Aufsätze

Die Systemkrise der Disintermediation - zu den Herausforderungen eines Paradigmenwechsels

In der Diskussion zur gegenwärtigen Finanzmarktkrise stehen die Forderungen nach mehr Transparenz und mehr Bankenregulierung im Vordergrund. Wie die folgenden zehn Thesen zeigen sollen, geht es im Kern noch um anderes und um mehr.

1. Der Kollaps des US-Subprime-Mortgage-Marktes war nicht eine Folge mangelnder Transparenz, sondern Resultat eines Realitätsverlustes. Wie die Statistik zeigt, setzte die Preisumkehr im amerikanischen Wohnungsmarkt schon per Mitte 2005 ein (Abbildung 1). Das bremste in den folgenden zwei Jahren weder den weiteren Vertrieb noch die weitere Verbriefung von nicht erstklassigen Hypothekardarlehen zu immer laxeren Standards. Da die relevanten Marktdaten bekannt und öffentlich zugänglich waren, fehlte es nicht an Transparenz, sondern an Wahrnehmung. Man sah den Wald vor Bäumen nicht.

Ratings als Antwort auf das Vertraulichkeitsproblem

2. Kreditsensible Informationen sind vertraulich. Was passieren kann, wenn man vertrauliche Informationen über eine Kreditbeziehung transparent, das heißt öffentlich macht, hat Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf E. Breuer nach einem Fernsehinterview über Leo Kirch erfahren müssen. Weder wünscht ein Bankkunde, dass Informationen über seine Kreditwürdigkeit durch die Bank ohne seine Zustimmung an Dritte gelangen noch wünscht die Bank, dass der Kunde auf Basis der dem Kunden mitgeteilten Bonitätseinschätzung Gelder von Dritten einwirbt. Das macht Sinn und darf nicht vergessen werden. Ein großer Teil der Vertragstexte von Kreditsyndizierungs- und Verbriefungstransaktionen bezieht sich auf die Ausgrenzung von Haftungsrisiken und daraus womöglich resultierende Schadensersatzforderungen.

Aus demselben Grund beschreiben Ratingagenturen das Resultat ihrer Bemühungen in einer rechtlich bedeutsamen Untertreibung lediglich als eine Inanspruchnahme ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung. Mehr Transparenz ist in dieser Richtung nicht zu erwarten.

3. Ratings sind die Antwort auf das Vertraulichkeitsproblem kreditsensibler Informationen beim Transfer, der Messung und dem Vergleich von Risiko. Ratings abstrahieren und verdichten einen ursprünglichen Risikobefund in einer mit anderen Risiko/Renditekonstellationen vergleichbaren Weise. In der Nichtoffenlegung der ursprünglichen, vertraulichen, konkreten Risikoinformation liegt ihr praktischer Wert und ihre Unverzichtbarkeit.

Hierin liegt aber zugleich ihre Problematik. Denn das Rating eines Dritten, sei es eine Ratingagentur oder eine bankinterne Abteilung, entlastet den Empfänger, also andere Abteilungen der Bank oder einen Investor, von eigenen Überprüfungen, wenn es professionell erarbeitet und nach Überprüfung des Prozesses dieser Erarbeitung expert validiert wurde. So verstellt am Ende die abstrakte Ratingsystematik den Blick auf das konkrete Risikoumfeld und dessen Veränderungen. Realitätsverlust und Selbsttäuschung sind die Folge - Verluste auch.

4. Die Sehnsucht nach einer "Rückkehr der Hausbank" ist ein gefährlicher Traum: In einem Aufsatz von Ulrich Cartellieri unter dem Titel "Der Zwang zum Aufbruch"1) findet sich folgender kritischer Hinweis: "Kapitalmarktgetriebene Volkswirtschaften erfreuen sich höherer Wachstumsraten und niedrigerer Arbeitslosenzahlen als Volkswirtschaften wie die deutsche, in denen noch die traditionelle Bankwirtschaft dominiert." Der Beitrag hat dazu, leider ohne Quellenangabe, auch Zahlen geliefert (Abbildung 2).

Deutliche Entlastung von Bankrisiken durch Verbriefung

Aber das war in 2005, und da waren die Verbriefungsmärkte noch in Ordnung. Hat sich Cartellieri geirrt? Wolfgang Sprißler von der HVB jedenfalls meint neuerdings: "Es wäre vernünftig, wenn die komplexen Anlageklassen wieder mehr durch einfache Produkte ersetzt werden. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur gebotenen Transparenz."2) Wie genau das gemeint ist, wird allerdings nicht ganz klar, da sich doch die inzwischen aufgelöste, noch vom Hausbanksystem dominierte "Deutschland-AG" durch Intransparenz besonders ausgezeichnet hatte.

Aber natürlich würde man, zumal mit Hilfe entsprechender Regulierungen, auch kaputt bekommen, was transparenter ist und besser funktioniert als die alte "Deutschland AG": Die Bilanz des deutschen Verbriefungsmarktes ist, auch post US-Sub-prime-Mortgage-Marktkrise, eine einzige Erfolgsstory. Gerade die über die Promise-Plattform der KfW erfolgten Firmenkundenkreditverbriefungen haben die deutschen Banken in zweistelliger Milliardenhöhe von Bilanzrisiken entlastet und erfreuen sich aufgrund ordentlicher Performance weiterhin großer Attraktivität bei den Investoren.

5. Die tatsächlichen Probleme adverser Selektion wie der Risikoüberwachung sind noch nicht zufriedenstellend gelöst. Die bei der Übersetzung eines Ausgangsrisikos in ein Rating auftretenden Probleme würden auch bei einer "Rückkehr zum Hausbanksystem" fortbestehen. An ihnen ist in jedem Fall zu arbeiten. Im Vordergrund steht das Problem der adversen Selektion beim provisionsgetriebenen Vertrieb. Die Bank wird sich übrigens auch im Fall eines Selbstbehaltes bei einer Weitergabe kritischer Informationen an den jeweiligen Endinvestor sowohl aus Haftungsgründen wie zum Schutz des eigenen Engagements eher bedeckt halten.

Neben Haftungsüberlegungen geht es da immer um die Frage angemessen gesetzter wirtschaftlicher Anreize. So sind auch die für die - sich der ursprünglichen Risikoprüfung anschließende - spätere Risikoüberwachung bislang gegebenen Economic Incentives möglicherweise unzureichend.

Die institutionellen Investoren haben für die meisten Produktklassen im Verbriefungsmarkt inzwischen zwar ein vierteljährliches Performance-Reporting durchgesetzt. Die hierfür zur Verfügung stehende Information hinkt dem Eintritt und der Wahrnehmung tatsächlicher Risiken indessen häufig hinterher. Dasselbe gilt für die Relevanz und Aktualität bankinterner Ratings.

6. Die Substitution traditioneller Einzel - fall-Due-Diligence durch Portfoliorisikomodelle ermöglicht und verbilligt die Finanzierbarkeit sehr großer, fein gestreuter Pools, aber erhöht das Risiko der Betriebsblindheit. "Hi tech, lo touch, lo cost" lautete die frohe Botschaft der Verbriefer. Mit ein bisschen Mathematik lasse sich jedes Risiko verbriefen, wenn es nicht gerade ein reines Eigenkapitalrisiko sei. Man hat inzwischen beobachten müssen, dass auch ordentliche Risiken nicht mehr verbriefbar sind, wenn die Investoren das Vertrauen zu bestimmten Produktklassen erst einmal verloren haben. Dabei braucht es für die Wiederherstellung von Vertrauen erheblich mehr Zeit als für dessen Verlust.

Mathematische Fähigkeiten und eine gesunde Neugier

Trotzdem gilt für die Anwendung der weit verbreiteten und bewährten Portfoliorisikomodelle im Rating: Solange in der Risikomanagementkette ausreichend stark wirksame Incentives gesetzt werden können, die dazu führen, dass die Angemessenheit jedes Ratings fortlaufend analysiert und reflektiert wird, bleibt das akzeptabel. Hierfür genügen offenbar nicht lediglich mathematische Fähigkeiten, sondern es braucht eine ausgeprägte gesunde Neugier, sozusagen eine Mischung von Paranoia und Demut.

7. Zu den konzeptionell ungelösten Herausforderungen von Disintermediation gehört auch das Phänomen von "cove-lite" Finanzierungen. Zum Thema Disintermediation gehört neben der durch Ratings erfolgenden Abstraktion vom ursprünglichen Kreditrisiko auch die Atomisierung der Schuldner-Gläubiger-Beziehung. Bei strukturierten und verbrieften Produkten zeigt sich das im Extrem. Für den Investor ist es weder rechtlich noch faktisch, noch in wirtschaftlich vertretbarer Weise möglich, das ursprüngliche "Underlying Risk" gesondert ins Visier zu nehmen, auch nicht im Fall von Non-performance.

Infolgedessen wurde bei der Verbriefung von Unternehmensfinanzierungen hier und da auf die bei traditionellen Kreditverträgen üblichen Kündigungsgründe im Fall der Nichteinhaltung gewisser Auflagen verzichtet. Damit erhöht sich aber das Risiko, weil ein Unternehmer, selbst wenn er beim Eingehen einer "cove-lite" Finanzierung ein Fehlverhalten in keiner Weise geplant haben mag, im Fall einer späteren Krise seines Unternehmens versucht sein wird, sich auf eine Art und Weise zu retten, die ein traditioneller Kreditvertrag blockiert hätte. "Cove-lite" und "traditionelle" Finanzierungen des gleichen Unternehmens dürften also eigentlich nicht das identische Rating haben. In diese Richtung gab es allerdings bislang nicht genügend Druck, weil das "cove-lite" feature nicht explizit berücksichtigende Ratings das Placement nicht behinderten.

Umgang mit "cove-lite" Finanzierungen

Leicht höhere als erwartete Ausfälle bei kapitalmarktverbrieftem Mezzanine haben seit Beginn 2007 dieser Anlageklasse allerdings erstmals zu schaffen gemacht. Am einfachsten wäre jetzt, "cove-lite" Finanzierungen generell aus dem Angebot für Unternehmensfinanzierungen zu streichen. In diese Richtung weht zurzeit der Wind. Stattdessen könnte man aber auch überlegen, den Moral-Hazard-Faktor bei "covelite" Finanzierungen in den Ratingmodellen explizit zu berücksichtigen.

Das gilt natürlich nicht für Leveraged-Buy-Out-Kredite oder Schuldscheindarlehen, aber sicher für nachrangiges Mezzanine von Mittelstandsunternehmen besserer Bonität ohne eigenen Kapitalmarktzugang. Diese Mittelstandsunternehmen sind das Rückrat der europäischen Volkswirtschaften. Ihre notorische Eigenkapitalknappheit führt zu Finanzierungsnachteilen im globalen Wettbewerb, was durch kapitalmarktverbrieftes Mezzanine erstmals kosteneffizient korrigiert werden konnte. Rund 85 Prozent des in Deutschland im Jahre 2006 ausgereichten Mezza-nine-Kapitals entfiel auf derartige Verbriefungsprogramme.3)

8. Der Wettbewerb unter den Banken ist neben "Gier" Haupttreiber laxer Finanzierungsstandards. Hohe Vertriebsprovisionen und die Erwartung vermeintlich hoher Renditen auf Investorenseite haben stark zur Risiko- oder Betriebsblindheit im Vorfeld der Subprime-Mortgage-Marktkrise beigetragen. Das ist die immer wieder ähnliche Herdenmentalität von Financial Bubbles. Allerdings wirkt auch der Wettbewerb unter den Banken der Herausbildung und Beibehaltung vernünftiger Standards entgegen (Abbildung 3).4)

Konsolidierung von Zweckgesellschaften?

Der Verdacht liegt nahe, dass sich in der hoch gespannten Vorkonsolidierungsphase, wenn man die gegenwärtige deutsche Bankenlandschaft einmal so charakterisieren darf, eine Tendenz zu riskanten, sprich falsch konditionierten Verdrängungsstrategien der Eroberung zusätzlicher Marktanteile zeigt, um die eigene Verhandlungsposition für Übernahmeverhandlungen zu optimieren. Solche Tendenzen behindern natürlich sowohl die Markttransparenz wie die Einführung von Mindeststandards.

9. Re-Intermediation ist keine Option, sondern ein Horrorszenario. Die Zurücknahme nicht im Kapitalmarkt platzierbarer Forderungen auf die Bilanzen der arrangierenden Banken ist, wie man nur hoffen kann, ein vorübergehendes Phänomen in der jetzigen Phase extremer Risikoaversion. Schon die Konsolidierung von Zweckgesellschaften wird die Banken nicht unerheblich zusätzlich belasten. Re-Intermediation als generelle Tendenz würde im ganzen Bankensystem Leverage, Risiko und Eigenkapitalunterlegungsanforderungen zusätzlich erhöhen und damit einer Kreditkrise Vorschub leisten.

10. Der Paradigmenwechsel vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen traditioneller Hausbankfunktion und Disintermediation. Das triftige Urteil der "Hausbanken" über die ihnen nach wie vor nächsten Kunden erweist sich am Ende dieser Überlegungen als ihr wesentlicher verbleibender Wettbewerbsvorteil. Gegenüber der zunehmenden Dominanz international operierender Großbanken und institutioneller Investoren wächst für nur regional oder national operierende Institute weiter kein Kraut mehr. Allerdings stellt die Vertraulichkeit dieses Urteils über Bonität/Risiko des Kunden zugleich den eigentlichen Engpassfaktor bei der Herstellung einer Verbindung zu den kosten- und effizienzmäßig überlegenen Möglichkeiten des globalen Kapitalmarktes dar. Es geht somit um die Ermittlung des optimalen Mix von Origination, Portfolio-Management und Risikomanagement unter den neuen Rahmenbedingungen.

Der Rolle der Hausbank als ehrlichem und verantwortlichem Makler von Risiko kommt dabei potenziell die Schlüsselrolle zu, gerade auch aus Kundensicht. Wenn sich die Hausbanken dem nicht gewachsen zeigen oder verweigern, werden sich die reinen Finanzinvestoren mehr und mehr durchsetzen.

Fußnoten

1) In Zeitschrift "Internationale Politik", Heft Oktober 2005, Seite 51.

2) "Die Rückkehr der Hausbank ist denkbar" in FAZ vom 23. Oktober 2007.

3) Quelle: IKB Unternehmerthemen Dezember 2007, Seite 31.

4) Quelle: EZB; The Euro Area Bank Lending Survey of 5 October 2007.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
Noch keine Bewertungen vorhanden


X