Banken und Medien

Abrufrisiken: Können soziale Medien einen Bank-Run auslösen?

In vielen deutschen Banken stammt mehr als die Hälfte der Einlagen von Privatkunden, die über alle Altersgruppen hinweg zunehmend Online-Banking nutzen und auf Social-Media-Plattformen aktiv sind (Abbildung 1). Banken nehmen Social-Media-Plattformen bisher vor allem chancenorientiert als Vertriebskanal und zur Imagepflege wahr. Verglichen mit anderen Branchen nutzen sie das Medium zu diesen Zwecken sogar überdurchschnittlich. Dennoch gehen von sozialen Medien wirtschaftliche Risiken aus. In einer Studie von Deloitte und Forbes bewertete jeder vierte US-Top-Manager soziale Medien als größte Risikoquelle. Ein Vorstand der Deutschen Bank äußerte im Dezember 2012, dass er Internetkonzerne mehr fürchte als Banken und Sparkassen, weil sie "aufgrund ihrer riesigen Datenbasis [...] Dienstleistungen sehr gezielt anbieten"1) können. Die Auseinandersetzung mit Abrufrisiken findet allenfalls punktuell statt. So nahm der Test des Liquiditätsnotfallplans einer Bank an, dass ein Kunde am Automaten kein Geld abheben konnte. Daraufhin verbreitete er über Twitter den Verdacht, die Bank befände sich in einer finanziellen Schieflage. Das Aufsichtsratsmitglied einer internationalen Bank stellte in einer Sitzung die Frage, ob einzelne Akteure mittels der über soziale Medien typischen interpersonellen Massenkommunikation einen Run auf die Bank auslösen können.

Bank-Run als extreme Ausprägung des Abrufrisikos

Dass diese Frage nähere Betrachtung verdient, belegt neben den beschriebenen Befunden die Tatsache, dass US-Banken sich bereits mit Kampagnen konfrontiert sahen, die Anleger über so ziale Medien aufriefen, ihre Einlagen abzuziehen. Beispielhaft sei auf die "Bank Transfer Day"-Kampagne verwiesen.

Abrufrisiken beschreiben die Gefahr, dass Kunden in einem unerwartet hohen Umfang Kreditzusagen ausschöpfen und/oder Einlagen abziehen. Der kurzfristige massenhafte Abzug kennzeichnet einen Bank-Run, wie ihn beispielsweise Northern Rock 2007 erlebte. Als extreme Ausprägung von Abrufrisiken beeinträchtigt ein solcher Run die Liquidität einer Bank und kann zu deren Kollaps führen.

Reputationsrisiken durch Social Media stehen im Fokus

Kampagnen beschreiben im Kontext sozialer Medien die gezielte Verbreitung von Handlungsaufrufen über die Plattformen. Um zu untersuchen, ob derartige Handlungsaufrufe einen Bank-Run auslösen können, kombinierten die Autoren drei Methoden - eine mehrteilige Literaturrecherche, die Analyse vorhergehender Kampagnen und persönliche Gespräche mit Experten.

Die Literaturrecherche ergab, dass Finanzdienstleistungen in Social-Media-Beiträgen durchaus diskutiert werden. Dies geschieht allerdings meist mit einer Schwerpunktsetzung auf Reputationsrisiken. Auch der umgekehrte Ansatz - die Suche nach Risikomanagement-Literatur, welche Abrufrisiken im Kontext sozialer Medien betrachtet - blieb ohne nennenswerten Befund. Aus diesem Grund wurde untersucht, welche Befunde in Medien- und Kommunikationswissenschaften, Marketing und Treasury vorliegen. Hierbei lag der Fokus auf den Spielregeln sozialer Medien, den Antezedenzien der Kundenbindung und dem Abzugsverhalten von Kunden in Finanzkrisen. Die Analyse von Kampagnen wie dem "Bank Transfer Day" konzentrierte sich auf deren chronologische Aufarbeitung, unter anderem durch eine Medienresonanzanalyse. Die Expertengespräche wurden mit sechs Treasury-Mitarbeitern, zwei Social-Media-Experten sowie einem Ansprechpartner bei der BaFin geführt. Nachfolgend werden die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt.

Medienwissenschaftliche Sicht: Kampagnen schwer zu beeinflussen

Wie eingangs dargelegt, sind soziale Medien in der Lage, Inhalte schnell, viral und kostengünstig zu verbreiten. Im Gegensatz zu den meisten klassischen Medien besteht in vielen Fällen keine journalistische Qualitätskontrolle der Inhalte. Die Umgangsformen sind zuweilen roh. Auch Falschdarstellungen lassen sich rasch verbreiten und sind rechtlich oft schwer zu verfolgen. Dennoch empfinden Bankkunden die Glaubwürdigkeit sozialer Medien als hoch, teilweise höher als die der Banken selbst. Dies spricht dafür, dass so ziale Medien einen Bank-Run auslösen können.

Dagegen spricht, dass sich nicht jede kritische Information über soziale Medien verbreitet. Zudem ist "die Halbwertszeit vieler dieser Informationen gering und findet dann auch selten Eingang in andere Medien wie Zeitungen und Zeitschriften".2) Über den Erfolg von Kampagnen entscheiden zu einem hohen Anteil externe Faktoren.3) Die Einflussgrößen für Diffusionspotenzial und Auswirkungen sind bislang nicht abschließend erforscht. Unter anderem fehlen ausreichende Erkenntnisse, welche Einflussgrößen speziell im Hinblick auf Banken eine Verbreitung von Nachrichten begünstigen.

Andererseits sind Kampagnen, welche eine gewisse Reichweite erreicht haben, schwer zu beeinflussen. Insbesondere lassen sich spontane Social-Media-Kampagnen von Nutzern kaum verhindern und entstehen meist mit einer gewissen emotionalen Aufladung, etwa nach negativen Erfahrungen mit Anbietern. Für die angegriffene Bank existieren im Fall einer Kampagne drei grundlegende Möglichkeiten zu reagieren: Löschen (jedoch mit der Gefahr einer daraus resultierenden Verhärtung der Fronten), Ignorieren oder Kommunizieren. Für eine erfolgreiche Beeinflussung birgt eine Diskussion prinzipiell das höchste Erfolgspotenzial. Fallbeispiele legen jedoch nahe, dass ab einer bestimmten Resonanz auf eine Nachricht und gewissen äußeren Faktoren auch ein Strategiewechsel nur bedingt wirkt. Exemplarisch wirkte sich im Fall der später vorgestellten "Bank Transfer Day"-Kampagne das Einlenken der Bank kaum auf die Einlagenabzüge aus.

Marketingsicht: Risiken sozialer Medien wenig erforscht

Aus Marketingsicht spricht viel dafür, dass eine "gewöhnliche" Kampagne nicht ausreicht, um Privatkunden zum massenhaften Abzug ihrer Einlagen zu bewegen. Verhaltensmodelle, welche Kundenbindung im Retailbanking anhand empirischer Daten erklären, legen nahe, zwischen Verhaltensabsicht (Kundenloyalität) und tatsächlichem Verhalten (Kundenbindung) zu trennen. Anhand des Interesses an dauerhaften Geschäftsbeziehungen unterscheiden sie eher transaktions- von eher beziehungsorientierten Kunden (Kundenbindungspotenzial). Erklärt werden die Konstrukte mit Kundentypologien und Einstellungen.

Wie genau soziale Medien die Erklärungsbeiträge von Kundentypologien und Einstellungen verändern, ist bislang nicht ausreichend erforscht. Die Anwendung von Heuristiken schwächt die Potenz sozialer Medien, einen Bank-Run auszulösen, ab. So folgt nicht jeder Ankündigung, die Bankverbindung zu wechseln, tatsächlich ein Wechsel - wahrscheinlich nicht einmal, wenn Kampagnen wechselaffine Nutzer ansprechen. Im Vergleich zu vielen klassischen Medien kann sich eine kommunizierte Absicht "nur" rascher verbreiten, wobei sich das tatsächliche Verhalten nicht zwangsläufig auf Social-Media-Plattformen widerspiegelt.

Hinzu kommt, dass die einzelnen Kundentypologien und Einstellungen unterschiedliche Relevanz besitzen. Unter anderem liefert die Nutzung von Distributionswegen meist geringere Erklärungsbeiträge für die Kundenbindung als bestimmte Einstellungen. Weil sich Einstellungen wie Vertrauen und Image aber langwierig herausbilden, erscheint es fragwürdig, ob eine Kampagne Einstellungen so verändern kann, dass Kunden kurzfristig massenhaft ihre Einlagen abziehen.

Blickwinkel des Treasury: private Einlagen relativ stabil

Losgelöst hiervon erfolgte die Überprüfung der Modelle meist anhand von Daten, die in normalen Marktphasen erhoben wurden. Krisenphasen wie die Finanzkrise 2007/ 2008 sind deutlich weniger erforscht. Die wenigen verfügbaren Studien deuten darauf hin, dass sich die Erklärungsbeiträge von Einstellungen wie Image sowie deren Attribute verschieben. Insbesondere suchen Privatkunden verstärkt nach Sicherheit, was Treasurydaten bestätigen.

Treasurydaten belegen, dass Privatkunden im Fall einer (vermuteten) Existenzkrise der Bank Guthaben, welche die Einlagensicherungsgrenze überschreiten, stärker abziehen. Die Internetnutzung (als konservativer "Proxy" für aus sozialen Medien resultierende Abrufrisiken) ist zwar ebenfalls wesentlich - Nutzer von Online-Banking rufen Einlagen tendenziell eher ab. Gemessen an der Höhe der Abflüsse ist der Zusammenhang aber weniger bedeutend.

Verglichen mit institutionellen Einlagen sind Privatkundeneinlagen in einer derartigen Krise in der Regel stabiler. Während der Finanzkrise 2007/2008 lagen die Abflüsse auch im Wealth Management meist unter 25 Prozent (Zeithorizont 90 Tage). Ursächlich sind unter anderem geringere Einlagenkonzentrationen und anders ausgeprägte Verhaltensdeterminanten, darunter der Professionalisierungsgrad und die zuvor angesprochenen Antezedenzien der Kundenbindung. Die geringeren Abrufrisiken erklären wesentlich, warum private Einlagen seit der Finanzkrise ein "Comeback" erleben. Sie sprechen dagegen, dass soziale Medien einen Bank-Run auslösen können. Hinzu kommt, dass Banken ihre Produkte inzwischen gezielt so strukturieren, dass sie weniger Abrufrisiken als vor der Finanzkrise aufweisen, etwa mit Hilfe von vertraglichen Kündigungsfristen und -gebühren, wie sie in der Marketingliteratur auch als bedingt freiwillige Formen der Kundenbindung erörtert werden.

Empirische Befunde: "Bank Transfer Day" mit marginalen Auswirkungen

Die Analyse historischer Kampagnen spricht ebenfalls dagegen, dass soziale Medien in Isolation einen Bank-Run auslösen können. Im Fall der "Bank Transfer Day"-Kampagne waren die Abzüge zwar in absoluten Zahlen erheblich (Abbildung 3). Bezogen auf die gesamten privaten Einlagen der Bank blieben sie jedoch marginal, was sich wahrscheinlich unter anderem mit den vorhergehenden Überlegungen erklärt. Aus Sicht eines Treasuryexperten darf jedoch nicht übersehen werden, dass in dieser (Protest-)Kampagne weitaus weniger auf dem Spiel stand, als etwa im Fall eines Northern Rock Szenarios, in dem Kunden um die Sicherheit ihrer Einlagen fürchten. Entscheidender als das Medium ist wahrscheinlich der Grund für eine Kampagne. Dies könnte erklären, warum professionelle Kampagnen wie die von der Tageszeitung Huffington Post unterstützte "Move Your Money"-Kampagne gemessen an den Abrufen während der Finanzkrise wirkungslos blieben. Es würde auch begründen, warum unzählige andere auf den Plattformen missbilligend kommentierte Verhaltensweisen von Banken zu keinen nennenswerten Abrufen führten.

Experteninterviews: Potenzial von Social Media als Brandbeschleuniger

Zwei Experten stuften das Risiko, dass soziale Medien einen Bank-Run auslösen, entsprechend als kaum relevant ein. Sie verwiesen unter anderem darauf, dass trotz gestiegener Nutzerzahlen viele private Anleger nicht auf Social-Media-Plattformen aktiv seien; institutionelle Anleger bevorzugen ohnehin Informationsanbieter wie Reuters oder Bloomberg. Für Kunden, die auf den Plattformen aktiv sind, bedürfe es in der Regel mehr als eines Handlungsaufrufes, um sie massenhaft zum Abzug ihrer Einlagen zu bewegen. Verwiesen wurde unter anderem auf Antezedenzien, wie sie auch Abbildung 2 berücksichtigt, etwa Bequemlichkeit (Convenience-Orientierung). Die übrigen Experten sahen soziale Me dien als relevant an oder bestätigten zumindest deren Potenzial als "Brandbeschleuniger" eines Bank-Runs - wiederholt im Rückgriff auf die Bedeutung der Medien im Arabischen Frühling.

Aufgrund des beschriebenen Forschungsstands ist nur eine Annährung mit Hypothesen an die hier untersuchte Frage möglich. Im Gesamtbild scheint die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Szenarios, in dem Social-Media-Kampagnen extreme Abrufrisiken bis hin zu einem Bank-Run auslösen, momentan gering (low probability, high severity event). Hierfür sprechen Befunde wie die relative Stabilität von Privatkundeneinlagen, die Diskrepanz zwischen beabsichtigtem und tatsächlichem Kundenverhalten und das bedingte Diffusionspotenzial von Social-Media-Kampagnen. Auch in der Empirie liegen bisher keine überzeugenden Belege für ein derartiges Szenario vor.

Dennoch lassen sich Szenarien nicht vollständig ausschließen, in denen soziale Medien den Run auf eine Bank wesentlich unterstützen oder sich zumindest als "brandbeschleunigender" Kommunikationskanal erweisen. Dies gilt insbesondere, wenn durch Kampagnen - wie im eingangs erwähnten Notfalltest unterstellt - Gerüchte gestreut werden, dass sich die Bank in einer Situation befindet, in der Kunden um die Sicherheit ihrer Einlagen fürchten.

Möglicherweise reicht es aus, wenn die "Evidenz" für ein derartiges Gerücht wahr ist, sich zum Beispiel, wie im Fall von Northern Rock, tatsächlich Schlangen vor Filialen bilden oder es sich um Aussagen eines Insiders handelt. Noch wirkungsvoller ist das Medium wahrscheinlich, wenn die Gerüchte (wenigstens in Teilen) wahr sind, zumal die Bank nicht auf eine verlässliche (Selbst-)Korrektur des Mediums hoffen kann.

Vor allem netzaffine Banken sollten Social Media beachten

Je nach Geschäftsmodell, Fundingmix und Anteil von Social-Media-Nutzern am Kundenstamm sollten Banken die Risiken sozialer Medien zumindest "auf dem Radar behalten". Eine stärkere Verlinkung mit dem Risikomanagement bietet sich speziell für Banken an, deren Geschäftsmodelle netzaffin sind.

Prinzipiell lassen sich in jeder Phase des Risikokreislaufs Maßnahmen ergreifen. Möglicherweise nutzt die Bank im Vertrieb und zur Imagepflege bereits Webmonitoring und Webanalysewerkzeuge, um die Social-Media-Aktivitäten ihrer Kunden zu analysieren; US-Banken schrieben bereits spezielle Stellen aus, um Social-Media-Kanäle zu überwachen und zu pflegen. Diese Werkzeuge lassen sich nach Anpassungen auch für Risikomessungen verwenden. Ebenso können Handlungsleitfäden vorsehen, das Treasury in bestimmten Situationen zu informieren.

Der Vertreter der Aufsicht bestätigte auf Nachfrage, dass speziell für Institute, deren Geschäftsmodell ein entsprechendes Risikoprofil aufweise, auch aufsichtsrechtliche Anforderungen relevant sein können. Beispielgebend haben Institute nach BTR 3.1 Tz.2 MaRisk (Rundschreiben vom 14. Dezember 2012) Verfahren einzurichten, um Liquiditätsengpässe frühzeitig zu erkennen, wobei unter anderem die Auswirkungen von Reputationsrisiken auf die Liquidität zu berücksichtigen sind. Weitere Integrationspunkte bieten Stresstests und Notfallkonzepte (BTR 3.1 Tz.8 und Tz.9, BTR 3.2 Tz.3).

Spätestens wenn Social-Media-Unternehmen, wie in strategischen Geschäftsmodellen diskutiert, auch als Finanzdienstleister agieren (beispielsweise durch die Vergabe von Krediten oder durch eigene Zahlungssysteme), scheint es notwendig, die Medien in das Risikomanagement zu integrieren. Dies gilt insbesondere, wenn deren Geschäftsmodelle so erfolgreich werden, wie es der eingangs zitierte Vorstand der Deutschen Bank befürchtet.

Fußnoten

1) Reuters/WOZ (2012): Lästige Konkurrenz, in: www.welt.de/ wirtschaft/article112293242/Deutsche-Bank-neidisch-auf-Datenkrake-Google.html, letzter Zugriff 31.12. 2012.

2) Döring C. (2012): Die Rolle und Bedeutung der Medien für den Kapitalmarkt, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 65. Jahrgang, Heft 13, S. 637-639.

3) Als Treiber sind aus Risikosicht unter anderem folgende Aspekte zu diskutieren: Umgebungsfaktoren (bereits bestehende Sensibilität der Zielgruppe), Brisanz beziehungsweise Konfliktpotenzial, rasche Verbreitung der Social-Media-Aktivitäten in der Anfangsphase, Reichweite der Nachricht, Aufnahme in klassischen Medien, Glaubwürdigkeit des ersten Senders, Stakeholder-Relevanz (Sorge um persönliche Güter/Werte, Proximität).

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