Aufsätze

Herausforderungen im Umgang mit Stresstests

In Zeiten von starken Veränderungen zeigt es sich immer wieder, dass die Modellierung von Risiken mit einfachen Kennzahlen wie historischen Volatilitäten ihre Grenzen hat. Deshalb werden zur Analyse der Risikotragfähigkeit von Unternehmen Szenarioanalysen über die Veränderungen wesentlicher Risikofaktoren eingesetzt. Szenarien mit extremen Veränderungen dieser Faktoren zeigen dann, wie sensitiv ein Unternehmen reagiert und ob es hierdurch stark betroffen und vielleicht sogar in seiner Existenz gefährdet ist. Grundsätzlich können diese Stressszenarien sehr vielfältig sein, es kann sich um Verluste von Kunden und Umsatzerlösen, Ausfälle von Forderungen, Erhöhung von Kosten oder auch um Naturkatastrophen handeln.

Grundsätzliche Aspekte bei der Konzeption

Die Finanzmärkte wiesen in den letzten zehn Jahren mehr als die reale Wirtschaft starke Verwerfungen mit Strukturbrüchen auf. Damit sind Stresstests ein sehr sinnvolles Instrument für das interne Risikomanagement, sowohl bei Banken wie auch bei Versicherungen. Außerdem bringt die starke Verflechtung von Banken untereinander systemische Risiken mit sich. Von der Aufsicht werden deshalb regelmäßig einheitliche Szenarien mit extremen Veränderungen von Finanzmarktdaten definiert, die dann in ihren Auswirkungen auf wesentliche Bilanzgrößen von Banken und Versicherungen analysiert werden.

Typische Stressszenarien sind starke Verluste auf den Aktienmärkten und bei Immobilienanlagen, ein Konjunktureinbruch, eine deutliche Erhöhung des Zinsniveaus sowie Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Liquidität. In der Versicherungsaufsicht werden Makro-Stresstests branchenweit in Deutschland bereits seit der Aktienkrise vor zehn Jahren eingesetzt, in der Bankenaufsicht europaweit in den Jahren seit der Finanzkrise.

Bei der Konzeption der Szenarien für Stresstests sind einige grundsätzliche Aspekte von hoher Wichtigkeit:

Additivität: Über die Zusammenstellung mehrerer Szenarien beziehungsweise Einzelstresstests sollen mögliche Risikoereignisse in ihrer ganzen Breite abgedeckt werden. Diese Vollständigkeit in der Darstellung des Risikoraums stellt aus Risikosicht eine Art Diversifikation dar, die Wahrscheinlichkeit von negativen Überraschungen wird vermindert. Umgekehrt wird durch die Addition von Szenarien der Gesamtstress aber erhöht und führt somit zu mehr restriktiven Interpretationen oder Maßnahmen.

Additivität und Partialität

Im Fall von unkorrelierten Szenarien oder Risikofaktoren müssen die Bestehenswahrscheinlichkeiten multipliziert werden um zur Wahrscheinlichkeit des Bestehens des gesamten Stresstests zu kommen. Besteht ein Institut jedes Einzelne von drei unabhängigen Szenarien mit 80 Prozent, so ist die Wahrscheinlichkeit des Bestehens aller drei Szenarien nur noch gut 50 Prozent, bei vier Szenarien sind es nur noch 40 Prozent. Es muss deshalb unbedingt immer hinterfragt werden, wie hoch eigentlich die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von drei oder vier Stressszenarien gleichzeitig ist.

Partialität: Umgekehrt werden einzelne Stressfaktoren in bestimmten Szenarien nicht auf das gesamte Unternehmen beziehungsweise seine Bilanz durchgerechnet, sondern nur auf Teile davon. Ein typisches Beispiel ist die Analyse der Auswirkung von Zinserhöhungen nur auf den Anlagebestand von Zinstiteln, nicht aber auf entsprechende Verbindlichkeiten mit der einhergehenden Änderung des Diskontierungsfaktors. So werden durch die partielle Betrachtung gegenläufige Entwicklungen in der Gesamtbilanzstruktur nicht berücksichtigt, was verzerrte Ergebnisse zur Folge hat. Gerade beim Stressen von zentralen Variablen wie dem Zinsniveau können die Aussagen von Stresstests sich bei partieller Betrachtung sogar in das Gegenteil der ökonomischen Realität verkehren.

Der scheinbaren Einfachheit der Risikoanalyse mit Kennzahlen wie Value-at-Risk

stehen also komplexe Anforderungen bei der Ausgestaltung von Stresstests gegenüber. Der Aufbau und die Zusammenstellung der Szenarien erscheinen nur vordergründig als trivial, vor allem wenn die Stresstests nicht als Momentaufnahme zur Betrachtung einzelner Faktoren und Entwicklungen eingesetzt werden, sondern regelmäßig und sowohl für die Gesamtsteuerung der Institute wie auch für deren laufende Beaufsichtigung.

Inverse Stresstests

Inverse Stresstests stellen eine Alternative zu Stresstests mit festen Szenarien dar. Bei inversen Tests wird untersucht, wie sich Risikofaktoren ändern müssen bis in der Bilanz des Instituts bestimmte Schwellenwerte - wie zum Beispiel eine Mindesthöhe des Eigenkapitals - erreicht werden.

Eine übergeordnete Definition des Schwellenwerts ist durch die sogenannte Nichtfortführbarkeit eines Geschäftsmodells gegeben. Dies kann aus einer Risikoperspektive oder Ertragsperspektive oder im Hinblick auf die Liquiditätsentwicklung analysiert werden. In der Mikro-Sichtweise unterscheiden sich die Ergebnisse von Institut zu Institut vor allem in Abhängigkeit vom jeweiligen Geschäftsmodell.

Bei dieser Vorgehensweise vermeidet man die Festlegung auf einheitliche Parametersetzungen bei der Definition der Szenarien. Dennoch müssen am Ende auch hier die Szenarien im Hinblick auf ihre Eintrittswahrscheinlichkeit beschrieben und unterschieden werden. Somit sind inverse Stresstests ein hochwirksames Instrument für das interne Risikomanagement von Instituten, denn der Bezug zum Geschäftsmodell stellt eine direkte Verbindung zur Steuerung des einzelnen Instituts her. Für die branchenweite Makro-Stressanalyse und die Erfassung von systemischen Risiken sind sie damit allerdings auch weniger geeignet.

Zyklizität und Automatismen

Bei regelmäßigem Einsatz können Stresstests in ihren Auswirkungen auf die Institute wie auf die Märkte stark prozyklisch wirken. Deshalb sollten sie nie isoliert und nicht als einziges Instrument des Risikomanagements eingesetzt werden. Innerhalb der Institute, aber insbesondere bei einer öffentlichen Diskussion von Stress-test-Ergebnissen entstehen Automatismen mit dem Anreiz oder sogar dem Zwang zur Bildung von mehr Eigenkapital oder zur Reduzierung als riskant erachteter Positionen. Mit solchen Automatismen wird aber den Instituten - und der Aufsicht - unternehmerischer Handlungsspielraum genommen.

Prozyklisch wirkende Steuerungsmaßnahmen bergen auch immer die Gefahr der selbsterfüllenden Vorhersage in sich. Dies gilt umso mehr bei einer Veröffentlichung der Ergebnisse von Makro-Stresstests mit "bestanden" oder "nicht bestanden" ohne tiefer gehende Zusammenhänge in der Öffentlichkeit.

Differenzierung der Ergebnisse

Es entsteht ein Risiko, dass die Öffentlichkeit ein Nichtbestehen mit einem bevorstehenden Konkurs oder mit Insolvabilität gleichsetzt (oft wird nicht einmal zwischen diesen beiden Ereignissen unterschieden). Bei Nichtbestehen läuft ein Institut deshalb Gefahr unter Druck zu geraten, dann wird mit dem Stresstest unter Umständen gerade das bewirkt was man zu vermeiden versucht. Die Institute oder auch die Aufsicht werden wiederum versuchen dies zu vermeiden, was eine Art Automatismus exante auslöst.

Gerade angesichts der Herausforderungen bei der Konzeption der Szenarien erscheint deshalb eine differenziertere Vorgehensweise bei der Berechnung und der Darstellung der Ergebnisse branchenweiter Stresstests angebracht: Flexible Bewertung: Zunächst kann man direkt an dem Problem der Additivität beim Aufspannen von immer mehr Stress-Szenarien ansetzen. Dieser Additivität von Szenarien, die ja in der Realität dann immer unwahrscheinlicher wird, kann damit begegnet werden, dass man von der Regel Abstand nimmt, dass zum Bestehen des gesamten Stresstests immer sämtliche Einzeltests bestanden werden müssen.

Alternativ kann mit einer anderen Konditionierung zur Bestimmung der Endergebnisse gearbeitet werden. Einfache Varianten wären beispielsweise über Vorgaben darstellbar, dass der gesamte Stresstest dann als bestanden gilt, wenn nicht sämtliche sondern nur eine Mehrheit der Einzeltests bestanden wird, zum Beispiel drei von vier. Weiterführend könnte als Vorgabe gemacht werden, dass bestimmte als besonders wichtig erachtete Einzeltests immer bestanden werden müssen. Eine solche flexiblere Bewertungsregel würde vor allem dazu dienen, den Problemen bei der Definition konsistenter Stressszenarien Rechnung zu tragen und diese zu kompensieren.

Differenzierung der Ergebnisse: Eine flexiblere Definition der Bestehensregeln von Stresstests führt natürlicherweise zu einer Auffächerung bei der Darstellung der Ergebnisse. Es war jüngst zu beobachten, dass Risikofaktoren beziehungsweise Szenarien adjustiert wurden, um eine als zu hoch erachtete Zahl von Ergebnissen mit "nicht bestanden" zu vermeiden. Somit wurden wegen der Veröffentlichung der Ergebnisse in vereinfachter Form mit "bestanden" oder "nicht bestanden" Szenarien und Ergebnisse erzeugt, wie sie vielleicht bei Stresstests im internen Risikomanagement nicht erzeugt worden wären. Eine differenziertere Darstellung der Ergebnisse - zum Beispiel auf einer Ordinalskala mit Noten von eins bis fünf würde deshalb vor allem helfen, undifferenzierte Interpretationen von Ergebnissen zu vermeiden.

Relativierung eines mächtigen Instruments

Eine stärkere Differenzierung der Ergebnisse von Stresstests verringert damit die Gefahr von Überreaktionen und daraus entstehenden selbsterfüllenden Prophezeiungen. Ebenso vermindert sich die Neigung zu einer politisch geprägten Rückkoppelung zu den Szenarien mit einer daraus möglicherweise resultierenden Unterschätzung von Risikopositionen.

Mit einer Differenzierung der Ergebnisse würden branchenweite Stresstests dann auch in die Nähe von Rating-Verfahren rücken, was durchaus sachgerecht erscheint. Allerdings würden die Vorgaben nicht von externen Ratingagenturen gesetzt, sondern von der Aufsicht in Zusammenarbeit mit den Instituten. Es hat sich doch in vielen Bereichen durchgesetzt, dass Beurteilungen von Eigenschaften differenzierter als nur in zwei Ausprägungen dargestellt werden. Und auch im Risikomanagement ist es sinnvoll, dass mächtige Instrumente bedächtig eingesetzt und in ihren Aussagen bisweilen relativiert werden.

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