BVerfG versus EuGH: ein Streit zur Unzeit

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

Spektakulärer hätte der Abschied von Andreas Voßkuhle nach zwölf Jahren als Richter am Bundesverfassungsgericht (BVerfG), davon über zehn als dessen Präsident, nicht sein können: Erstmals in seiner Geschichte stellten sich die Karlsruher Richter am 5. Mai 2020 gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). Das 2015 gestartete, bis heute laufende und mittlerweile rund 2,2 Billionen Euro schwere Public Sector Purchase Programme (PSPP) ist gemäß dem Verdikt in Teilen nicht mit dem deutschen Grundgesetz kompatibel. Die PSPP-Beschlüsse der EZB seien entgegen der EuGH-Entscheidung aus dem Dezember 2018 als "Ultra-vires-Maßnahmen" zu qualifizieren, das heißt, die EZB habe außerhalb der ihr zustehenden Kompetenzen gehandelt.

Ungewohnt direkt fiel dabei die Breitseite gegen die Luxemburger Kollegen aus: "Die Auffassung des (Europäischen) Gerichtshofs verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit", heißt es in der Urteilsbegründung. Diese unverblümte Kritik ist zugleich Wasser auf den Mühlen eurokritischer Regierungen, die in dem Urteil aus Deutschland durchaus eine Steilvorlage für eigene juristische Initiativen gegen das EuGH sehen könnten. Die politischen Fliehkräfte in der ohnehin belasteten Staatengemeinschaft dürften dadurch weiter an Momentum gewinnen - zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

Rein geldpolitisch betrachtet erscheinen die Implikationen dagegen zumindest auf kurze Sicht halbwegs überschaubar. Das BVerfG hat der EZB drei Monate Zeit eingeräumt, um die Verhältnismäßigkeit der im Rahmen von PSPP gewählten Mittel nachvollziehbar gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen. Auch wenn sich einige EZB-Mitglieder durch die BVerfG-Entscheidung dem Vernehmen nach gegängelt fühlen, gilt es in Notenbankkreisen als sehr wahrscheinlich, dass man dieser Forderung letztlich angemessen nachkommen wird. Dass die Bundesbank gezwungen sein könnte, sich Anfang August aus dem PSPP zurückzuziehen, ist somit nur ein entferntes Risiko. Entsprechend gelassen nahmen die Eurohüter den erhobenen Zeigefinger aus Karlsruhe zur Kenntnis.

Und doch bleiben gewisse Restzweifel an der künftigen Schlagkraft der EZB, gerade mit Blick auf die Anleihekaufprogramme. Zwar hat das BVerfG das PSPP nicht als verbotene monetäre Staatsfinanzierung klassifiziert. Die von der EZB selbst definierten Kaufgrenzen wurden dabei jedoch explizit als zentrale Voraussetzungen für diese Entscheidung genannt. Zu diesen Voraussetzungen zählt unter anderem, dass die PSPP-Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel getätigt werden, eine Kaufobergrenze von 33 Prozent je Wertpapier eingehalten wird und das Gesamtvolumen der Ankäufe im Voraus begrenzt worden ist. Im Vergleich dazu nimmt sich das unlängst zur Bekämpfung der Corona-Krise aufgelegte "Pandemic Emergency Purchase Programme" (PEPP) sehr freizügig aus - die EZB hat sich hier nämlich keinerlei dieser Beschränkungen auferlegt.

Gewiss: Das PEPP ist vom Karlsruher Urteil ausgenommen. Und doch kommt man natürlich nicht daran vorbei, es im Lichte dieser Entscheidung zu betrachten. Die weit verbreitete Hoffnung unter Marktteilnehmern und Politikern auf eine höchst flexibel agierende EZB, die nach Belieben die Kaufvolumina ausweitet und dabei im großen Stil vom Kapitalschlüssel abweicht, hat durch das BVerfG-Urteil also mindestens einen Dämpfer erfahren. Das fiskalpolitische Krisenmanagement rückt im Gegenzug noch stärker ins Rampenlicht. Wirklich schlagkräftig ist die Eurozone aber leider auch hier nicht aufgestellt. Grundsätzlich sollte der EZB bei all dem juristischen Tauziehen immerhin der Faktor "Zeit" in die Karten spielen: Bis das BVerfG eine Entscheidung über das PEPP trifft, wird das Programm längst nicht mehr aktiv sein, so die Mutmaßung vieler Notenbankexperten. Hoffentlich behalten sie damit, anders als beim PSPP, Recht. ph

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