Aufsätze

Anmerkungen zu einer neuen Finanzarchitektur(Teil 2)

Stand 2009 lässt sich festhalten: Die vielfachen neuen Möglichkeiten der Produktgestaltung sowie die umfassende Liberalisierung im Aufsichtsbereich - mit dem Versuch, höchst komplexe Neuerungen ohne zu starke Behinderung steuernd zu beaufsichtigen - und die Verwischung der Grenzen zwischen Investment- und Kreditbanken haben weltweit zu einer Explosion der Bankbilanzen geführt (siehe Andrew Ross Sorkin: Too big to fail). Leider hielt jedoch der qualitative Zuwachs nicht Schritt mit dem quantitativen Wachstum.

Verbindendes Kernelement

Auch der Versuch, unter der Überschrift "Transparenz" die Entwicklung zu kanalisieren, muss als fehlgeschlagen angesehen werden. Was bringt schon eine der Transparenz dienende Erklärung, die auf Seite 112 eines Prospektes in klein gedrucktem Juristendeutsch zu finden ist, an Erkenntnisgewinn im täglichen Geschäft und was bedeutet Transparenz, wenn Banken, die sonst nicht mehr mit den Aufsichtsnormen klarkommen, pseudo-transparente Bilanzposten in Zweckgesellschaften auslagern können? Als Teilauslöser für die derzeitige Krise kann man wohl eine mittlere zweistellige Anzahl von Einzelgründen ausmachen, die, je nach Geschmack, für entsprechende Überschriften in der Fachliteratur gut sind. Sie alle haben für sich genommen jeweils neue Problemzonen geschaffen, die sich im Zusammenspiel zu einer Krisen auslösenden Dimension auswuchsen.

Das verbindende, in allen Einzeltatbeständen wiederzufindende Kernelement ist jedoch der Terminmarkt auf Finanzprodukte, wie es ihn in dieser Form und in diesem Umfang noch nie gab. Ohne Anspruch auf Vollzähligkeit und ohne eine Gewichtung vorzunehmen seien hier einige Einzelaspekte aufgeführt, die in der Finanzmarktkrise von Bedeutung waren: die Hedgefonds, der US Immobilienmarkt, die Ratingagenturen, die Bankenaufsicht, die Wirtschaftsprüfer, die außerbilanziellen Zweckgesellschaften, die neuen Bilanzierungsregeln und Eigenkapitalerfordernisse nach Basel II, die US-Zinspolitik, die Bonuszahlung an Investmentbanker, die Provisionszahlung an Anlageberater, die Verbriefungstechnik, die Kreditversicherungen und ihre Produkte, die Credit Default Swaps und die Leerverkäufe.

Ein jedes Produkt, eine jegliche Technik und eine jede genannte Einrichtung bietet Anlass für eine mehr als abendfüllende Diskussion der Experten. Es wäre jedoch bei weitem zu kurz gegriffen, würde man sich an ein oder zwei Einzelthemen festbeißen. Im Kern geht es nach den politischen De-regulierungs-Entscheidungen der letzten 30 Jahre um die Grundsatzfrage, wie viel zunehmend mit spekulativen Elementen gekoppelte Effizienz im Finanzwesen und damit auch zur Unterstützung der Realwirtschaft zugelassen werden soll. So wie wahrscheinlich aus heutiger Sicht im stark reglementierten und national orientierten Bankgeschäft der Nachkriegszeit zu zurückhaltend mit der Spekulation umgegangen wurde, wird heute, in einem auf globalisierte Bedürfnisse der Wirtschaft abgestellten Finanzmarkt, möglicherweise dieser Essenz des Marktgeschehens eine zu große Bedeutung zugebilligt.

Ungelöste Kostenfrage

Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, wer im Falle einer Krise wie der derzeitigen die anfallenden Kosten zu tragen hat. Die aktuelle Situation einer Privatisierung der Gewinne und einer Verstaatlichung der Verluste ist nicht hinnehmbar und auf Dauer politisch nicht vermittelbar. Den beiden vorgenannten Fragen können sich daher die Verantwortlichen nicht entziehen, auch wenn im Zeitalter des Euros und der globalisierten Märkte die nationalen Entscheidungsträger gerne auf europäische oder supranationale Gremien verweisen.

Die Politik hat sich durch die Finanzmärkte in einen Entscheidungsrahmen zwischen Skylla und Charybdis drängen lassen: Entweder der Finanzsektor wird zur eigenen Stabilisierung stärker reguliert und die Kreditversorgung der Realwirtschaft damit erschwert oder zur Absicherung von Unternehmen und Arbeitsplätzen wird die Regulierung nur oberflächlich und marginal verändert, was die Wahrscheinlichkeit neuer Finanzkrisen erhöht. Dieser Entscheidungsrahmen gilt sowohl für die nationale wie die weltweite Dimension.

Der Glaube, den angesprochenen Schwachstellen im System mit Modellen, Agenturen, Formeln, Charts und Mindestanforderungen sowie Regulierungen in Buchdimension beizukommen, führt am Problem vorbei, auch weil er die individuellen Antriebskräfte im Geschäft unterschätzt. Jeder erfolgsabhängig bezahlte Akteur im Markt wird seinen Ehrgeiz daran setzen, für seine ausgefallene neue Geschäftsidee im weltweiten Kontext den richtigen Ort, das optimale Steuerumfeld, die schwächste Aufsicht, die flexibelste Regulierung, die großzügigste politische Begleitung zu finden (siehe die Beispiele Island/Irland). Ein schwer überschaubares Regelwerk im eigenen Land dient darüber hinaus als Feigenblatt für alle Verlagerungen von Geschäften zum günstigsten Ort.

Hierbei sind die mittlerweile weltumfassend tätigen Anwaltskanzleien mit ihren Spezialisten gern behilflich. Eine Regulierung auf internationaler Ebene ist nötig, die im Kern eine Totalrevision von Basel II, die Umsetzung der Pittsburgh-Beschlüsse sowie eine Bankenaufsicht zumindest in der Eurozone umfassen müsste. All diese Themen werden von politischer Seite in hohem Masse mit Blick auf die Interessen des eigenen Landes behandelt, je mehr sie in Richtung europäischer oder gar globaler Ansätze gehen, umso komplizierter und damit unwahrscheinlicher wird eine sachgerechte Lösung.

Reduzierung der Komplexität notwendig

Wenn aber berechtigte Zweifel herrschen bezüglich der Durchsetzbarkeit (zum Beispiel Bonushöhe, Bonussteuer, Tobin Tax, international abgestimmte Folgen bei Banksanierungen et cetera), muss noch tiefer in das Fleisch der bestehenden Geschäftsoptionen eingeschnitten werden. Eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner wird nicht ausreichen. Politische Statements mit unklaren oder weit in die Zukunft geschobenen Vorgaben wie in Fragen der Entwicklungshilfe oder des Klimaschutzes helfen ebenfalls nicht weiter, weil im Finanzwesen das Ergebnis von Nicht-Handeln sich sofort in Heller und Pfennig niederschlägt. Es existiert hier also ausgehend von Pittsburgh über die Vorschläge der EU-Kommisssion bis hin zu nationalen Überlegungen keinen Mangel an Vorschlägen zur effizienten Korrektur der überbordenden Märkte, sondern eher bestehen große Zweifel hinsichtlich der gleichzeitigen und weitflächigen konsequenten Umsetzung.

Das Aufarbeiten der Finanzmarktkrise wird sicher viel wissenschaftlichen Sachverstand und politisches Durchsetzungsvermögen erfordern. Die Grundsatzfrage der Steuerungsfähigkeit von Unternehmen und Banken im Zeitalter derivativer Märkte und strukturierter Produkte lässt sich jedoch nicht nur von Wissenschaftlern beantworten, die im Banking-to-Model-Zeitalter Erfahrung gesammelt haben, da in der Vergangenheit die praktische Seite, die menschlichen Verhaltensweisen in einer neuen Dimension von Marktgegebenheiten, zu wenig Beachtung gefunden hat. Damit ist die Brücke zu schlagen zu Unternehmens- und Unternehmerverantwortung.

Festzuhalten bliebt als Befund: Eine spürbare Rückführung der Komplexität ist angezeigt. Hier stellt sich dieselbe Frage wie 1930: Radikaler Neuanfang oder schrittweises Vorgehen? Im Licht der neueren Erkenntnisse ist meines Erachtens bei beiden Ansätzen mehr denn je die Aussage von James Tobin aus dem Jahr 1984 zu bedenken: "Der Betrieb eines jeden Marktes für finanzielle Ansprüche erfordert private Ressourcen und er bedarf öffentlicher Mittel im Zusammenhang mit seiner Überwachung. Kein Land kann es sich leisten, alle Märkte zu installieren, von denen Enthusiasten träumen mögen" (Tobin 1984: 1-15).

Die von Tobin so bezeichneten Enthusiasten haben es im wirtschafts- und weltpolitischen Umfeld der letzten 20 Jahre geschafft, den Finanzmärkten ihren Stempel aufzudrücken. Dabei haben sie der Politik durch ihre Effizienz und durch die von ihnen bewirkte Vertiefung der Märkte geholfen, weltweite finanzielle und wirtschaftliche Ungleichgewichte in Teilen einzuebnen (Entwicklung in Osteuropa, China, Indien). Durch diese Unterstützung wurde den Politikern vor allem seit Mitte der neunziger Jahre manche Sorge abgenommen, da sie faktisch einem in seiner Dimension unvorstellbaren, weltweiten Konjunkturprogramm entsprach. Die bereits öffentlich formulierten Sorgen der Industrie und des Handels, bei zu starker Beschneidung der Möglichkeiten des Finanzsektors könne die Realwirtschaft leiden, bestätigen diese These. Zurzeit sind allerdings die aufgelaufenen Kosten für die Sanierung eines mit dem Schmierstoff höherer Spekulation arbeitenden Kreditgewerbes ebenso zu begleichen wie die poli-tisch-ökonomischen Folgen der abrupten Zäsur dieser Epoche zu verkraften sind.

Sollte zur Krisenbewältigung der Ansatz gewählt werden, in kleinen Schritten und nur sektoral zu reformieren, wären national und EU-weit sämtliche finanzmarktrelevanten Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Erlasse der letzten 30 Jahre auf den Prüfstand zu stellen und in ihren Wirkungen zu hinterfragen. Letztlich kommt man aber nicht an der Frage vorbei, welchen Preis eine Volkswirtschaft oder eine Wirtschaftsgemeinschaft dafür zu zahlen bereit und in der Lage ist, dass ein effizientes, in Teilen aber durch erhöhte spekulative Antriebskräfte schwer steuerbares Finanzwesen der Realwirtschaft ein Wachstum ermöglicht, das mit konventionellen Mitteln nur bedingt darstellbar wäre.

Pittsburgh als Messlatte

Der Umgang mit den Vorschlägen von Pittsburgh stellt also die Messlatte dafür dar, mit welcher Stringenz die Veränderung der Regulierung betrieben wird und - mit Blick auf die Erfahrungen bei Basel II - wie die gleichzeitige Einführung sichergestellt werden kann. Da es sich hierbei um die milliardenschwere Frage nach Macht und Einfluss im Weltfinanzsystem handelt, darf man sich wohl noch auf einige Überraschungen einstellen.

Die Sonderrolle, die der Finanzsektor - und hier vor allem der Banksektor im Verhältnis zur Realwirtschaft - spielt, erfordert einen besonders sensiblen Umgang mit dem Thema Unternehmensverantwortung. In der derzeitigen Krise wird dieses Spezifikum unterstrichen durch die Dimension der Hilfsmaßnahmen im Vergleich zu den Hilfen für andere Sektoren der Wirtschaft. Da die Finanzwirtschaft ein zwar unabdingbares, aber auch dienendes Aggregat der Volkswirtschaften ist, gelten hier auch andere Gesetze, Regeln und Aufsichtsnormen als in der sonstigen Wirtschaft.

Darüber hinaus haben jedoch die Finanzunternehmen auch in ihrem ungeschriebenen Verhaltenskodex erkenntlich zu machen, dass sie sich in einer dienstleistenden Funktion für die Realwirtschaft bewegen. Auch unter dieser Prämisse lässt sich die Frage nach der Unternehmensverantwortung im Finanzbereich nur seriös stellen und halbwegs sachgerecht beantworten, wenn man sich über die gewaltigen Umbrüche der letzten Jahrzehnte, ihre Hintergründe und ihre Auslöser im Klaren ist. Die neuen Gegebenheiten haben Unsicherheiten in der Sache, in der Interaktion der Betroffenen und in den charakterlichen Anforderungen an die Beteiligten nach sich gezogen.

Über die Problematik menschlicher Verhaltensweisen in total neuer Umgebung bei gleichzeitig fast grenzenlosen Möglichkeiten der Gestaltung und Disposition in der Grauzone von fundiertem Tun, Spekulation und Wette gibt es bislang nur wenig Erhellendes aus der Wissenschaft, soweit sie sich nicht nur auf Laborsituationen bezieht, sondern "Feldforschung" betreibt. Fest steht jedoch, dass sich nicht nur das Zusammenleben in der Gesellschaft vom letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts bis heute spürbar verändert hat, sondern dass sich auch die Finanzmarktakteure in ihrem speziellen Umfeld radikal veränderten Anforderungen zu stellen hatten.

Die beschriebene Entwicklung lässt erkennen, dass im technischen Umfeld und darauf aufbauend bei den konzeptionellen Ansätzen im Bankgeschäft kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Vom Bankbeamten bis zum Salesman, vom Anlageberater zum Verkäufer, vom Kreditgeber zum Kredithändler, vom Banquier zum Banker kann man den Bogen spannen. Hinter diesen neuen Begriffspaaren stehen ebenso neue, veränderte Verhaltensweisen. Angestoßen wurde der Wandel durch eine technische Explosion und eine politische Implosion.

Grenzen der Freiheit neu definiert

Die Grenzen der Freiheit wurden in den vergangenen 30 Jahren neu definiert, Globalisierung wurde in vielen Bereichen des menschlichen Lebens, vom Tourismus, der Kommunikation und Information über die Verlagerung von Produktionsstätten bis zur Anlage des Notgroschens in exotischen Produkten und Ländern, zum modernen Kompass. Die Finanzwelt wurde zu einem Dorf, allerdings ohne die in der Dorfgemeinschaft üblichen persönlichen Beziehungen, der Bildschirm, das Netz, SMS und E-Mails ersetzten das Gespräch über den Gartenzaun. Diese Anonymisierung wurde mit dem Versuch, Transparenz herzustellen, relativiert, aus Transparenz wurde im Orwellschen Sinne zeitweise jedoch das Gegenteil. Technisch gesehen wurde unter Transparenz im Finanzwesen eine Welt verstanden, in der man alles messen, wiegen und zählen kann und in der die modernen Medien es ermöglichen, auf Knopfdruck Analysen, Tabellen, Diagnosen, Renditen, Rennlisten und vieles mehr abzurufen und jeder Zeit an jedem Ort in optisch überzeugender Form zu präsentieren.

Der Zweifel wurde auf diese Weise zum unerlaubten Störenfried. Die vermeintliche und eher oberflächliche Transparenz und die durch Großrechner in Millisekunden gelieferte Präzision bis auf zehn Stellen hinter dem Komma ließen keinen Raum für das Hinterfragen der Basisannahmen und mathematischen Formeln. Die mit herunter gebrochenen kleinsten Einzelfragen befassten Spezialisten verloren den Überblick über das große Ganze, und nur in seltenen Fällen wurde in der Kreditwirtschaft und darüber hinaus die Frage nach den Folgen für das System und damit für die Gesellschaft gestellt. Selbst Berechnungen von künftigen Marktentwicklungen wurden zum Standard, obwohl der Markt sich ebenso wenig vorausberechnen lässt wie Verlauf und Ergebnis eines Fußballspiels.

Aus dem im Kreditgeschäft alter Prägung üblichen "Glauben" an die Seriosität des Kunden wurde, auch in der Umgangssprache, das allenfalls einzelne Fehler zulassende, ansonsten auf Fakten hinweisende und nicht zu hinterfragende "Denken". Der Kreditkunde, so die Annahme, wird eben, aufgrund der vorliegenden computererstellten Analysen, unterstützt vom externen Rating, seinen Verpflichtungen nachkommen. Zweifel waren selbst bei Kunden, die man nur vom Hörensagen kannte, als Beurteilungskriterium nicht vorgesehen. Das hat auch die Unternehmensverantwortung und die Unternehmerverantwortlichkeit im Finanzbereich nachhaltig verändert.

Dieser Paradigmenwechsel, der innerhalb der Häuser den Wettbewerb durch prämienorientierte Zielvorgaben anfeuerte (Bonustabellen und Guiness-Buch-der-Re-korde-Denken), führte zu einem unerbittlichen Individualismus, der Auswirkungen hatte auf die Verhaltensformen der Entscheidungsträger auch nach außen. Eine Unternehmensverantwortung, die in die Gesellschaft hineinwirken sollte - etwa durch vorbildliches Verhalten ihrer Führungsebene, durch Transparenz im Geschäftsgebaren, durch beispielhafte und nicht nur am Eigeninteresse orientierte Arbeit in Verbänden, durch Beachten des Prinzips, dass gegebenenfalls nicht alles, was der Gesetzgeber erlaubt, auch mit aller Härte durchgesetzt wird, durch eine angemessene Beachtung der sozialen Belange im Unternehmen, durch ein Wir-Gefühl nach innen, das positiv nach außen wirkt -, blieb von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Wo Rennlistenmentalität praktiziert wird, lässt sich Gesamtverantwortung nur noch bedingt als Unternehmensziel wahrnehmen.

Spekulation als Teil des Systems

Auf dem Sockel der so beschriebenen Gegebenheiten wurde das Wirtschaftsleben weltweit stärker von spekulativen Elementen durchzogen. Die neue, in der Dosierung angloamerikanische Mischung von ökonomischen Basisfakten und spekulativen Zutaten hat stimulierende Effekte für Wohlstand und Wachstum in großen Teilen der Welt erbracht, ihr Preis ist jedoch die gestiegene Anfälligkeit für schwerwiegende Krisen des Finanzsystems. Eine politisch gewollte oder auch nur billigend in Kauf genommene Öffnung zu mehr spekulativem Handeln hat in der Wirtschaftsgeschichte nach einer Phase positiver Effekte immer zu mehr und restriktiverer Kontrolle im Finanzsektor geführt. Dabei ist das Ausmaß förderlicher Spekulation keine im vorhinein bestimmbare Größe. Entscheidend ist jedoch, dass alle diesbezüglichen Lockerungen zeitgleich und umfassend von wirksamen Kontroll- und Steuerungsmechanismen begleitet werden.

Im heutigen globalen Umfeld ist die deutsche Form von Ordnungspolitik - ein Wort, für das es keine englische Übersetzung gibt - nur schwer vermittelbar. Das hat auch Folgen für eine Corporate Social Responsibility im kontinentaleuropäischen Sinne.

Die Kreditwirtschaft hat für ihre veränderten Anforderungen in der Sache, bei den handelnden Akteuren und in deren Verhaltensnormen einen neuen Leistungskatalog formulieren müssen, dessen Profil stärker von der Wallstreet als von der Freiburger Schule geprägt wurde. Die Frage nach einer unter diesen Umständen erkennbaren Corporate Social Responsibility wird daher am Ende auch daran festgemacht werden, wie mit der spekulativen Dimension in der Wirtschaft umgegangen wird. Die Spielräume für die Möglichkeiten spekulativen Handelns werden über die Kaskade international - EU-weit - national definiert, Finanzunternehmen dienen als Transformator in die Realwirtschaft und zur Kundschaft allgemein. Nicht jede Öffnung (Deregulierung) muss verwerflich sein. Lässt man aber unkontrolliert ein Scheunentor offen - weil die Politik aufgrund starken Lobby-Drucks handlungsunfähig wird -, sind schwerwiegende Probleme zu erwarten.

Die tief gestaffelte Spezialisierung der Akteure wurde aufgrund des Quantensprungs in der Fortentwicklung erforderlich, Verantwortung wurde in kleinteilige Einheiten heruntergebrochen, Anonymität ging einher mit dem Verlust von Verantwortung für übergeordnete Zusammenhänge. Im Invest-mentbanking-Zeitalter waren nicht mehr die endverantwortlichen Vorstände die höchstbezahlte Einheit, sondern vielfach die Spezialisten für besonders komplizierte Produkte oder der umsatzabhängige Verkäufer dieser synthetischen Anlageformen, ein Mitarbeiter, der möglicherweise als Anlageberater früherer Prägung noch vom Vertrauensvorschuss seiner Kunden lebte.

Verschiebung der Verantwortungsketten

Am Beispiel des veränderten Verhaltens im Kreditbereich wird die neue Dimension ebenfalls erkennbar. Eine Bank, die einen Kredit vergibt und ihn bis zur Fälligkeit in den Büchern halten will oder muss, wird sich dem Kunden gegenüber anders verhalten als ein Haus, das kurz nach Geschäftsabschluss den Kredit, verpackt in moderne Investmentvehikel, an den Markt weiterreicht. Auch diese im Wesentlichen in den letzten zehn Jahren eingeführte Neuerung des Kredithandels hat zu einer Verschiebung der Verantwortungsketten geführt und war in Teilen mitverantwortlich für die derzeitige Situation im Finanzwesen.

So schwer sich für das Gesamtsystem ein bestimmter Spielraum für spekulative Elemente definieren lässt, so eindeutig muss für jedes Finanzinstitut eine individuelle Obergrenze gelten. Diese kann nicht von Dritten und nicht von Mindestanforderungen in Form der Basler Vorschriften definiert werden; sie muss an der Verlusttragfähigkeit des jeweiligen Hauses orientiert sein. Mindestanforderungen werden im harten internationalen Wettbewerb umgehend zu Maximalanforderungen, sie gelten als solche gleichermaßen für stabile und weniger stabile Marktteilnehmer. Für die Einschätzung der Belastungsfähigkeit jedes Finanzinstituts sind allerstrengste Maßstäbe anzulegen, ihre Definition und Kontrolle ist vom Vorstand nicht delegationsfähig.

Die veränderten Anforderungen an die Finanzwelt waren vor allem für die Systeme im kontinentalen Westeuropa ein Novum, da die Globalisierung auch als Anglo-Amerikanisierung wahrgenommen werden kann. Die bislang von der nationalen Wirtschaftsgeschichte und von nationalen Traditionen bestimmten Spielregeln hatten keine passenden Schnittstellen für die unter ganz anderen Voraussetzungen gewachsenen neuen Anforderungen. Das galt für die Rechtsystematik ebenso wie für die Fragen von Bilanzierung, Besteuerung, ja selbst von Vorgaben bei der Ausbildung und bei der Unternehmensverfassung.

Das Wagen und Wägen der Seefahrernationen stieß insbesondere im Deutschland der sozialen Marktwirtschaft auf große Anpassungsschwierigkeiten, das hierzulande eingespielte Verhältnis von Shareholder- zu Stakeholder-Interessen wurde mit Blick auf internationale Marktanforderungen justiert. Zwischen der These, dass der Markt alles regelt, und unserer Wirtschaftsstruktur, die auf einen gewissen Interessenausgleich im Vorhof des Marktes ausgerichtet ist, gibt es eben viele nicht kompatible Schnittstellen. Diese Sollbruchstellen einer in den europäischen Wirtschaftsraum integrierten Volkswirtschaft, die als Exportweltmeister auf freie Märkte angewiesen ist, andererseits aber auch eines Landes, in dem Mitbestimmung und soziale Marktwirtschaft zu gewichtigen Kernfaktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehören, werden in Zeiten eines wirtschaftlichen Abschwungs noch klarer erkennbar.

Eine vorbildliche Unternehmensführung, die aus der Tradition in Kontinentaleuropa heraus nicht nur den kurzfristigen Erfolg im Auge hat, wird in schwierigen Phasen des Zusammenlebens positive Signale in die Gesellschaft geben können. Dazu zählt innerhalb des Unternehmens ein offener und vertrauensvoller Umgang untereinander und nach außen ein vorbildhaftes Verhalten der Management-Ebenen im Sinne des ehrbaren Kaufmanns. Auch die zeitweise verpönten Sekundärtugenden haben in diesem Zusammenhang ihren Platz.

Starke politische Führung gefragt

Dass die Aufarbeitung der Finanzkrise und ihrer Folgen hier und in anderen Ländern-Auswirkungen für das Zusammenleben haben wird, liegt auf der Hand. Dabei sollte allen, die in Politik und Wirtschaft Führungsaufgaben wahrnehmen, klar sein, dass eine Freiheit ohne Maß in den Ruin führt. Eine weitere Lehre aus der jüngeren Vergangenheit dürfte jedoch auch sein, dass man auf in Generationen gewachsene Strukturen einer Volkswirtschaft nicht ohne Weiteres und in wenigen Jahren Elemente einer gänzlich anderen finanzwirtschaftlichen Orientierung setzen kann, ohne schwerwiegende Verwerfungen in Kauf zu nehmen.

Der Versuch, individuelle und institutionelle Verantwortung wieder mit den gesellschaftlichen Erwartungen in Einklang zu bringen, kommt dem Versuch nahe, möglichst viel vergossene Milch wieder in die Flasche zu bekommen, da bereits die Definition der Erwartungen im Zeitalter der Globalisierung nahezu unlösbar ist. Festzuhalten bleibt lediglich, dass bei einer fast revolutionären Entwicklung wie der des Finanzwesens in den letzten Jahrzehnten rechtzeitig und nicht nur von interessierter Seite gesteuert entsprechende Leitplanken aufgestellt werden müssen. Diese steuernden Elemente dürfen nicht nur auf den unmittelbaren Effekt ausgerichtet sein, sondern müssen auch Sekundärfolgen berücksichtigen. Das ist eine Herausforderung, die schlussendlich an eine souveräne und starke politische Führung gerichtet ist nach dem Motto "Gouverner, c'est prévoir".

Literatur

Anne T. (2009): Die Gier war grenzenlos. Eine deutsche Börsenhändlerin packt aus, Berlin.

Knee, Johnathan A. (2006): The Accidential Investment Banker. Inside the Decade That Transformed Wall Street, New York.

Sorkin, Andrew Ross (2009): Too Big to Fail. The inside story of how Wall Street and Washington fought to save the financial system and themselves, New York.

Tobin, James (1984): On the Efficiency of the Financial System: Lloyds Bank Review 153, Seiten 1 bis 15 Windolf, Paul (Hrsg.) (2005): Finanzmarktkapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden.

Zaß, Manfred (1994): Auch Leitplanken sind kein Versicherungsschutz für Märkte, in: Handelsblatt 33, Seite 9 vom 16. Februar 94.

Zaß, Manfred (1994): Derivate - es kommt darauf an, was man daraus macht, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen (ZfgK) 9/94 Seite 414 bis 416. Zaß, Manfred (1995): Kapitalmarktinstrumente und Stabilität des Finanzsystems: Vortrag Institut für Kapitalmarktforschung an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main im Januar 1995 Kolloquien Beiträge 38 im Fritz Knapp Verlag.

Zaß, Manfred (1998): Lehren aus der Finanzkrise in Asien - Risikobeurteilung ist eine Management-Aufgabe, in: Handelsblatt 82, Seite 30 vom 29. April 98 Zaß, Manfred (2008): Derivate - es kommt darauf an, was man daraus macht, in: Zfgk 5/08 Seite 188/2 bis 189/3.

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Tagungsband "Finanzmarktakteure und Unternehmensverantwortung" der Evangelischen Akademie, Arnoldshain, der demnächst im VS Verlag erscheinen wird.

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