WOHNEN IN DEUTSCHLAND

MEHR MUT ZUR MITTELSTADT - ANKERSTÄDTE ALS CHANCE FÜR WOHNEN UND BAUKULTUR

Reiner Nagel Quelle: Till Budde

Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ein in Artikel 72 des Grundgesetzes verankertes politisches Ziel in Deutschland. Wie schwer es ist, diesem Ziel gerecht zu werden, zeigt sich mit Blick auf die mancherorts verödenden ländlichen Räume im Bundesgebiet. Dabei bieten diese gerade vor dem Hintergrund des akuten Wohnraummangels in den Großstädten eine wertvolle potenzielle Quelle der Entlastung. Wie dieses Potenzial gehoben werden kann, erläutert der Autor des folgenden Beitrags. Unter anderem fordert er dafür ein Umdenken im Bereich der Raumordnungspolitik sowie baukulturelle Maßnahmen, die die lokale Identität, den Charakter einer Stadt sowie die Identifikation ihrer Bewohner stärken. Red.

Wachsende Großstädte auf der einen, abgehängte Abwanderungsregionen auf der anderen Seite: Die Unterschiede zwischen Stadt und Land werden hierzulande immer größer und gefährden gleichwertige Lebensbedingungen. Die Politik reagiert auf die Gleichzeitigkeit von Boom und Brache, indem sie sich vorrangig den Metropolen zuwendet. 350 000 bis 400 000 Neubauwohnungen sollten hier in den nächsten Jahren entstehen, um Wohnungsangebote zu bezahlbaren Mieten und finanzierbaren Kosten zu gewährleisten.

Rund zwei Millionen leerstehende Wohnungen

Dennoch dreht sich in den Metropolen die Kostenspirale weiter und führt inzwischen für viele Eigennutzer zu nicht mehr erschwinglichen Miet- oder Kaufpreisen. Wesentliche Kostentreiber sind dabei nicht vorrangig die Baukosten (Kostengruppen 300 und 400 in den Vorgaben der DIN 276), sondern die nicht vermehrbaren Grundstücksflächen sowie die Erschließungskosten (Kostengruppen 100 und 200). Hier gibt es nur eine Möglichkeit: Ausweichen und mithilfe von Baukultur "Neuland" entdecken. Es lohnt sich also, die Potenziale von Klein- und Mittelstädten in ländlichen Räumen genauer zu betrachten. Dort stehen rund zwei Millionen Wohnungen leer, der Wertverlust ist immens. Eine neue Raumordnungspolitik sowie baukulturelle Maßnahmen können dieses Potenzial aufschließen helfen: Es gilt, stabile Mittelstädte in ganz Deutschland zu identifizieren und diese durch ein attraktives Orts- und Stadtbild zu zukunftsfähigen Ankerstädten zu machen.

Als zentrale Wohn-, Handels- und Kommunikationsstandorte strahlen diese Städte auf ihr Umland aus und sind grundlegendes Element für das Entstehen nachhaltig lebendiger Wohn- und Lebensstandorte. Sie können helfen, die Metropolen zu entlasten und stärken die einzigartige Polyzentralität Deutschlands.

Demografische Spaltung Deutschlands verhindern

Im ganzen Bundesgebiet wandern vor allem junge Menschen aus ländlichen Räumen ab. Die schrumpfenden Regionen sind jedoch in weiten Teilen durchaus wirtschaftlich stark und eine arbeitsmarktbedingte Abwanderungsnotwendigkeit existiert nicht. Vielmehr klagen die dortigen Unternehmen über Fach- und Arbeitskräftemangel, der sich wegen der Abwanderung zunehmend verschärft. Die Entleerung ländlicher Räume lässt sich also nicht mit dem viel zitierten Dreiklang von Arbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung erklären.

Ursache ist vor allem eine Spätfolge der demografischen Entwicklung: Die infolge des Pillenknicks schwächer besetzten Geburtsjahrgänge seit den siebziger Jahren waren die ersten, die sich in den Metropolen konzentriert haben, wodurch die Dichte an Gleichaltrigen annähernd gleichmäßig über Deutschland gesunken ist. In den Schwarmstädten herrscht dagegen Urbanität, Vielfalt, Dichte und Lebendigkeit. Die Folge ist vielerorts ein neues Pendlermuster: morgens aus der Großstadt heraus zum Arbeitsplatz und abends wieder hinein.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander

Gleichzeitig sprechen die Wohnwünsche der Deutschen eine andere Sprache: Wenn sie es sich frei aussuchen könnten, würden 78 Prozent der Deutschen am liebsten in einer Landgemeinde, einer Mittel- oder Kleinstadt leben (siehe Abbildung 1). Das hat eine Umfrage der Bundestiftung Baukultur für den Baukulturbericht 2015/16 gezeigt. Es gilt also, neben Arbeitsplätzen attraktive Lebensorte zu schaffen und qualifizierten Wohnraum bereitzustellen, um das neue Pendlermuster zu durchbrechen und die Menschen in der Kleinstadt oder auf dem Land zu halten.

Stadtzentren müssen lebendige Begegnungs-, Kommunikations- und Handelsorte sein und eine vielfältige Nutzung ermöglichen. Das kann durch baukulturelle Maßnahmen der Aufwertung des öffentlichen Raums, der Inwertsetzung von Leerstand oder der aktiven Gestaltung von Bestandsarealen durch Umbau oder Neubau erfolgen. Mittel zum Zweck ist häufig eine kluge und aktive Bodenpolitik.

Ortskerne durch Baukultur stärken

Die Ortskerne in ländlichen Räumen sind entscheidend: Spielt sich dort das Leben ab oder herrscht Leerstand und Tristesse? Gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, ein Kultur- und Bildungsangebot? Präsentiert sich der Ort in seinem Herzen als attraktiver Platz zum Leben, Wohnen und Arbeiten? Um diese Vitalität zu erreichen, müssen die wesentlichen Infrastrukturen und die verfügbaren Investitionsmittel zugunsten der Ortsmitte gebündelt werden. Das klingt sicher für viele angesichts des Marktgeschehens der letzten zwanzig Jahre unrealistisch, vielleicht sogar naiv.

Muss nicht der Nahversorger mindestens 10 000 Einwohner im Einzugsbereich haben und geht deshalb nur als Discounter an der Ortsumgehung? Und mussten nicht viele Gasthöfe und Dorfläden aus finanziellen Gründen schließen? Alles richtig, aber die Recherchen der Bundesstiftung zu guten Beispielen zeigen: Es geht, wenn man zielgerichtet und konsequent vorgeht. Sogenannte Baukulturgemeinden schaffen mit der Aufwertung der Ortsmitte ein Zeichen für den Neuanfang - symbolisch, aber auch tatsächlich.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die wohnungspolitische Förderung des Bundes sollten deshalb auf integrierte Lagen ausgerichtet werden, für Kauf und Sanierung, Bestandsumbau, Ergänzungs- und Ersatzneubau. Vorbild kann zum Beispiel das Programm "Jung kauft Alt" aus Nordrhein-Westfalen sein.

Flächenintensive Neubaugebiete sind der falsche Weg

Flächenintensiver Neubau am Stadtrand hingegen nährt nur den "Donut-Effekt" - also den Leerstand im Zentrum und die Zersiedlung im Umland (siehe Abbildung 2). Immer neue Baugebiete an den Ortsrändern können dazu führen, noch halbwegs funktionierende Innenstädte zu beschädigen. Dennoch weisen derzeit 84 Prozent der Gemeinden neue, flächenverbrauchende Einfamilienhausgebiet aus, obwohl zwei Drittel dieser Gemeinden in stagnierenden oder schrumpfenden Regionen liegen und ein Drittel sogar Leerstand im Ortskern verzeichnen.

Anstelle gesichtsloser Neubaugebiete sollten Kommunen verstärkt auf städtebauliche Rahmenpläne und gemischte Siedlungen mit angemessenen Gestaltungsregeln setzen, um langfristig ökonomisch und sozial wertbeständig zu sein. Auch sollten sie in höherem Maße private Bauherren bei Planungs- und Baufragen beraten oder auf kommunalen Grundstücken Projekte initiieren, die den lokalen Wohnungsmarkt bedarfsgerecht ergänzen. Das können etwa Haustypen für Familien, Senioren-WGs, Paare und Alleinstehende in integrierten Lagen sein.

Lokale Identitäten betonen

Für alle Baumaßnahmen gilt: Ortsspezifisches Bauen stärkt die lokale Identität, den Charakter einer Stadt und die Identifikation ihrer Bewohner. Denn nicht nur, was saniert oder umgebaut, ergänzt oder neu gebaut wird, ist von Bedeutung für das Stadtbild, sondern auch, wie dies geschieht. Der Einbezug von qualifizierten Gestaltern in Bauvorhaben ist deshalb unbedingt anzuraten: Proportionen, Materialien und Anmutung sind Aspekte, die darüber entscheiden, ob das Stadtbild als angenehm und stimmig empfunden wird - und damit eine hohe Lebensqualität entsteht. Baukultur kann hier zur entscheidenden strategischen Handlungsebene werden.

Häufig braucht es als sichtbares Zeichen eines eingeleiteten Strukturwandels eine bauliche Veränderung im Ort. Das kann der Um- oder Neubau eines zentralen Standortbereichs sein, wie zum Beispiel der Gemeindeverwaltung, eines Bürger- oder Gemeindehauses oder eines Dorfladens oder Dorfgasthofs. Hier gegen den Trend Zeichen zu setzen erfordert Initiative und Gemeinsinn. Häufig sind es lokale Akteure wie Vereine oder Einzelpersönlichkeiten, die gute Ideen aufwerfen. Ergänzender Erfolgsfaktor ist dann, dass sich Rat und Bürgermeister diese Initiativen zu eigen machen und konsequent befördern. Die Preisträgergemeinden von Baukultur- oder Architekturwettbewerben sind immer auch Gewinner beim Wettbewerb um Bewohner, Arbeitsplätze und damit verbundenen Zukunftsperspektiven.

Aktive Bodenpolitik fördern

Voraussetzung für eine zukunftsgerichtete Handlungsoption ist ein aktiver Gestaltungsprozess. Und das meint an dieser Stelle ergebnisorientierte Planungsverfahren. Schon der damalige Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher hat vor fast neunzig Jahren gesagt: "Städtebau ist praktische Bodenpolitik". Das gilt immer noch und heute bei einem inzwischen professionalisierten Grundstücks- und Immobilienwesen umso mehr.

Ankerstädte brauchen deshalb eine aktive Bodenpolitik mit Auswirkungen auf eine positive Stadtentwicklung. Gerade die historischen Stadtkerne sind vielfach durch kleinteilige, verschachtelte Gebäude mit komplizierten Grundrissen und Grundstücksgrenzen gekennzeichnet. Fehlende Gärten, verschattete Höfe und nicht vorhandene Parkplätze am Haus führen dazu, dass sich Familien eher für einen Neubau am Stadtrand entscheiden. Offener und verdeckter Leerstand sind die Folge (siehe Abbildung 3).

Doch selbst, wenn der Wunsch nach einer innerstädtischen Lage besteht, verhindern verkaufsunwillige Erben, rechtliche oder wirtschaftliche Belastungen des Grundstücks oft dessen Entwicklung. Hier ist es angeraten, durch bodenpolitische Maßnahmen das Zusammenlegen von zu kleinen Grundstücken sowie die Bereinigung nicht mehr funktionsfähiger Grundstücksflächen und Gebäudegrundrisse zu ermöglichen.

Probate Mittel: Vorkaufsrecht und Bodenfonds

Die Kommunen sollten hierzu ihr Vorkaufsrecht in besonderen Lagen einsetzen und mit Hilfe revolvierender Bodenfonds Entwicklungen in Gang setzen. Auch städtische Wohnungsunternehmen und leistungsfähige Wohnungsgesellschaften können durch eine strategische Inwertsetzung ihrer Flächen neue Entwicklungen in der zusammenhängend bebauten Ortslage anstoßen. Wenn sich die großen Grundeigentümer im Ort zusammentun und einen örtlichen "Bodenfonds Zukunft" aufsetzen, geht was.

Damit sich Deutschland nicht in boomende Hotspots und ländliche Regionen auf dem Abstellgleis spaltet, ist eine zweckgebundene oder besser gesagt "zweckgebündelte" Vergabe der Fördermittel notwendig: Weg von der "Gießkanne" hin zu einer Konzentration auf die zukunftsfähigen Kommunen. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ländlichen Regionen muss auch durch ungleiche Maßnahmen ermöglicht werden, etwa durch selbstorganisierte Prozesse der Versorgung und Mobilität.

Bewusstsein für polyzentrales Raumgefüge stärken

Ein Beispiel sind multifunktionale Dorfläden, die unterschiedliche Dienstleistungen bündeln - von Lebensmitteln über Paketannahme bis hin zu Kfz-Zulassungen, Handwerkerdiensten sowie Beratungs- und Gesundheitsangeboten. Um diese individuellen, lokal differenzierten Maßnahmen zu ermöglichen, sind dringend Öffnungsklauseln für bestehende Vorschriften und Regulierungen in den strukturschwächeren Regionen notwendig. Außerdem sollte das bürgerschaftliche Engagement in der Nachbarschaftshilfe als eigenständiger gemeinnütziger Zweck steuerlich anerkannt werden.

Es geht also zunächst darum, das Bewusstsein für unser polyzentrales Raumgefüge zu stärken. Es gilt, auch aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse der Preisdämpfung beim Wohnen in großen Städten und der Wertsicherung von Wohnungsbeständen in Klein- und Mittelstädten, ausgleichende Aktivitäten zu entwickeln.

Auch die Immobilienwirtschaft muss Initiative ergreifen

Das beginnt auf der Ebene der Neuausrichtung der Bundesraumordnung, der Landesund Regionalplanung, geht über Förderpolitiken und führt zu den Möglichkeiten von Immobilieneigentümern, ihren Bestand zu aktivieren und baukulturell aufzuwerten.

Darüber hinaus ist den Ortsmitten eine besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu widmen. Vereinfacht gesagt geht es darum, vorrangig alle Kraft auf das Zentrum gewachsener Städte und Gemeinden zu konzentrieren und hier alle Nutzungen, Gebäude und öffentlichen Räume so auszurichten, dass Funktion und Erscheinungsbild der Mitte attraktiver werden.

Und schließlich müssen neue und kreative Instrumente der Bodenpolitik aktiv eingesetzt werden, um den Wandel zu gestalten. Gerade bei diesem Punkt ist nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Initiative der Wohnungs- und Immobilienunternehmen gefragt, eine Perspektive auch für Klein- und Mittelstädte zu entwickeln und den zum Teil eigenen Gebäudebestand in die Zukunft zu führen.

DER AUTOR
Reiner Nagel, Vorsitzender des Vorstands, Bundesstiftung Baukultur, Potsdam

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