Wieder alle Aktionärsrechte "wagen"!

Markus Kienle, Foto: Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V

Es war eine aus der Not geborene Lösung, um Hauptversammlungen (HV) auch in Zeiten der Pandemie abhalten zu können: die virtuelle HV. Nun soll diese Option auch unabhängig von der Pandemie möglich gemacht werden und dafür in ein Gesetz - das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften" gegossen werden. Im vorliegenden Beitrag unternimmt der Autor eine kritische Würdigung des Entwurfs. Bemerkenswert findet es Kienle dabei, dass gar nicht erst versucht wurde, das Format der Präsenz-HV zu modernisieren, sondern dass die virtuellen HVs als "Alternative" einen Paradigmenwechsel vollziehen sollen. Er kommt zu dem Schluss, keine überzeugenden Gründe für die Einführung einer virtuellen HV zu erkennen, da die Abweichung der Aktionärsrechte zwischen den Formaten zu gravierend sei. (Red.)

Seit dem Covid-19-Gesetz1) , das Aktiengesellschaften die Möglichkeit der Durchführung einer sogenannten virtuellen Hauptversammlung ermöglichte, hat die Diskussion um die Veränderung des HV-Formats an Fahrt aufgenommen. Im Februar 2022 hat das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf eines "Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften" vorgelegt.

Bemerkenswert ist, dass gar nicht erst versucht wurde, die Präsenz-HV zu modernisieren respektive fortzuentwickeln, sondern mit der virtuellen Hauptversammlung als "Alternative" ein Paradigmenwechsel vollzogen werden soll. Die hierbei auftretenden, teilweise gravierenden Unterschiede der Aktionärsrechte einer virtuellen Hauptversammlung im Vergleich zur Präsenz-HV wird mit der Unmöglichkeit der vollständigen Spiegelung der Rechte einer Präsenz-HV auf eine virtuelle HV begründet. Dies widerspricht nicht nur den Aussagen im Koalitionsvertrag, wonach auch bei einer Online-Hauptversammlung die Aktionärsrechte uneingeschränkt zu wahren sind2) , sondern ist inhaltlich nicht korrekt. Es gibt Anbieter, die sich in der Lage sehen, die Rechte einer Präsenz-HV auch in einer virtuellen HV zu gewährleisten. Die Raiffeisenbank International soll Ende März 2022 eine derartige Hauptversammlung durchgeführt haben.

Ausgewählte Gründe für eine virtuelle Hauptversammlung

Für die Notwendigkeit eines virtuellen Formats außerhalb von Krisen- und Notsituationen werden mehrere Gründe ins Feld geführt, die im Ergebnis nicht zu überzeugen vermögen. Ausgewählte Aspekte werden nachfolgend dargestellt:3)

1. Gute Annahme in der Praxis. Die gute Annahme der virtuellen Hauptversammlung in der Praxis wird gerne als Argument für eine Verstetigung dieses Formates ins Feld geführt. Jedoch beruht diese Schlussfolgerung auf den Erfahrungen in den Corona-Jahren 2020 und 2021, in der es für die Aktionäre keine Möglichkeit, zwischen einer virtuellen Teilnahme und einer physischen Teilnahme zu wählen, somit die virtuelle Hauptversammlung die einzige Möglichkeit war, um die Aktionärsrechte auszuüben. Eine belastbare Aussage über das attraktivere Format lässt sich nur ableiten, wenn die Aktionäre eine Wahlmöglichkeit haben.

Wenn das Verhalten der Aktionäre in den Pandemiejahren überhaupt irgendeinen Schluss zulässt, dann nur diesen, dass sich die Aktionäre der Besonderheit der Situation als Notsituation bewusst waren und mit Rücksicht auf diese Notsituation Rechtseinbußen hingenommen und ihre Rechte in einem virtuellen Format ausgeübt haben. Daraus lässt sich keine generelle Akzeptanz einer virtuellen Hauptversammlung außerhalb von Not- oder Krisenzeiten ableiten.

2. Steigende Präsenzraten und Teilhabe eines breiteren Aktionärskreises. Auch das Argument der steigenden Präsenzraten lässt sich zumindest bei den DAX-Gesellschaften nicht nachvollziehen. Deren Präsenz ist im Pandemiejahr 2021 unter die Präsenzen der Jahre 2018 und 2020 gerutscht. Es scheint geradezu so zu sein, als ob die Möglichkeit der virtuellen Hauptversammlung zu einer Erhöhung der taggleichen durchgeführten Hauptversammlungen geführt hat. Dem Autor selbst liegen für den 18. Mai 2022 Termine für drei Hauptversammlungen vor, aus denen eine Auswahl getroffen werden muss. Diese Konzentration wirkt dem Bestreben entgegen, einem breiteren Aktionärskreis die Teilnahme an der HV zu ermöglichen. Dessen ungeachtet kann bereits jetzt auch ohne eine rein virtuelle HV über die Möglichkeit der elektronischen Teilnahme nach § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG einem breiteren Aktionärskreis die Teilnahme ermöglicht werden. Eine Abstandnahme von der Präsenz-HV ist hierfür nicht erforderlich.

3. Entzerrung der Hauptversammlung und Verbesserung der Antwortqualität. Soweit eine Entzerrung der Hauptversammlung namentlich durch die vorherige Einreichung der Fragen und die Stellung von Gegenanträgen angeführt wird, erschließt sich nicht, warum dieses Element von einem virtuellen HV-Format abhängig sein soll und nicht ebenso gut im Rahmen einer Präsenz-HV durchgeführt werden könnte. Darüber hinaus wird im vorliegenden Referentenentwurf dieser Aspekt der Entzerrung aber auch nicht konsequent zu Ende geführt, weil eine Verpflichtung der Unternehmen, die vorher eingereichten Fragen dann auch vorher in Schrift- oder Textform zu beantworten, fehlt.

Tatsächlich könnte eine vorherige Einreichung der Fragen mit vorheriger Beantwortung den Ablauf der Hauptversammlung entzerren und damit mehr Raum für eine lebendige und lebhafte Diskussion zwischen den Aktionären und der Verwaltung und zwischen den Aktionären untereinander in der Hauptversammlung bieten. Die Beantwortung der Fragen nimmt im Ablauf der Hauptversammlung einen breiten Raum ein. Beim Gegenstand "Anträge" hingegen dürfte der Aspekt der Entzerrung von untergeordneter Relevanz sein. Auch das Argument der Verhinderung von Zufallsmehrheiten dürfte nicht tatsächlich relevant werden.

Auch das Argument der Verbesserung der Antwortqualität, das eng verwoben ist mit der Vorabeinreichung der Fragen, kann nach diesseitiger Erfahrung nicht bestätigt werden. Vielmehr ist es so, dass die Unternehmen, die auch schon im Rahmen der Präsenz-HV eine hohe Antwortqualität hatten, diese beibehalten haben, wohingegen umgekehrt Unternehmen mit einer schlechten Antwortqualität diese nicht verbessert haben. Ganz im Gegenteil lässt sich durch die verstärkt genutzte Möglichkeit, inhaltlich vergleichbare Fragen zu einer Antwort zusammenzufassen, eine leichte Tendenz zu einer schlechteren Antwortqualität konstatieren, da durch die Zusammenfassung mehrerer Fragen der Kern der einzelnen Fragen eben nicht genau und trennscharf getroffen wird.

4. Kostenargument. Beim Aspekt der Kosteneinsparungen, die auf insgesamt 35 Millionen Euro geschätzt werden, muss zunächst einmal bezweifelt werden, dass bei dem Gesamtkostenblock die Kosten für eine Präsenz-HV überhaupt ins Gewicht fallen. Zum anderen muss aber kritisiert werden, dass sich diese Kostenersparnis aus dem Vergleich mit den Kosten einer virtuellen Hauptversammlung ergeben, die - von einer Ausnahme abgesehen - keine interaktiven Elemente zwingend vorsieht und damit einen unzutreffenden Vergleichsmaßstab bildet. Bei der Durchführung einer vollständig interaktiven Hauptversammlung dürften ungleich höhere Technik- und Sicherheitskosten anfallen als bei einer virtuellen Hauptversammlung, die auf eine Interaktion verzichtet.

Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Die vorstehend benannten Gründe vermögen die Einführung einer virtuellen Hauptversammlung nicht überzeugend zu begründen, zumal da wesentliche Erwägungen auch im Rahmen einer Präsenz-HV umgesetzt werden könnten.

Argumente für die Beibehaltung einer Präsenz-HV

Die nachstehenden Argumente sprechen für eine Beibehaltung des Präsenz-Formates, was eine Fortentwicklung dieses Formates nicht ausschließt.4) 1. Lebendige Debatten- und Streitkultur und Interaktivität. Das Präsenz-Format bietet die Möglichkeit einer lebendigen Debatten- und Streitkultur, die die virtuelle Hauptversammlung bei einem Verzicht auf interaktive Elemente nicht abbilden kann. Gerade die Möglichkeit von Rede- und Gegenrede im direkten persönlichen Austausch macht die Präsenz-HV zu einer attraktiven Begegnung der Aktionäre mit Vorstand und Aufsichtsrat. Demgegenüber verzichtet der Referentenentwurf vollständig auf interaktive Elemente zwischen den Aktionären untereinander und auch für den Dialog mit der Verwaltung sind mit einer Ausnahme interaktive Elemente nicht zwingend vorgeschrieben.

Die Notwendigkeit solcher Interaktionen zeigt sich insbesondere bei Rechten, die in der Hauptversammlung ad-hoc ausgeübt werden können5) , aber von einem gewissen Quorum abhängen, das der Antragsteller zu organisieren hat. Hierzu ist gerade die Kontaktmöglichkeit unerlässlich. Nur bei einer Präsenz-HV kann der Aktionär seinen Beiträgen und Anträgen durch Gestik und Tonlage den richtigen Schwerpunkt verleihen. Bei der virtuellen Hauptversammlung diskutiert und streitet man nicht miteinander, sondern nebeneinander.

2. Einzige Möglichkeit zur direkten Begegnung der Aktionäre mit der Verwaltung. Des Weiteren ist die Präsenz-HV für zahlreiche Aktionäre die einzige Möglichkeit im Jahr, mit Vorstand und Aufsichtsrat in direkten Kontakt zu treten. Derartige Kontaktmöglichkeiten im Vorfeld der Hauptversammlung stehen dem klassischen Streubesitzaktionär anders als institutionellen Investoren nicht offen. In dieser Hinsicht weist die Hauptversammlung auch eine soziale Dimension auf.

3. Keine Rechtseinschränkungen. Darüber hinaus weist die Präsenz-HV zahlreiche Rechtseinschränkungen nicht auf, die bei der virtuellen HV gegeben sind. Einige Rechtsbeschränkungen werden nachstehend dargestellt.

Fragerecht: Nach dem Referentenentwurf kann der Vorstand vorgeben, dass bis zu vier Tagen vorher die Fragen einzureichen sind. Das Recht für Fragen in der HV selbst beschränkt sich auf Nachfragen. Der Umfang der Fragen kann in der Einberufung beschränkt werden; die Beschränkung kann sowohl in einer Festlegung der Fragen pro Aktionär als auch in einer Höchstzahl an Zeichen pro Frage liegen, ohne dass überhaupt bekannt ist, wie viele Aktionäre Fragen stellen werden. Gerade die Möglichkeit der Zeichenbegrenzung pro Frage wirkt bei Fragen mit komplexen oder umfangreichen Kontext in hohem Maße rechtsbeeinträchtigend, da der Hintergrund der Frage nicht dargestellt werden kann.

Eine derartige frühe Begrenzung des Fragerechts schon in der Einberufung kennt das Recht der Präsenz-HV nicht. Eine Beschränkung des Fragerechts kann vielmehr erst dann erfolgen, wenn absehbar ist - in aller Regel aufgrund der Anzahl der Wortmeldungen -, dass ohne die Rechtsbeschränkung die Versammlung nicht mehr ordnungsgemäß durchgeführt werden kann6) . Hierbei hat es aber der Aktionär in der Hand, wie dieser mit der ihm zugeteilten Zeit umgehen will, insbesondere welchen Fragen der Aktionär besonderes Gewicht beimisst. Sofern die Umstände für die Begrenzung entfallen, ist die Begrenzung wieder aufzuheben.7)

Die Rechtfertigung einer solcher Beschränkung in der virtuellen HV soll darin liegen, dass aufgrund des technisierten Verfahrens die Gefahr einer Überzahl an Fragen besteht. Einmal ungeachtet der Tatsache, dass diese Befürchtungen durch die Hauptversammlungen in den Jahren 2020 und 2021 nicht bestätigt werden können, sondern zeigen, dass die Aktionäre sehr verantwortungsvoll mit ihren Rechten umgegangen sind, liegt die Gefahr in dem gewählten Verfahren selbst. Dadurch, dass in der HV selbst keine Fragen mehr gestellt werden dürfen, werden auch solche Aktionäre höchst vorsorglich im Vorfeld der Hauptversammlung Fragen einreichen, die noch nicht einmal sicher wissen, ob sie wirklich an der Hauptversammlung teilnehmen wollen. Die Fragen werden gestellt, um im Falle einer Teilnahme das Recht auf Fragen nicht verwirkt zu haben. Dieser Effekt ist von der Anmeldung zur HV bekannt.

Auch der Aspekt der Missbrauchsmöglichkeit des Fragerechts einzelner Aktionäre rechtfertigt einen derartigen Rechtseingriff in das Individualrecht der anderen Aktionäre nicht. Dem Missbrauch einzelner muss mit anderen Mitteln begegnet werden.

Da es in der Präsenz-HV keine Verpflichtung zur vorherigen Einreichung der Fragen gibt, ganz im Gegenteil sogar die Pflicht besteht, die Fragen in der HV selbst zu stellen, ist das Problem der Begrenzung von Nachfragen, das bei der virtuellen HV in voller Schärfe besteht, in der Präsenz-HV entschärft. So sind namentlich auch Spontanfragen, die sich erst aus dem Verlaufe der HV ergeben, zulässig und nicht präkludiert. In der Präsenz-HV besteht die Möglichkeit auf die Ausführungen der Verwaltung und die Antworten auf Fragen anderer Aktionäre durch Fragen zu reagieren.

Die virtuelle HV nach dem Referentenentwurf sieht hierbei nur ein Fragerecht im Zusammenhang mit vorab eingereichten Fragen des Aktionärs vor. Die Möglichkeit des Aktionärs auf gestellte Fragen anderer Aktionäre zu reagieren ist in der virtuellen HV dann nicht gegeben, wenn diese Fragen dem Aktionär vorher nicht bekannt sind. Die konkrete Ausgestaltung der Vorabeinreichung von Fragen begünstigt redundante Fragestellungen geradezu, da spontane Anpassungen - anders als in einer Präsenz-HV nicht möglich sind.

Eine weitere Besonderheit für die virtuelle HV ergibt sich aus der verstärkt genutzten Möglichkeit, mehrere Fragen zu einer Antwort zusammenzufassen. Hierbei besteht die Gefahr, dass der Kern der zusammengefaßten Fragen nicht korrekt erfasst wird und daher Nachfragen zwingend notwendig werden. In einer Präsenz-HV kann auf eine solche Situation, sofern überhaupt zusammenfassend geantwortet wird, unmittelbar reagiert werden. Um eine gleichmäßige, umfassende Information aller Aktionäre zu gewährleisten, muss ein virtuelles HV-Format zwingend vorsehen, dass die Fragen jedes einzelnen Fragestellers vollumfänglich verlesen werden, sofern diese nicht schon im Vorfeld der HV beantwortet wurden. Nur dann ist ein sinnvoller Abgleich der Antwort mit der Frage überhaupt möglich. Eine derartige Verpflichtung sieht der Referentenentwurf nicht vor.

Rederecht: Das Rederecht kann jeder erschienen Aktionär in einer Präsenz-HV wahrnehmen, sofern dieser die weiteren organisatorischen Voraussetzungen - in aller Regel die Anmeldung eines Wortmeldebeitrages am Wortmeldetisch - erfüllt hat. Eine Begrenzungsmöglichkeit auf eine Höchstzahl von Redebeiträgen unabhängig von der voraussichtlichen Dauer kennt das Recht der Präsenz-HV nicht. Auch einer vorherigen Anmeldung des Redebeitrages im Vorfeld der HV ist dem Recht der Präsenz-HV fremd. Diese weiteren Voraussetzungen bei der virtuellen HV haben zur Folge, dass der Aktionär nicht mehr nur am Tag der HV, sondern auch an weitern Tagen verfügbar sein muss, was gerade bei berufstätigen Aktionären zu Problemen führen kann.

Dieses Problem wird umso gravierender, wenn man die im Referentenentwurf vorgesehene Regelung berücksichtigt, wonach die Redebeiträge in der zeitlichen Reihenfolge des Einganges bei der Gesellschaft zu berücksichtigen sind, was dann zu einem regelrechten Wettlauf führt. Sofern die Gesellschaft von der Option eines sogenannten Funktionstests Gebrauch macht, muss sich der teilnehmende Aktionär sogar noch ein weiteres, drittes Zeitfenster freihalten. Dabei könnte die Anmeldung für den Wortbeitrag ebenso wie bei der Präsenz-HV über einen virtuellen Wortmeldetisch am Tag der HV organisiert werden; die technische Funktionsprüfung könnte über ein technisches Tool, das im Vorfeld der HV zur Verfügung gestellt wird, erfolgen, ohne dass hierzu ein gesonderter "Prüfungstermin" mit der Gesellschaft stattfinden muss.

Die Organisation über einen virtuellen Wortmeldetisch hat sogar den Vorteil, dass Nachrücker berücksichtigt werden könnten, falls der eine oder andere Aktionär seinen Redebeitrag nicht ausübt. Gerade auch das spontan ergriffene Wort ist Ausdruck einer guten Debattenkultur und zeugt von der interessierten Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und deren Verwaltung. Dem kann man zwar entgegenhalten, dass die Entscheidungen namentlich von institutionellen Investoren bereits im Vorfeld der HV fallen und daher die sogenannte Generaldebatte nur in seltenen Fällen noch eine Änderung im Abstimmungsverhalten herbeiführt.

Dieser Einwand vermag aber nicht soweit zu überzeugen, dass eine derartige Beschränkung des Rederechts erforderlich erscheint. Denn wenn es auch selten der Fall sein mag, dass die Generaldebatte noch das Abstimmungsverhalten ändert, sind es doch die wenigen Fälle wert, das Rederecht in seinem bisherigen Umfang und Struktur zu erhalten. Denn vielleicht werden im Rahmen eines derartigen Dialoges Aspekte oder Probleme aufgezeigt, die künftig in das Abstimmungsverhalten von Investoren Eingang finden, die die Entscheidung schon vor der Hauptversammlung treffen. Und auch institutionelle Investoren haben durchaus die Möglichkeit auf aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse zu reagieren.

Anfechtungsrecht: Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass bei der Präsenz-HV ein verschuldensunabhängiges Anfechtungsrecht besteht wohingegen der Referentenentwurf für die virtuelle HV einen für die Gesellschaften großzügigen Haftungsmaßstab einführt. Alle Einzelheiten der geplanten Regelung des Referentenentwurfes können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden8) .

Vereinfacht kann die Regelung so skizziert werden, dass die Unternehmen bei technischen Störungen nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haften. Selbst diese Haftung soll nach der Begründung zum Referentenentwurf nicht gegeben sein, wenn sich die Gesellschaft eines professionellen Dienstleisters bedient9) . Dies kann im Extremfall dazu führen, dass selbst eine technische Störung bei der Stimmabgabe und eine daraus folgende Nichtberücksichtigung der Stimmen ein Anfechtungsrecht nur dann begründet, wenn die Gesellschaft vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat. Eine derartige Entkernung der Rechte der Aktionäre ist nicht sachgerecht und kann auch nicht mit den Besonderheiten einer virtuellen HV begründet werden. Zum einen ist die fast vollständige Überwälzung des technischen Risikos auf die Aktionäre ungerechtfertigt, wenn die technische Störung nicht aus der Aktionärssphäre stammt.

Zum anderen sind die Gesellschaften verpflichtet, die Möglichkeit der Ausübung der Aktionärsrechte sicherzustellen, was eine derartige weitgehende Überwälzung ausschließt. Die hohe Hürde für Sanktionen derartiger Rechtsverletzungen schaffen nicht den notwendigen Anreiz für ein Handeln und eine Organisation lege artis. Es ist kein vernünftiger Grund erkennbar, warum technische Störungen in einer Präsenz-HV zu keiner Einschränkung des Anfechtungsrechts führen sollen, wohingegen vergleichbare Störungen bei einer virtuellen HV de facto den Anfechtungsausschluss nach sich ziehen. Sollten die technischen Systeme tatsächlich noch so unausgereift sein, stellt dies keinen Grund für einen Anfechtungsausschluss dar, sondern für eine Abstandnahme von einer virtuellen HV.

Überzeugende Gründe fehlen

Es gibt keine überzeugenden Gründe für die Einführung einer virtuellen Hauptversammlung in der vorgeschlagenen Form, auch wenn nur als Alternative. Die Abweichungen der Aktionärsrechte zwischen Präsenz-HV und virtueller HV sind zu gravierend, um beide Formate als gleichwertige und vergleichbare zu qualifizieren. Für eine unterschiedliche Rechtsausgestaltung in virtueller HV und Präsenz-HV fehlen aber in aller Regel tragende Gründe. Es muss auch für die virtuelle HV gelten, dass in dieser dieselben Rechte gewährt wie in der Präsenz-HV, nur eben in einem anderen technischen Format. Dies erfordert aber anders als bislang im Referentenentwurf vorgesehen eine voll interaktive virtuelle Hauptversammlung. Technisch ist eine vollständig interaktive Gestaltung möglich.

Eine Fortentwicklung des Formates der Präsenz-HV darf nicht den vereinzelt anzutreffenden, missbräuchlich handelnden Aktionär zum Leitbild nehmen.

Das immer wieder bemühte Schreckgespenst des missbräuchlichen/räuberischen Aktionärs wird offenbar gerne als Universalbegründung für die Forderung nach weiterer Einschränkung der Aktionärsrechte genutzt, ohne hierfür aktuelle empirische Belege für die Relevanz dieses Phänomens vorzulegen. Und noch viel gravierender: Es wird nicht der Aspekt diskutiert, ob es rechtmäßig ist, Individualrechte einzuschränken, um den Missbrauch weniger Einzelner auszuschließen. Wer dem Missbrauch einzelner, weniger Aktionäre begegnen will, muss und kann dies bereits jetzt mit den gängigen Instrumenten, die dem Versammlungsleiter zur Verfügung stehen.

Eine Eilbedürftigkeit für die Einführung einer Möglichkeit der Durchführung einer virtuellen HV ist nicht zu erkennen. Als notwendig erkannter Änderungsbedarf des Präsenz-Formates sollte offen - auch ergebnisoffen - mit allen beteiligten Gruppen als solcher diskutiert und nicht als technische Notwendigkeit eines neuen HV-Formates präsentiert werden. Statt übereilt eine virtuelle Alternative als Regel-Format einzuführen, sollte mit der notwendigen Zeit für die erforderlichen Diskussionen eine Fortentwicklung des Präsenz-Formates erfolgen. Hier können durchaus sinnvolle virtuelle Elemente Eingang finden. Die Rechte der Aktionäre müssen allerdings unangetastet bleiben.

Fußnoten

1) Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 24.3.2020, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2020

2) Vgl. Koalitionsvertrag 2021, Seite 112

3) Die ausführliche Stellungnahme der SdK zum Referentenentwurf vom 14.3.2022 kann unter www.sdk.org/Veröffentlichungen/SdKStellungnahmenbarrierefrei abgerufen werden.

4) Die ausführliche Stellungnahme der SdK zum Referentenentwurf vom 14.3.2022 kann unter www.sdk.org/Veröffentlichungen/SdKStellungnahmenbarrierefrei abgerufen werden.

5) Vgl. beispielhaft § 137 AktG

6) Vgl. Kubis in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Band 3, §§ 118-178, 4. Auflage, München 2018, § 119, Rd.-Nrn.: 164 ff.

7) Vgl. Kubis in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Band 3, §§ 118-178, 4. Auflage, München 2018, § 119, Rd.-Nrn.: 164 ff.

8) Zur ausführlichen Darstellung vgl. Stellungnahme der SdK zum Referentenentwurf vom 14.3.2022, Seiten 23 ff., barrierefrei abrufbar unter: www.sdk.org/Veröffentlichungen/SdKStellungnahmen.

9)Vgl. Referentenentwurf, Seite 39

Markus Kienle , Rechtsanwalt, Vorstandsmitglied , Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V, Frankfurt am Main/München
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