbeiten.

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