Aufsätze

Die neue europäische Geldpolitik - eine kritische Analyse

Die Notenbanken der Industrieländer haben es seit dem Sommer 2007 mit Problemen zu tun, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Im Verlauf der nunmehr fast siebenjährigen Finanzkrise zeigte sich, dass sich die geldpolitischen Ziele nicht mehr wirksam allein durch die Variation von Zinsen, kurzfristiger Bankenliquidität, Mindestreserven und Wechselkursen erreichen ließen, wenn sich die Inflationsraten der Null-Linie nähern und Haushalte, Banken und die Finanzminister der Staaten gleichzeitig vor allem eines wollen: ihre Schulden abbauen. Die herkömmlichen Instrumente wurden bis zum Anschlag genutzt, sie erwiesen sich aber als unzureichend. Auf weniger als Null lassen sich die Leitzinsen nicht senken (Abbildung 1).

Neuer Instrumentenkasten

Diskutiert und teilweise von der EZB und anderen Notenbanken schon eingesetzt werden inzwischen direkte Interventionen an den Märkten für Staatsanleihen und verbriefte Kredite (quantitative easing), auch "Gelddrucken" genannt; öffentliche Festlegungen, dass die Leitzinsen für längere Zeit, manchmal auf Jahre hinaus, niedrig bleiben werden oder dass alles getan werde, um die Inflationsrate für eine Weile über die bisherige Zielmarke hinaus zu erhöhen, wie es etwa Olivier Blanchard vom Internationalen Währungsfonds vorgeschlagen hatte (forward guidance); negative Zinsen auf die Einlagen der Banken bei ihren Zentralbanken; langfristige und voll zugeteilte Kredite an Banken zu Sätzen, die zuvor nur für kurze Fristen galten (LTROs = long-term refinancing operations, auf Deutsch LRGs = langfristige Refinanzierungsgeschäfte); finanzielle Anreize für die Banken, damit sie das billige und reichliche Geld, das sie sich bei den Notenbanken leihen können, für zusätzliche Kredite an Haushalte und Unternehmen verwenden; oder das Absenken der Qualitätsstandards bei den Sicherheiten, die Banken für Geldmarktgeschäfte mit den Notenbanken einsetzen dürfen (qualitative easing).

Verbale Interventionen, mit denen versucht wird, Einfluss auf den Wechselkurs und das lange Ende der Renditekurve zu nehmen, befinden sich ebenfalls im neuen Instrumentenkasten. Man denke an die Versicherung von EZB-Präsident Mario Draghi vom 26. Juli 2012, dass die EZB alles tun werde, um den Euro zu stabilisieren - und wie außergewöhnlich wirksam das war. Es lohnt sich, Draghi an dieser Stelle einmal wörtlich zu zitieren: "Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough." An dem Tag kostete ein Euro 1,23 US-Dollar, heute (Ende April 2014) steht er bei 1,38 US-Dollar. Zehnjährige griechische Staatsanleihen rentierten damals mit nicht weniger als 25,8 Prozent, heute sind es weniger als sechs Prozent, und das alles durch den simplen Hinweis, dass die EZB über unbegrenzte Mittel verfügt. Es gibt sicher auch andere Gründe für diese dramatischen Marktbewegungen, aber Draghis verbale Intervention war eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende.

EZB: Blasenbildung zugelassen

Die Liste der verfügbaren geldpolitischen Instrumente dürfte keineswegs erschöpfend sein. Für den EZB-Rat ebenso wie für die Geldpolitiker in anderen Ländern gibt es kaum noch Tabus.

Es hatte sich gezeigt, dass eine zentrale Annahme, die Notenbanker seit Jahrzehnten nicht hinterfragt hatten, nicht zu halten war, dass nämlich Preisstabilität quasi automatisch einen stabilen und damit krisenresistenten Finanzsektor hervorbringen oder sogar garantieren würde. Die beunruhigende Einsicht verbreitete sich, dass niedrige aktuelle und erwartete Inflationsraten, verbunden mit einer lockeren Geldpolitik, geradezu eine Einladung zum exzessiven Schuldenmachen waren und damit, wie sich im Verlauf der Finanzkrise herausstellte, systemische Risiken erzeugten, die die Stabilität der gesamten Volkswirtschaft gefährdeten.

In der europäischen Währungsunion etwa haben die Kredite an private Haushalte und Unternehmen in den knapp zehn Jahren von der Einführung des Euro im Januar 1999 bis zum Herbst 2008 von 5,13 Billionen Euro auf 10,87 Billionen Euro zugenommen, also um 111 Prozent, in einer Zeit, in der das nominale Sozialprodukt lediglich um 52 Prozent gestiegen war. Die durchschnittliche Inflationsrate lag im Übrigen bei 2,2 Prozent, und damit knapp über dem Zielwert der EZB (Abbildung 2).

Die Zahlen sprechen dafür, dass die EZB gut daran getan hätte, in den Jahren bis zum Beginn der Finanzkrise die Zuwachsrate von M3 nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, so wie sie sich das ursprünglich vorgenommen hatte. M3 ist hoch korreliert mit den Krediten; die beiden Zuwachsraten waren im besagten Zeitraum fast identisch (Das überrascht nicht: Es sind ja die jeweils wichtigsten Komponenten auf der Aktiv- und Passivseite der Bilanz des Bankensektors).

Aber der Grund, dem monetären Pfeiler mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wäre damals weniger die Sorge um die Preisstabilität gewesen - daran war ja nicht viel auszusetzen -, sondern vielmehr die Gefahr von Vermögensblasen. Diese hatte die Mehrheit des EZB-Rats vielleicht gesehen, aber nicht ernst genommen. Wie die übrigen wichtigen Notenbanken hatte die EZB sehenden Auges zugelassen, dass es zu Blasen kam. Es fehlte das Gefühl dafür, wie der Einbruch der Vermögenspreise einmal zu einer Überschuldung von Haushalten und Banken führen könnte, und welche katastrophalen Folgen die daraus resultierende Finanzkrise für Konjunktur und staatliche Budgets haben würde.

Der Vorwurf lässt sich nicht vermeiden, dass die EZB in den frühen goldenen Nullerjahren eine schuldengetriebene Blasenbildung zugelassen hat und damit mitverantwortlich, um nicht zu sagen hauptverantwortlich war für die folgende Finanzkrise und damit infolge der extrem teuren Bankenrettungen auch für die europäische Staatsschuldenkrise. Es ist inzwischen klar geworden, dass Notenbanken ein viel umfassenderes Mandat haben, als sie sich das bis vor einigen Jahren vorgestellt hatten. Es geht für sie nicht mehr allein um stabile Preise oder darum, wie sie die Wirtschaft stimulieren können, sondern mindestens so sehr um die Stabilität des Finanzsektors. Der Lernprozess ist in vollem Gange.

Finanzstabilität als Ziel - aber keine schlagkräftigen Instrumente

Besonders die Europäische Zentralbank befindet sich in einer schwierigen Lage. Ihre Aufgaben bestehen jetzt darin, die drohende Deflation abzuwenden und den Finanzsektor wetterfest zu machen. Was das Letztere angeht, wird es auf absehbare Zeit kein zentrales Schatzamt geben, mit dem sich die Schließung und Rekapitalisierung von Banken koordinieren ließe. Noch fehlen ihr hier die geeigneten Instrumente, und sie bewegt sich auf unbekanntem Territorium. Vielleicht entwickelt sich eines Tages aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eine zentrale Institution, die in großem Stil Eurobonds begeben kann, aber vorläufig hat es die EZB mit 18 Finanzministern zu tun, die eifersüchtig darauf achten, dass sie ihre hoheitlichen Rechte behalten und, soweit sie potenzielle Gläubiger sind, nicht für die Schulden der anderen aufkommen müssen. Und es fehlt an einer gemeinsamen Einlagensicherung.

Immerhin wird ab Anfang November 2014 eine bei der EZB angesiedelte Bankenaufsicht ihre Arbeit aufnehmen und für die 18 nationalen Aufseher als oberste Behörde fungieren. Insgesamt kommt die Bankenunion voran, sogar rascher als es bis vor Kurzem erwartet werden konnte. Trotzdem wird der Prozess noch bis Ende des Jahrzehnts dauern. Er wird sich noch länger hinziehen, wenn sich die Regierungen weigern, oder von ihren Verfassungsgerichten daran gehindert werden, Steuergelder wie in einem Bundesstaat dauerhaft von den reicheren in die ärmeren Mitgliedsländer zu transferieren. Es kann aber auch schneller gehen, dann nämlich, wenn der Bankensektor erneut auf der Kippe steht und die nächste systemische Krise droht. Krisen waren in der Vergangenheit stets der wirksamste Katalysator für Beschlüsse in Richtung europäische Einigung.

Nach wie vor dürften die europäischen Banken Bilanzprobleme haben. Erst wenn das Asset Quality Review (AQR), das die EZB veranlasst hat, im kommenden Herbst abgeschlossen ist, wird sich sagen lassen, wie es um den Sektor tatsächlich bestellt ist. Den börsennotierten Banken geht es immer noch nicht so richtig gut - erstaunlicherweise mit Ausnahme der spanischen. Die Preis-zu-Buch-Verhältnisse, die die Bonitätseinschätzung der Anleger widerspiegeln, liegen meist deutlich unter Eins. Wenn der Marktwert niedriger ist als der Buchwert einer Bank, lohnt es sich im Grunde, diese zu zerlegen und die Teile einzeln zu verkaufen.

Es ist nicht auszuschließen, dass die nichtnotierten Banken noch schlechter dastehen als die börsennotierten. Mit anderen Worten, das Risiko einer größeren europäischen Bankenkrise besteht immer noch. Vermutlich wird es dazu wegen der sich bessernden Konjunktur und der rekordniedrigen Refinanzierungskosten der Banken nicht kommen, aber selbst wenn es passierte, dürfte sich eine solche Krise unter dem Druck der Umstände meistern lassen. Es fehlt nicht an Mitteln, höchstens am Willen zu mehr Solidarität. Wenn es wirklich ernst wird, dürfte es aber auch daran nicht mangeln.

Inflationsziel deutlich verfehlt

Aktuell geht es in der Geldpolitik vor allem um etwas anderes: Wie lässt sich verhindern, dass die Wirtschaft in die Deflation abgleitet? Die Verbraucherpreise waren zuletzt nur noch 0,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor und lagen damit weit unter dem selbstgesetzten Zielwert. Gefährlich wird es, wenn es weiter in Richtung Null geht und sich der Eindruck verbreitet, dass das Preisniveau dauerhaft sinken wird.

Noch ist es nicht so weit. Aus den inflationsgeschützten Staatsanleihen von Deutschland, Frankreich und Italien lässt sich ablesen, dass für die durchschnittliche jährliche Geldentwertung in den nächsten fünf Jahren eine Rate von plus 1,0 Prozent, für die nächsten zehn Jahre eine von etwa 1,3 Prozent erwartet wird. Noch sieht es für die Marktteilnehmer nicht nach Deflation aus. Aber es dürfte nicht überraschen, wenn sich die Erwartungen nach unten anpassen, sollte die aktuelle Inflation dauerhaft niedrig bleiben oder sogar weiter zurückgehen.

Was das Ziel der Preisstabilität angeht, wird es zurzeit deutlich verfehlt. Dabei überzeichnet die Inflationsrate tendenziell die wahre Geldentwertung. Qualitätsverbesserungen und die Tendenz der Verbraucher, mehr von dem zu kaufen was relativ billig wird, werden bei der Berechnung nicht angemessen berücksichtigt. Eine Inflationsrate von etwa einem Prozent bedeutet daher vermutlich bereits absolute Preisstabilität, und eine von 0,5 Prozent Deflation, also einen Rückgang des allgemeinen Preisniveaus. Nach dem Verständnis der Europäischen Zentralbank und anderer Zentralbanken haben die Verbraucher das Gefühl, die Preise seien stabil, solange die offizielle Inflationsrate bei zwei Prozent liegt, auch wenn das objektiv gesehen nicht der Fall ist.

Wenn das Preisniveau mit dieser Rate zunimmt, können sich im Übrigen die relativen Preise einigermaßen reibungslos an neue Marktverhältnisse anpassen und damit die optimale Allokation der Ressourcen erleichtern. Wenn sich beispielsweise einige Waren, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren um vier Prozent verteuern, ebenso viele andere dagegen gar nicht, ist das vermutlich besser, als wenn die eine Hälfte der Preise und Löhne um drei Prozent zunimmt, die andere dagegen um ein Prozent sinkt. Im ersten Fall liegt die durchschnittliche Inflationsrate bei zwei Prozent, im zweiten bei einem Prozent.

Lektion gelernt?

Zwei weitere Argumente sprechen dafür, eine etwas raschere Geldentwertung anzustreben: Sie bewirkt zum einen eine stärkere Umverteilung der Einkommen zulasten der Sparer und zugunsten der Schuldner oder, anders ausgedrückt, zulasten der Vorsichtigen und zugunsten derer, die investieren und damit zum Wachstum des Kapitalstocks beitragen. Bei einer Inflationsrate von zwei Prozent ist das ein vertretbares Argument, bei galoppierender Inflation wäre es allerdings unverantwortlich und ungerecht.

Zum anderen ist der Zielwert der EZB etwas, an das sich die Tarifparteien bei ihren Lohnverhandlungen halten können - oder sollen, jedenfalls mittelfristig. Da die europäische Produktivität vor der Krise im Trend um etwa 1,5 Prozent jährlich zugenommen hatte, ist eine Rate von zwei Prozent in "normalen" Zeiten so etwas wie eine Unterkante für die Lohnabschlüsse. Auf breiter Front sinkende Löhne, und damit Einkommen, sind Gift für die Konjunktur und höchstens temporär vertretbar in Krisenländern, die zuvor durch Lohninflation zu viel an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hatten und nicht in der Lage sind, ihre Währungen abzuwerten - weil sie diese Kompetenz mit der Einführung des Euro abgegeben hatten.

Insgesamt ist der Rückgang der Inflationsrate auf 0,5 Prozent eine bedenkliche Sache. Die traditionellen geldpolitischen Instrumente sind gut geeignet für den Kampf gegen die Inflation, der das Weltbild der heutigen Notenbanker geprägt hat. Sie wurden seit den frühen achtziger Jahren mit Erfolg eingesetzt. Wie sich aber immer mehr erweist, reichen sie in einer Situation wie der heutigen für sich genommen nicht aus, eine Deflation zu verhindern. Damit sich keine Deflationsmentalität breitmacht und die europäische Wirtschaft dann nach japanischem Muster vor sich "hindümpelt", ist entschlossenes und nicht zu zaghaftes geldpolitisches Handeln das Gebot der Stunde. Keine Frage, damit werden neue Risiken eingegangen, vor allem was eine neue Lohn-Preis-Spirale und die übermäßige Verteuerung von Aktien, Immobilien und Rohstoffen angeht. Damit aber will sich die EZB nach dem Motto "first things first" erst dann beschäftigen, wenn sie virulent geworden sind. Für den Fall sind ja schlagkräftige Instrumente zur Hand.

Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang allerdings an Alan Greenspan, den ehemaligen Chef der Fed, der sich in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts geweigert hatte, in den stark steigenden amerikanischen Aktienkursen und Immobilienpreisen eine Gefahr zu sehen, die frühzeitige Gegenmaßnahmen erforderte. Er ließ den Märkten ihren Lauf, ohne zu ahnen, was realwirtschaftlich passiert, wenn schuldengetriebene Vermögensblasen eines Tages platzen und Haushalte und Banken in der Folge gezwungen sind, durch forciertes Sparen ihre Kreditwürdigkeit wiederherzustellen, also ihre Schulden abzubauen. Blasen platzen immer, wenn auch meistens später als es rationale Beobachter erwarten. Es ist nur zu hoffen, dass die EZB und die anderen großen Notenbanken ihre Lektionen gelernt haben und es nicht noch einmal zu solch gefährlichen Blasen kommen lassen, jedenfalls nicht in den nächsten 50 Jahren.

"Ausgewogenes Wirtschaftswachstum" - ein nicht erreichtes Ziel

Die niedrigen und möglicherweise weiter sinkenden Inflationsraten erlauben es der EZB, dem zweiten Teil ihres Mandats mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher, nämlich für mehr Wachstum zu sorgen. In Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es: "Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ... ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union." In Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union steht, um was es sich dabei handelt: ausgewogenes Wirtschaftswachstum und eine "soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt", neben Umweltzielen und wissenschaftlichem und technischem Fortschritt. Wie genau dieser Teil des Mandats mit Leben zu füllen wäre, ist bislang noch nicht Thema einer breiten öffentlichen Diskussion gewesen.

Seit Menschengedenken war die Geldpolitik in den Ländern des Euroraums und den übrigen Industrieländern nicht mehr so expansiv wie heute. Das Deflationsrisiko wird nach langem Leugnen inzwischen sehr ernst genommen (Abbildung 3).

Wenn erst einmal Deflationsmentalität herrscht und Käufe daher in die Zukunft verschoben werden, ist es sehr schwer, die Konjunktur durch geldpolitische Maßnahmen zu stimulieren. Deutlich unter Null werden die Leitzinsen selbst in Extremfällen kaum sinken können, sodass ein rückläufiges Preisniveau gleichbedeutend ist mit einem prozyklischen Anstieg der Realzinsen.

Dass Deflation ein nicht nur theoretisches Risiko darstellt und unter allen Umständen verhindert werden muss, hat vor allem damit zu tun, dass das reale Bruttoinlandsprodukt in den OECD-Ländern weit unterhalb seines Potenzialwerts liegt. Der Konjunktureinbruch der Jahre 2008 und 2009 sowie, im Euroraum, die Stagnation der Jahre 2012 und 2013, konnten bisher noch keineswegs ausgeglichen werden. Anders als nach früheren Rezessionen war der Aufholprozess enttäuschend langsam, selbst in den USA, die in vielerlei Hinsicht besser dastehen als der Rest. Wie Reinhart und Rogoff in ihrem Buch "This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly (2009)" gezeigt hatten, handelt es sich um ein Phänomen, mit dem nach einer so großen Finanzkrise wie der jetzigen gerechnet werden muss.

Große freie Kapazitäten

Es gibt daher reichlich freie Kapazitäten und damit einen scharfen Wettbewerb um Kunden - was es den Unternehmen erschwert, ihre Preise zu erhöhen. Je schlechter Maschinen und Anlagen ausgelastet sind, desto niedriger sind die Grenzkosten der zusätzlichen Produktion. Die wiederum bestimmen auf vielen Märkten die Outputpreise. Es zahlt sich für unterbeschäftigte Unternehmen aus, mit Kampfpreisen Marktanteile zu erobern. Im Euroraum etwa waren die industriellen Erzeugerpreise zuletzt 1,7 Prozent niedriger als vor Jahresfrist. Auf der Ebene, die dem privaten Verbrauch vorgelagert ist, herrscht seit einiger Zeit bereits Deflation.

Große freie Kapazitäten gibt es zudem am Arbeitsmarkt. Das umfassendste Maß dafür ist die Erwerbsquote, die den Anteil der erwerbstätigen Personen am sogenannten Erwerbspersonenpotenzial misst. Die Quote ist in den Industrieländern seit Mitte 2008 dramatisch gesunken und hat sich in letzter Zeit bestenfalls auf niedrigem Niveau stabilisiert. Deutschland ist in dieser Hinsicht eine erfreuliche Ausnahme. Weil nach wie vor so wenige neue Jobs angeboten werden, haben viele Menschen die Suche nach einem Arbeitsplatz aufgegeben und werden nicht mehr erfasst. Vor allem aus diesem Grund sind die Arbeitslosenquoten der USA, Großbritanniens und Japans in den vergangenen Jahren kräftig zurück gegangen oder niedrig geblieben. Im Euroraum wird die offizielle Arbeitslosigkeit nicht durch solche Datenakrobatik geschönt: Ein Arbeitsloser bleibt ein Arbeitsloser, auch wenn er die Suche eingestellt hat. Die Quote liegt weiterhin bei etwa zwölf Prozent und damit auf Rekordniveau. Große Sorgen macht vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, die fast doppelt so hoch ist.

Die Arbeitnehmer befinden sich angesichts dieses Umfelds in einer schwachen Verhandlungsposition, jedenfalls im Durchschnitt. Dass die Löhne dennoch steigen, wenn auch häufig nur nominal, nicht real, lässt sich vor allem durch eingefahrene Prozesse erklären, nach denen sich ihr Anstieg billigerweise an dem Produkt aus Produktivitätswachstum und erwarteter Inflationsrate orientiert, wobei die Abweichungen davon durch die Konjunktur bestimmt werden. Zudem scheint es zumindest in den reichen Ländern ein Gefühl dafür zu geben, um wieviel die Löhne fairerweise steigen sollten, vor allem im Vergleich zu den Gewinnen. Mindestlöhne und überproportionale Zuwachsraten für die unteren Lohngruppen sind ein Ausdruck davon.

Sinkende Lohnstückkosten

Die Löhne sind historisch gesehen der wichtigste Treiber der Verbraucherpreisinflation. Ohne Lohninflation keine allgemeine Inflation. Den Geldpolitikern dürfte klar sein, dass von dieser Seite keine Gefahr droht. Es ist sogar damit zu rechnen, dass die Lohnstückkosten im Verlauf des Wirtschaftsaufschwungs, der für die OECD-Länder vorhergesagt wird, sinken werden. Wegen der großen Kapazitätsreserven könnte nämlich die Produktivität in einem solchen Szenarium stärker zunehmen als die Löhne. Die Unternehmen würden ihre Gewinne steigern können, ohne dass sie die Preise erhöhen müssten.

Schließlich besteht das Risiko, dass die Industrieländer aus strukturellen Gründen Deflation importieren. Die internationale Arbeitsteilung nimmt über alle konjunkturellen Zyklen hinweg mit großen Schritten zu. Ein Indiz dafür ist der Welthandel, der langfristig etwa doppelt so rasch expandiert wie das reale Sozialprodukt der Welt. Daran wird sich vorläufig nichts ändern: Die Handelsschranken werden tendenziell immer weiter abgebaut, die Transportkosten sinken dramatisch, nachdem es inzwischen Schiffe gibt, die 14 000 Container oder 300 000 Tonnen Erdöl laden können, und die Transparenz der Märkte nimmt mit dem Vordringen des Internets ständig zu.

Dabei entwickelt sich global nicht nur ein gemeinsamer Markt für Waren, sondern sogar für Dienstleistungen und für den Faktor Arbeit. Der deutsche Fabrikarbeiter konkurriert zunehmend mit Vietnamesen und Brasilianern. Das heißt nichts anderes, als dass er das niedrige Lohnniveau und die meist rapide Zunahme der Produktivität in den Schwellenländern im Auge behalten muss, wenn er seinen Job behalten will. Die sinkenden Einfuhrpreise dämpfen in Nordamerika, Westeuropa und Japan also nicht nur die Inflation bei den Verbraucherpreisen, sondern indirekt auch die Lohninflation. Nur durch eine Abwertung von Dollar, Euro oder Yen ließe sich das verhindern, aber zumindest für die beiden Reservewährungen Dollar und Euro ist das keine Alternative - weil es kein Wechselkursziel gibt, wird nicht am Devisenmarkt interveniert. Draghis verbale Intervention vom Juli 2012 hatte übrigens, was ihre Wirkung auf den Eurokurs anging, deflationäre Effekte; im Vergleich zu den positiven Effekten auf die Rentenmärkte und den Zusammenhalt der Währungsunion war das aber eher unwichtig. Insgesamt sprechen die großen Produktionslücken, die Unterbeschäftigung sowie sinkende Einfuhrpreise dafür, dass es derzeit kein Inflationsrisiko gibt und die expansive Geldpolitik daran so schnell nichts ändern wird. Dagegen besteht sehr wohl ein Deflationsrisiko. Das gilt vor allem für den Euroraum.

Das vertrackte Problem des "deleveraging"

Es fragt sich, ob die Geldpolitik überhaupt geeignet ist, in der jetzigen Situation Deflation zu verhindern, wenn das Hauptproblem darin besteht, dass in weiten Bereichen der Wirtschaft Schuldenabbau und Bilanzsanierung Vorrang haben. Zweifellos lässt sich das sogenannte Deleveraging dadurch beschleunigen, dass die Notenbank de facto Geld verschenkt. Wer Geld geschenkt bekommt, kann damit seine Schulden begleichen. Ben Bernanke hat das einst "helicopter money" genannt. Technisch gibt es kein Problem: Jede Notenbank kann durch den Ankauf von privaten und staatlichen Anleihen, verbrieften Krediten, Aktien, Fremdwährungen, Gold, Immobilien oder Kunstwerken unbegrenzt Geld in der Bevölkerung verteilen. Die Preise dieser Assets werden steigen, deren Eigentümer dadurch reicher, die Notenbank dagegen verlängert ihre Bilanz und die Qualität ihrer Aktiva. Praktisch gibt es allerdings doch ein Problem: Eine solche Strategie würde neue gefährliche Blasen mit sich bringen.

Die Fed ist in puncto "Gelddrucken" bislang deutlich aggressiver als die EZB. Es lässt sich daran ablesen, dass ihre Bilanzsumme nach wie vor stark zunimmt, während die der EZB seit eineinhalb Jahren kräftig sinkt. Seit Anfang 2007 - als die Welt noch in Ordnung war -, hat die Fed ihre Bilanz um 380 Prozent aufgebläht. Die EZB hat sich in dieser Zeit mit etwa 90 Prozent begnügt (Abbildung 4). Die gute konjunkturelle Entwicklung gibt der Fed bisher recht, ebenso wie die etwas höhere Inflationsrate (1,1 Prozent im Vorjahresvergleich).

Dauerhaft niedrige Leitzinsen sind ein anderes Mittel, mit dem sich zumindest bei den Banken das "deleveraging" und damit die Kreditvergabe und die Konjunktur beschleunigen lassen. Deren wichtigste Einnahmequelle ist die Differenz zwischen den Zinsen, die sie für Kundeneinlagen und eigene Schuldverschreibungen zu zahlen haben, und den Zinsen, die sie für Kredite und Wertpapiere erhalten. Die Leitzinsen bestimmen weitgehend die Refinanzierungskosten und können aus Sicht der Banken ceteris paribus gar nicht niedrig genug sein: Je größer die Zinsmarge, desto besser für die Gewinne und die Entwicklung des Eigenkapitals. "Deleveraging" kann schon dadurch gelingen, dass der Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme zunimmt.

Höhere Eigenkapitalquoten?

Wenn die Bankenregulierer höhere Eigenkapitalquoten verlangen, hat das denselben Effekt, Stichwort "Basel III". In dieser Hinsicht ist der Fortschritt allerdings sehr langsam. Es wird befürchtet, dass es zu einem Bankensterben und zu einer zu starken Konzentration im Finanzsektor kommt, was nicht gut für den Wettbewerb wäre - und dass die (oft hoch verschuldeten) Eigentümer der öffentlichen und genossenschaftlichen Banken mit Kapitalinjektionen überfordert wären. Überhaupt keine Erfolgsaussichten hat daher der Vorschlag von Admati und Hellwig, die Eigenkapitalquoten auf eine Größenordnung von 25 Prozent hochzuschrauben.

Das wird von den Bankern als eine Zumutung verstanden, vor allem bei den Großbanken, wo (ungewichtete) Quoten von drei bis fünf Prozent als normal gelten, wo also routinemäßig mit gewaltigen Hebeln (Eigenkapital zu Fremdkapital) gearbeitet wird. In der übrigen Wirtschaft sind Quoten von 20 bis 40 Prozent dagegen üblich. Die Banken können gegenüber der Politik immer noch den Eindruck vermitteln, dass sie eine Sonderbehandlung verdienen, ebenso dass sie ein Anrecht auf eine dauerhafte Subvention ihrer Erträge durch einen privilegierten Zugang zu billigem Zentralbankgeld haben.

Dem Staat helfen niedrige Leitzinsen, soweit sie auf die gesamte Renditekurve ausstrahlen, seine Schulden rascher zurückzufahren als erwartet. Das ist einer der Gründe, warum Krisenländer wie Griechenland und Portugal vor Kurzem wieder als Emittenten am Kapitalmarkt auftreten konnten.

Das "deleveraging" der privaten Haushalte kann sich ebenfalls durch sinkende Zinsen beschleunigen. Da Immobilien auf dem europäischen Kontinent überwiegend langfristig und zu festen Sätzen finanziert werden, dauert es allerdings Jahre, bis dieser Effekt greift.

Die Länder des Euroraums, wie im Übrigen auch Japan, haben in dieser Hinsicht im Vergleich zu den USA einen strukturellen Nachteil. In Amerika erfolgen die Zinsanpassungen im Durchschnitt viel rascher, sodass Richtungsänderungen in der Geldpolitik schneller greifen. Die USA haben einen weiteren strukturellen Vorteil in einer Situation, in der Entschuldung wirtschaftspolitisch höchste Priorität hat: Der Kapitalmarkt spielt eine deutlich wichtigere Rolle in der Vermittlung zwischen Sparern und Investoren als die Banken. Dadurch braucht nicht so sehr auf die Wünsche von Banken Rücksicht genommen zu werden, die auf Bergen von notleidenden Krediten sitzen. Deren Position gegenüber den Aufsehern, der Zentralbank und dem Schatzamt ist entsprechend schwach, und es fällt leichter, sie zu schließen oder zur Sanierung ihrer Bilanzen zu zwingen.

Bewegung auf unbekanntem Gelände

Insgesamt bewegt sich die europäische Geldpolitik seit dem Beginn der Finanzkrise in sehr unwegsamem, um nicht zu sagen unbekanntem Gelände. Es ist ihr nicht gelungen, die Inflationsrate in die Nähe ihres Zielwerts von knapp zwei Prozent zu bringen - weil das "deleveraging" noch nicht abgeschlossen ist. Sie konnte daher auch keinen signifikanten Beitrag zur Stimulierung der Konjunktur und damit zur Vollbeschäftigung zu leisten.

Da es, drittens, kein europäisches Schatzamt gibt, also keinen Emittenten gemeinsamer Eurobonds und damit keinen starken Partner, der als "lender of last resort" zu Hilfe gerufen werden könnte, fällt ihr auch die Aufgabe nicht leicht, die Finanzmärkte nachhaltig zu stabilisieren. Die Bankenunion wird zwar kommen, und sie ist auf gutem Weg, aber es bleibt ein langwieriger Prozess; viele unterschiedliche Interessen sind unter einen Hut zu bringen.

Trotzdem bleibt am Ende ein positives Fazit: Der Euro hat seine Feuerprobe bestanden; keines der 18 Mitgliedsländer sieht Vorteile darin, die Währungsunion zu verlassen; es scheint sich ein Konsens gebildet zu haben, dass die gemeinsame Währung finanzpolitische Disziplin und Kooperation erfordert; der Außenwert ist so fest, dass der Status des Euro als Reservewährung nicht in Frage steht (was dauerhaft niedrige Realzinsen begünstigt); und es ist letztlich vielleicht gar nicht so schlecht, wenn auch der Binnenwert, gemessen an der Inflationsrate, so stabil ist. Wenn da nicht das Deflationsrisiko wäre.

Literatur

Admati, Anat und Martin Hellwig (2013): The Bankers' New Clothes. Princeton and Oxford: Princeton University Press Princeton University Press.

Reinhart, Carmen M. und Kenneth S. Rogoff (2009): This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly. Princeton and Oxford: Princeton University Press.

Prof. Dr. Diethard B. Simmert , Studiengangsleiter Finance & Management , International School of Management (ISM), Dortmund, Frankfurt am Main
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