Redaktionsgespräch mit Nick Jue

"Wir wissen genau, wohin wir wollen."

Nick Jue Foto: ING-DiBa

Seit dem 1. Juli 2017 ist Nick Jue als Vorstandsvorsitzender der ING-DiBa in Deutschland angekommen und hat sich nach eigenen Angaben schon gut eingelebt in der deutschen Bankenwelt. Im Redaktionsgespräch spricht er über seine Einschätzungen dem deutschen Bankenmarkt gegenüber und seine Aufgaben als neues BdB-Vorstandsmitglied. Auch die Entwicklung der ING-DiBa zwischen etablierter Großbank und agilem Fintech ist ein wichtiges Thema für ihn. Dazu wünscht er sich vom Regulator noch etwas Entgegenkommen, denn derzeit gebe es in Deutschland noch zu viele Gesetze und Vorschriften, die den Weg der Digitalisierung erheblich erschweren. Für die nähere Zukunft will Jue die Transformation seines Hauses in eine agile Organisation mit flacheren Hierarchien, weniger Management und schnelleren Prozessen im Sommer nächsten Jahres abgeschlossen haben. Den Blick auf die weitere Zukunft richtend, möchte er die ING in den nächsten Jahren auch in der IT-Branche als guten Arbeitgeber positionieren. (Red.)

Nick Jue, nach rund einem Monat bei der ING-Diba waren Sie im Sommer 2017 schon so mutig, sich dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten zu stellen. Wie sind Sie nach gut einem Jahr in Deutschland und in Ihrer Bank angekommen?

Bei meinem ersten Auftritt vor der Presse war ich schon ein wenig unruhig. Ich wusste nicht, wie gut mein Deutsch funktioniert und welche speziellen Fragen zur ING-Diba kommen würden. Die ING-Gruppe kenne ich schon seit rund 25 Jahren, aber in der ING-Diba war damals noch vieles neu und ich war noch nicht mit allen Einzelheiten vertraut. Heute, nach gut einem Jahr, wird es mit der Sprache immer besser. Und das eigene Haus verstehe ich inzwischen bis in die Einzelheiten hinein.

Was haben Sie in dieser Zeit strategisch unternommen?

Wir haben die ohnehin gut funktionierende Bank noch fitter gemacht, um mit dem Marktumfeld in der Niedrigzinsphase zurechtzukommen. Dafür wurde eine klare Strategie mit zwei wesentlichen Zielen entwickelt: Erstens wollen wir eine der führenden Universalbanken in Deutschland werden, zweitens wollen wir weiterhin der Digital Leader sein. Um beides zu erreichen, müssen wir hart arbeiten. Aber wir wissen genau, wohin wir wollen und haben entsprechende Maßnahmen teilweise schon implementiert. Eigentlich müsste ich mit der Art und mit der Geschwindigkeit, mit der wir das umsetzen, zufrieden sein. Aber es liegt in meiner Natur, die Geschwindigkeit immer noch ein wenig erhöhen zu wollen.

Was haben Sie über den deutschen Bankenmarkt gelernt?

Auch den deutschen Markt verstehe ich mittlerweile deutlich besser. Für viele Niederländer besteht er aus der Commerzbank und der Deutschen Bank. Als Nummer drei wäre man damit schon sehr groß. Die Bedeutung des Genossenschafts- und Sparkassensektors in Deutschland können viele in meinem Heimatland gar nicht abschätzen. Sie wissen nicht, dass die beiden Verbundgruppen zusammen hierzulande in den meisten Geschäftsfeldern einen Marktanteil von weit über 50 Prozent haben und die zwei genannten Großbanken einschließlich der ING-Diba zusammen auf einen Marktanteil von höchstens 20 Prozent kommen. Den deutschen Bankenmarkt in seinen Feinheiten zu erkennen, hat auch bei mir ein wenig Zeit gebraucht, aber inzwischen bin ich mit den Marktverhältnissen gut vertraut. Ich bin gut angekommen und arbeite in einigen Gremien mit, beim BdB beispielsweise im Vorstand.

Engere Bekanntschaft mit dem Genossenschaftssektor konnten Sie in diesem Jahr ja bei der Bankwirtschaftlichen Tagung machen, bei der nicht einmal die Presse zugelassen ist ...

Das stimmt. Ich habe erst später gelesen, dass ich bei einem Familientreffen dabei war. Dabei habe ich die Einladung als Kompliment aufgefasst, denn die Genossenschaftsbanken sind ein wichtiger Wettbewerbsfaktor am deutschen Markt und damit auch für die ING-Diba. Besonders schön habe ich bei dieser Veranstaltung den offenen Umgang miteinander empfunden. Nach meiner Rede durfte ich den gesamten Vormittag der Veranstaltung beiwohnen, durfte die Diskussion verfolgen und habe auch offen darüber gesprochen, was wir machen.

Was haben sie von der Tagung mitgenommen?

Es ist wie bei anderen Veranstaltungen an vielen Stellen klar geworden, dass das Bankgeschäft künftig ein Plattformgeschäft sein wird. Andere Banken denken auch in diese Richtung. Der Unterschied wird darin liegen, wie schnell und wie gut wir unsere Ideen umsetzen. Wie schnell sind wir in der Digitalisierung? Wie schnell bieten wir die richtigen Plattformen an? Die ING-Diba ist an dieser Stelle gut aufgestellt. Aber es gibt eine Reihe von Wettbewerbern, die ebenfalls in diese Richtung voranschreiten und viel Geld investieren. Es wird immer von der Konsolidierung im deutschen Markt geredet. Vieles davon findet längst innerhalb der Genossenschaftsorganisation und dem Sparkassensektor statt. Meine bisherigen Kontakte in diese Organisationen hinein verstärken meine Überzeugung, dass wir mit der Digitalisierung noch schneller voranschreiten müssen.

Wie erleben Sie als relativ neues BdB-Vorstandsmitglied das Verhältnis der privaten Banken zu dem Genossenschaftssektor und der Sparkassenorganisation? Sind die Fronten verhärtet?

Die Vergangenheit kann ich nicht beurteilen. Aber in meiner Zeit in Deutschland wird viel miteinander über anstehende Sachfragen geredet. Das finde ich sehr gut. Wir pflegen einen unverkrampften Umgang als Wettbewerber. Die Atmosphäre ist freundlich und keinesfalls feindlich. Sollte das früher einmal so gewesen sein, dann habe ich das in meiner Zeit hier in Deutschland nicht erlebt.

Wagen Sie mal einen Blick voraus: Wie werden der deutsche und der europäische Bankenmarkt in einigen Jahren aussehen. Erwarten Sie mittelfristig einen einheitlicheren europäischen Bankenmarkt?

Im BdB und bei den Kontakten mit den Kollegen aus anderen Bankengruppen geht es derzeit meist um nationale Themen. Aber wir richten den Blick schon gelegentlich auf internationale und europäische Aspekte. Aus meiner Sicht ist das der einzige Weg nach vorn.

Erleben Sie unter europäischen Bankern kein Klima der nationalen Abschottung? Vor zwanzig Jahren durfte man eine viel schnellere Entwicklung zum europäischen Markt erwarten.

Die Offenheit für europäische Lösungen ist in vielen Ländern gewachsen, auch wenn es nach wie vor nationale Interessen gibt. Ich selbst erwarte noch in meiner aktiven Zeit mit Blick auf die kommenden zehn bis 15 Jahre Entwicklungen in Richtung eines europäischen Marktes.

Speziell zu Ihrer Funktion im BdB-Vorstand: Sind Sie dort Vertreter der Auslandsbanken?

Die ING-Diba wird in der Bundesbankstatistik nicht den Auslandsbanken, sondern den Regionalbanken zugeordnet, insofern vertrete ich im BdB diese Bankengruppe. Das klingt auf den ersten Blick für mich ein wenig irritierend, aber diese Zuordnung hängt nicht zuletzt von der Zahl der Filialen und weniger von Bilanzsumme und Kundenzahl ab.

Haben Sie mit Blick auf die Rahmenbedingungen für Ihr Haus oder den Markt insgesamt Anliegen, was sich ändern müsste?

Es müssen regulatorische Bedingungen geschaffen werden, die die Digitalisierung des Bankensektors und die Schaffung von Plattformen ermöglichen. Derzeit gibt es in Deutschland noch zu viele Gesetze und Vorschriften, die den Weg der Digitalisierung erheblich erschweren. Einfaches Beispiel: Die digitale Aufnahme eines Kredits scheiterte bisher oft an der Zulässigkeit der digitalen Unterschrift. Wenn das Bankgeschäft wirklich digital werden soll, müssen viele solcher Hindernisse schneller als bisher beseitigt werden. Wir sollten uns mit der Deutschen Kreditwirtschaft gemeinsam dafür einsetzen, diese Barrieren abzubauen. Das wird von meinen Kollegen im BdB ganz genauso gesehen. Der Handlungsbedarf reicht vom Ausbau digitaler Netzwerke über die Interpretation und Umsetzung der europäischen Regeln in Deutschland bis hin zu den angesprochenen Erleichterungen im Tagesgeschäft wie der digitalen Unterschrift. All das ist mit der Politik und den Aufsichtsorganen zu besprechen.

Nun zum Geschäft der ING-Diba: Wie ist das erste Halbjahr 2018 verlaufen?

Zufriedenstellend. Das gilt vor allem für 230 000 neue und damit insgesamt 2,3 Millionen Girokonten. Sehr gut gelaufen ist das Wachstum im Wholesale-Banking. Der Kreditbestand hat um 3,7 Milliarden Euro zugenommen. Ebenfalls höchst erfreulich ist die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Scalable Capital. Seit Beginn der Partnerschaft im September 2017 haben unsere Kunden knapp 600 Millionen Euro neu in die Aktivitäten unseres Robo Advisors investiert, obwohl die Börse seit Februar doch relativ stark schwankt.

Ganz besonders am Herzen liegen mir die Fortschritte im Bereich der Agilität, schließlich haben wir das Ziel ausgerufen, die erste agile Bank in Deutschland zu sein.

Wie läuft der Umsetzungsprozess zur agilen Bank? Welches Stadium hat Ihr Haus erreicht?

Die erste Stufe des Umsetzungsprozesses betraf die Einheit Delivery, also in erster Linie das Produktmanagement, den Marketingbereich, das Vertriebsmanagement und die IT. Es ist ganz wichtig, dass all diese Mitarbeiter eng in Teams zusammenarbeiten. Das alles haben wir am 1. August umgesetzt. Wir arbeiten jetzt in sogenannten Tribes, Squads und Chapters. Jeder Mitarbeiter ordnet sich jetzt diesen Bereichen zu. Und soweit ich dies meinen Gesprächen entnehme, fühlen sich die allermeisten sehr wohl in ihren neuen Aufgaben. Bisher funktioniert alles sehr gut.

Jetzt reden wir konkret über Services, also den operativen Bereich einschließlich der Kundenkontakte. Dort geht es maßgeblich um die Selbststeuerung der Teams mit möglichst wenigen Schnittstellen. In den betroffenen Bereichen hoffen wir bis Ende Oktober die Blaupause entwickelt zu haben. Ziel ist die Implementierung bis Ende März kommenden Jahres.

Dann gibt es als dritte Stufe die Support-Funktionen. Diese müssen genau auf die neue agile Organisation abgestimmt werden. Wie genau werde ich bis Ende des Jahres wissen. Im Sommer 2019 wird auch das fertig implementiert sein. Dann kennt jeder Mitarbeiter seine Rolle.

Agilität steht auch bei vielen anderen Instituten auf der Agenda: Wie unterscheidet sich Ihr Konzept von dem anderer Banken?

In der Tat streben viele Institute nach Agilität, es ist zum Modewort geworden. Richtig umgesetzt ist es erst, wenn die gesamte Organisation agil arbeitet. Dazu gehört auch die vollständige Integration von Geschäft und IT mit dem Abbau von vielen bisherigen Schnittstellen und der deutlichen Erhöhung der Eigenverantwortung. Das sind die entscheidenden Merkmale. Wir wollen das bis Sommer kommenden Jahres in allen Bereichen umgesetzt haben.

Mit den IT-Mitarbeitern mitten drin in allen Facetten des Bankgeschäftes ...

Genau, das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Die Trennung der übrigen Bank von der IT wird beseitigt, die IT ist in die Entwicklung von Produkten und Prozessen eingebunden und bestimmt sie maßgeblich mit. Früher hat auch in unserem Haus der Produktmanager für Investmentprodukte isoliert oder vielleicht mit dem Marketing und dem Vertriebsmanager darüber nachgedacht, wie er sein Produkt baut, hat sich dann mit der IT in Verbindung gesetzt und dort prüfen lassen, ob und wann das Produkt umgesetzt werden kann. Das hat oft viele weitere Monate gedauert.

Heute sind die IT-Fachleute und mitunter auch die Spezialisten für das Thema Künstliche Intelligenz von Anfang in das Team eingebunden. So weiß man sehr viel schneller, ob ein Produkt funktionieren kann. Denn bei dieser Art der Teamarbeit werden mögliche Schwierigkeiten bei der Programmierung, bei der Kundenansprache, beim Vertrieb oder der Einhaltung von regulatorischen Vorschriften schon im Entstehungsprozess ganzheitlich betrachtet und wenn möglich vermieden.

Wesentliches Ziel ist also die Geschwindigkeit?

Richtig. Geschwindigkeit ist enorm wichtig und wird im Bankgeschäft in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Banken können sich bei der Umsetzung einer Idee für den Markt kein Jahr mehr Zeit lassen. Allerdings kann dieses Vorgehen auch zu dem Ergebnis führen, dass ein Projekt nach zwei Wochen wieder gestoppt wird, wenn im Team die Erkenntnis gewonnen wird, dass etwas nicht funktionieren wird. Das ist völlig akzeptabel und überhaupt kein Problem. Allerdings müssen sich die Mitarbeiter erst noch daran gewöhnen, mit einer Idee zu scheitern. Denn die Akzeptanz des Scheiterns bestimmter Projekte ist in der Kultur vieler deutscher Unternehmen nicht verankert. Auch eine ING-Diba ist noch nicht am Ziel. Aber wir arbeiten daran, diese andere Einstellung bei unseren Mitarbeitern zu verankern. Das ist ein ganz normaler Bestandteil der agilen Arbeit, auch wenn wir möglichst viele Projekte zu einem Erfolg führen wollen. Mir persönlich ist ein Scheitern eines Projektes nach vier bis sechs Wochen lieber, als es über eineinhalb Jahre mit vielen Investitionen irgendwie retten zu wollen. Die frühzeitige Beendigung von Projekten ist da wesentlich günstiger.

Für Beobachter, die in solchen agilen Systemen nicht selbst gearbeitet haben, ist eine Beurteilung der Erfolgsaussichten einer solch neuen Organisationsform ziemlich schwierig: Welche Resonanz hören Sie von Ihren IT-Leuten, fühlen diese sich nun endlich in der Bank angekommen?

Auf jeden Fall spüren unsere IT-Mitarbeiter nun sehr viel unmittelbarer, wie sehr wir ihren Sachverstand brauchen und erleben ganz konkret, wie sich mit dem Wandel im Bankgeschäft auch die Technik weiterentwickeln muss und möglicherweise ganz neue Kenntnisse erforderlich werden. Das Schöne daran ist, nicht nur für einen Kunden zu arbeiten, wie das heute in der IT-Branche oft üblich ist, sondern konkret an einem Produkt und den ganzen zugehörigen Prozessen.

Wenn wir in fünf Jahren mehr ein IT-Unternehmen als eine Bank sein werden, dann möchte ich gerne sehr viele kompetente IT-Mitarbeiter haben. Derzeit arbeiten in unserem Haus wie in anderen Instituten viele externe IT-Spezialisten. In Zukunft möchte ich diese Fachleute gerne im eigenen Haus haben. Die ING-Diba muss sich auch in der IT-Branche als Arbeitgeber Nummer eins positionieren. In den Niederlanden ist die ING Group übrigens schon so weit. Sie gilt unter IT-Spezialisten als hoch attraktiver Arbeitgeber.

Hier in Frankfurt ist Ihr Haus mit einer Plakataktion eifrig dabei, Mitarbeiter von Fintech-Unternehmen anzuwerben. Ist das schon Ausdruck dieses Anspruchs?

Ja. Auf diesen Plakaten steht ein Mitarbeiter, der links einen Nadelstreifenanzug und rechts das typische Outfit eines Fintech-Mitarbeiters trägt, den Hoodie. Die Botschaft dahinter ist: Bei der ING-Diba kann man beides gleichzeitig haben, die Universalbank und das Fintech.

Und wie nehmen die Mitarbeiter bis hin zu den Führungskräften die Umstellung auf die agile Arbeitsweise an?

Wenn Arbeitsweisen grundlegend umgestellt und alte Gewohnheiten verändert werden, führt das immer zu ein wenig Unruhe. Das ist ganz normal und das gilt auch für unser Haus. Wenn nach fünf erfolgreichen Jahren ständiger Rekordergebnisse die Arbeitsprozesse sich so deutlich verändern, muss das erklärt werden. Das machen wir auch mit sehr vielen und zielgerichteten Kommunikations- und Dialogformaten für unsere Mitarbeiter. Ich binde mich an dieser Stelle auch persönlich mit ein. Im Format "After work with Nick" können mich Mitarbeiter einmal monatlich für jeweils eineinhalb Stunden zu allen Anliegen unseres Hauses befragen.

Kürzlich wurde ich bei einer solchen Sitzung gefragt, was denn meine Medizin sei, die Verunsicherung der Mitarbeiter nach so vielen Veränderungen zu beheben. Eine spezielle Medizin habe ich natürlich nicht. Aber ich versuche einfach, die Mitarbeiter abzuholen und auf den Weg mitzunehmen. Das funktioniert. Man muss auf die jeweilige Situation bezogen erklären, warum diese oder jene Maßnahmen durchgeführt werden. Und neben dem "Warum" muss dann auch genau erklärt werden, was gemacht und wie es gemacht wird. Diese Kommunikation ist in solchen Phasen des Umbruchs extrem wichtig.

Dann kommt noch der Zeitaspekt hinzu. Solch umfangreiche Veränderungsprozesse müssen möglichst schnell umgesetzt werden, um die Dauer der Verunsicherung möglichst kurz zu halten. Wir haben im August mit der Umstellung begonnen und sind im Sommer kommenden Jahres fertig. Dann herrscht Klarheit: Jeder weiß genau, was passiert und jeder kennt seine Aufgaben.

Wie sieht es mit den Hierarchiestufen aus, brauchen Sie künftig viel weniger davon?

Ja. Wir verzichten bewusst auf viele Hierarchiestufen und finden damit vor allem bei den talentierten jungen Mitarbeitern großen Zuspruch. Jeder einzelne ist näher am Management als früher. Das wird sich insbesondere bei der Umsetzung der zweiten Stufe zeigen, weil die neue Arbeitsweise die Selbstverantwortung und den Freiheitsgrad jedes einzelnen Mitarbeiters steigert. Das werden die Mitarbeiter lieben. Bei der laufenden Umstellung registrieren wir noch eine gewisse Verunsicherung von Führungskräften. Diese müssen vom Aufgabenverteiler zum Coach für die Entwicklung der Mitarbeiter werden. Aber ich spüre eine große Flexibilität und Bereitschaft, die Veränderungen positiv aufzunehmen.

Geht Agilität zu Lasten der Effizienz?

Ein klares Nein. Das ist ein typisches Missverständnis. Viele Leute verbinden Agilität mit Chaos, nach dem Motto, jeder macht, was er will. Das sehe ich völlig anders und halte die Disziplin in einer agilen Organisation für stärker als in einer hierarchischen Organisation. In Letzterer, das hat man auch in den Niederlanden gesehen, gibt es sehr viele Schnittstellen, die herausgenommen werden können. Das fördert enorm die Effizienz, verlangt aber auch viel Disziplin.

Agiles Arbeiten erfordert Flexibilität. Stößt man damit nicht an Grenzen der Arbeitszeitregelungen und Tarifverträge?

In der Tat hatte ich anfangs große Befürchtungen dieser Art. Aber es ist viel weniger problematisch als erwartet. Wir verhandeln praktisch alles mit unserem Betriebsrat, von der Neuorganisation über die agile Arbeitsweise bis hin zu einem Sozialplan. Alles ist bisher in sehr kooperativer Art und Weise gelungen. Auch dabei muss natürlich alles genau erklärt werden, beispielsweise warum wir unsere Cost Income Ratio von 45 Prozent immer noch für zu hoch halten. Ich bin überzeugt, in spätestens fünf Jahren werden auch die deutschen Kunden nicht mehr für die Ineffizienz ihrer Banken bezahlen.

Welche Ziele haben Sie für die Cost Income Ratio?

45 Prozent sind sehr gut, aber immer noch eindeutig zu hoch. Wir werden weiter nach Wegen suchen, die Cost Income Ratio zu senken. Das geht auch ohne grundlegende Änderungen und Umstrukturierungen. Jeder Prozess lässt sich weiter optimieren, beispielsweise die schon angesprochene elektronische Unterschrift. Das würde die Effizienz enorm steigern. Mein Bestreben bleibt es, möglichst wenig Gebühren von den Kunden zu erheben, erst recht bei Dienstleistungen, die heute noch kostenfrei sind. Banken können nur Gebühren erklären, wenn sie dafür einen Mehrwert liefern.

Sie erheben doch auch bei der ING-Diba Gebühren ...

Ja, wir differenzieren über den Preis, bieten aber wenn möglich auch immer eine kostenlose Variante an. Über eine App beispielsweise können unsere Leistungen günstiger angeboten werden als über Telefonbanking. Wenn der Kunde es aber explizit wünscht, muss er dafür bezahlen. Bei Nutzung der App geben wir die Ersparnis bei den Kosten direkt an die Kunden weiter.

In Deutschland haben sich viele Banken lange Zeit vor einem solchen Schritt gescheut. Unnötig. Wenn Kunden unbedingt eine Überweisung telefonisch tätigen wollen, statt die kostenlosen anderen Möglichkeiten zu nutzen, sind sie auch bereit, für diesen Service zu zahlen.

Zur strategischen Ausrichtung: Ihr Ziel ist es, die führende Universalbank in Deutschland zu werden. Da muss man aber doch auch nicht nur im Retailbanking stark sein, sondern genauso im Firmenkunden- und im Wertpapiergeschäft. Welche Ambitionen hat Ihre Bank in diesen beiden Geschäftsfeldern?

Unser traditionelles Geschäft mit Tagesgeld, Girokonto, Baufinanzierung, Brokerage und Konsumentenkrediten ist inzwischen gut umgesetzt, immer nach dem Motto "einfach, schnell und günstig". Wenn man aber ein wirklich wichtiger Akteur am deutschen Bankenmarkt sein will, muss man auch im Firmenkundengeschäft stark sein. Und das ist man nicht ohne das Geschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen. Die Großunternehmen haben wir mit unserem Wholesale Banking in den vergangenen Jahren schon gut erreichen können. Jetzt wollen wir auch bei kleineren Unternehmen Fuß fassen. Darüber hinaus wollen und müssen wir im Niedrigzinsumfeld unseren Kunden auf der Suche nach Rendite natürlich auch das Wertpapiergeschäft anbieten.

Aber gerade im Mittelstandsgeschäft und bei der Wertpapierberatung ist der Wettbewerb sehr hoch. Was wollen Sie anders machen?

In beiden Geschäftsfeldern wollen wir eben nicht genau das anbieten, was andere Banken auch machen, sondern nach Lücken für neue Produkte suchen. Dafür hatte die ING-Diba schon immer ein gutes Gespür, angefangen von dem Tagesgeld über Konsumentenkredite bis hin zur digitalen Baufinanzierung. Im Wertpapiergeschäft beispielsweise haben wir uns für Robo Advice und die Zusammenarbeit mit Scalable Capital entschieden. Daraus resultierte auch die Idee eines weiteren Projekts, welches insbesondere auf die Zielgruppe unserer Kunden mit einem Anlagevermögen von über 50 000 Euro abzielt. Da reden wir über mehr als eine Million Kunden. Diesen können wir zukünftig vielleicht auch ein digitales Angebot für die Vermögensverwaltung machen.

Nach welchen Kriterien wurde dieses Segment ausgesucht?

Wir haben festgestellt, dass die Deutschen für ihre Vermögensverwaltung im Schnitt zweieinhalb bis drei Prozent Verwaltungsgebühren pro Jahr bezahlen. In vielen anderen Märkten, darunter die Niederlande, liegt diese unter einem Prozent. Also fragen wir uns, weshalb hierzulande die Kunden die bisherigen Preise zahlen und ob ihnen die Beratung auf Dauer die hohen Preise wert ist. Wenn unsere Renditen genauso gut oder besser sind, werden sich viele Kunden fragen, ob sie wirklich eine Beratung brauchen.

Wie schnell und in welchem Ausmaß rechnen Sie mit einer Bereitschaft zum Wechsel?

Das lässt sich nicht generell sagen. Aber wenn die bisherigen und die neu hinzukommenden Kunden von Scalable Capital in diesem und im nächsten Jahr ihre Rendite sehen und die Kosten im Auge haben, könnte das das Geschäft beflügeln. Wir müssen einen Track Record aufbauen, um bei niedrigeren Kosten auch mit den Durchschnittskunden ins Geschäft kommen. Dabei wird uns übrigens auch die MiFID II helfen, weil die Kostentransparenz insgesamt größer wird.

Wo sehen Sie die Lücke im Geschäft mit kleinen und mittleren Firmenkunden?

In dieses Geschäftsfeld sind wir in diesem Jahr mit dem Kauf von Lendico und mit der Beteiligung an Fincompare eingestiegen. Auch hier unterscheiden wir uns wiederum vom Wettbewerb durch die konsequente Digitalisierung der Angebote. Denn auch an dieser Stelle gilt: Wenn wir dieses Geschäft genauso betreiben, wie die Wettbewerber aus den Verbünden oder die anderen privaten Banken, können wir uns nur über den Preis abheben. Deshalb haben wir uns für ein Kreditangebot für kleine und mittlere Unternehmen entschieden, das rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche verfügbar ist. Im Zahlungsverkehr haben sich die Kunden schon daran gewöhnt. Wir sind sicher, dass dieses Konzept auch im KMU-Kreditgeschäft Erfolg haben wird, denn auch dort sind die Kosten unserer Wettbewerber vergleichsweise hoch, in jedem Falle wesentlich höher als bei unserem Konzept. Über die Bequemlichkeit, guten Service und die Preispolitik werden wir gute Chancen am Markt haben.

Wie sind Ihre Zeitvorstellungen bei diesem Vorhaben?

Wie bei der diesjährigen Bilanzpressekonferenz angedeutet, wäre ich mit einem neuen Kredit über diese Plattform bis Jahresende zufrieden. Dann weiß ich, das System funktioniert. Auch bei Tausenden von Krediten. Das ist das Ziel.

Sie verzichten also im KMU- und im Wertpapiergeschäft vollständig auf Berater, da es komplett digital aufgestellt wird?

Ja. Wir überlegen zwar, im Wholesale Banking an bis zu vier Standorten Niederlassungen zu eröffnen, um uns etwa in Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart und München besser zu vernetzen und damit auch kleinere Unternehmen anzusprechen. Aber im Geschäft mit KMU und im Wertpapiergeschäft ist das definitiv nicht geplant. Sonst wären wir wie alle anderen Banken.

Gute Unternehmenskultur und gute Ertragslage: Hängt das unmittelbar zusammen?

Natürlich besteht da ein gewisser Zusammenhang. Wer morgens zufrieden zur Arbeit geht und darin einen Sinn sieht, ist stärker motiviert, bringt sich besser ein und liefert andere Leistungen. Entscheidend ist die Perspektive, die den Menschen gegeben wird. In der ING-Diba können wir diese Perspektive mit unseren Zielen der führenden Universalbank und des Digital Leaders vermitteln.

Die ING-Diba hatte immer ein gutes Retail-Image, schadet Ihnen dieses nun bei der Geschäftserweiterung?

Nein, im Gegenteil. Viele Kunden haben ein sehr positives Vorerlebnis über die private Kundenbeziehung, das hilft uns in den neuen Geschäftsfeldern. Wenn unsere Berater beispielsweise zu den großen Firmenkunden fahren, überträgt sich dieses positive Retail-Image oft auch auf das Wholesale-Geschäft.

Nick Jue Vorsitzender des Vorstands ING-DiBa, Frankfurt am Main
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