Handlungsempfehlungen für den Automobilhandel der Zukunft

Digitalisierung des Vertriebs

Abbildung 1: Die drei Phasen des Automobilkaufs Quelle: Eigene Darstellung

Christian Lenz - Autokäufer sind schon bereit, sich auf die Digitalisierung des Verkaufsprozesses einzulassen. Für Hersteller und Händler ergeben sich hieraus enorme Potenziale und Chancen. Wenn Händler und Hersteller diese Möglichkeiten frühzeitig nutzen, erlangen sie einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil. Die hier vorgestellten Handlungsempfehlungen bieten Unternehmen einen Einstieg für eigene Analysen.

Die Bedeutung einer digitalen Vertriebsstrategie zeigt sich heute in nahezu allen Branchen, so auch in der Automobilindustrie. Der maßgebliche Grund für entsprechende Entwicklungen und neue Ansätze im Automobilvertrieb sind veränderte Bedürfnisse des Kunden. Das Internet stellt sich mittlerweile als die primäre Informationsquelle vor dem Kauf eines Automobils dar. Trotzdem hat der stationäre Handel unverändert eine valide Daseinsberechtigung, und viele Kunden sehen ihn nach wie vor als der zentrale und für die finale Kaufentscheidung wichtigste Touchpoint. Dies ist zum einen begründet durch den Wunsch nach Beratung und persönlichem Kontakt auf Kundenseite, der über die online verfügbaren Informationen hinausgeht. Zum anderen ist dies auf die Inexistenz eines flächendeckenden, rein digitalen Vertriebskanals für Neuwagenfahrzeuge zurückführen.

Das Interesse an der Möglichkeit eines vollkommen digitalen Distributionskanals weist kundenseitig eine deutlich steigende Tendenz auf (vgl. Abbildung 1, Seite 266). Das primäre Entscheidungskriterium, einen solchen Kanal zu nutzen, ist für den Großteil der Verbraucher ein deutlicher Preisvorteil gegenüber dem stationären Handel. Insbesondere in Entwicklungsmärkten, wie beispielweise China und Indien, findet man eine hohe Bereitschaft zum reinen Internetkauf vor.1)

Zeiten des Umbruchs?

Der lange Zeit von Kontinuität und geringer Innovationsbereitschaft geprägte Automobilvertrieb befindet sich mitten in einem evolutionären Prozess. Die traditionellen und statischen Strukturen werden zusehends durch innovative Ansätze der Händler, Hersteller sowie von neuen auf dem Markt agierenden Playern aufgebrochen, wie etwa Online-Neuwagenvermittler.

Traditionell eingestellte Hersteller und Händler geraten mehr und mehr in Zugzwang, um nicht den Anschluss an Wettbewerber zu verlieren, die den digitalen Transformationsprozess bereits erfolgreich angegangen sind. Gleichwohl weist die Automobilindustrie noch großen Optimierungsbedarf im Hinblick auf die Einführung rein digitaler Vertriebslösungen und die Integration digitaler Informations- und Distributionskanäle in die bisherigen Vertriebsstrukturen auf.

Aufseiten der Hersteller verfügt derzeit keines der untersuchten Unternehmen2) über eine Möglichkeit des permanent zugänglichen, direkten Onlinekaufs von Fahrzeugen. Viele Hersteller haben mittlerweile in Pilotprojekten temporär Online Transaction Sites eröffnet, die das primäre Ziel verfolgen, die Rahmenbedingungen und Erfolgsaussichten eines solchen Konzepts am Markt zu erproben. Oftmals offerieren die Fahrzeughersteller dabei nur gewisse Sondermodelle, die der Kunde einzig und allein über den temporären Onlinestore erhalten kann.

Diese künstlich herbeigeführte Stimulation der Nachfrage schmälert die Aussagekraft über den Erfolg oder Misserfolg hinsichtlich eines flächendeckenden und permanenten digitalen Vertriebskanals.

Aktuell ist BMW UK mit seiner Retail-Vertriebsplattform, auf der Käufer ihr Fahrzeug aussuchen, finanzieren und kaufen können, Vorreiter in der Branche. Die Möglichkeiten, die gesamte Fahrzeugpalette online zu erwerben sowie eine umfangreiche Online-Beratung, sind einzigartig und geben einen Ausblick auf mögliche zukünftige Strategien der Hersteller.

Automobilvertrieb der Zukunft

In Deutschland ermöglicht Daimler mit dem "Mercedes me Store" als erster Marktteilnehmer den vollumfänglichen digitalen Kaufabschluss. Durch die entsprechenden Digitalisierungstendenzen der Hersteller gerät insbesondere der klassische Automobilhandel unter Druck, da er Gefahr läuft, zum Auslaufmodell degradiert zu werden. Zugleich sehen die Automobilhändler ihr Geschäft zunehmend durch den verstärkten Einfluss neuer Marktakteure bedroht. Online-Neuwagenvermittler und Online-Broker setzen den klassischen Autohändler durch ihr disruptives Geschäftsmodell und eine aggressive Preispolitik mit teilweise zweistelligen Rabatten bereits jetzt stark unter Druck. Für die Händler sind derartige Rabattofferten aufgrund einer ohnehin geringen Umsatzrendite im Handel dauerhaft existenzbedrohend. Es gibt jedoch Händler, welche die Digitalisierungstendenzen schon zu ihrem Vorteil ausnutzen, wie das Beispiel des englischen Hyundai-Händlers Rockar zeigt, der aus einem kleinen Showroom in einem Londoner Einkaufszentrum mittels eines digitalen Vertriebskanals über 1 000 Neuwagen jährlich verkauft.

Doch was sind die wesentlichen Erfolgsfaktoren für den Automobilvertrieb der Zukunft, um in einer zunehmend digitalisierten Welt zu bestehen? Entscheidend für die verantwortlichen Akteure ist es zu begreifen, dass man sich dieser komplexen und vielseitigen Thematik von verschiedenen Seiten annähern muss. Für den digitalen Automobilvertrieb können vier zentrale Treiber mit unterschiedlichen Schwerpunkten identifiziert werden, wie in Abbildung 2, dargestellt.

Digitale Tools

Einer der wichtigsten Treiber für den digitalen Automobilvertrieb ist der Einsatz moderner, digitaler Tools. Sowohl Automobilhersteller als auch -händler arbeiten heute mit teilweise überholten IT-Systemen. Hier besteht akuter Handlungsbedarf. Für die Akteure im automobilen Vertrieb ist es von zentraler Bedeutung, moderne IT-Systeme nicht als Kostentreiber zu sehen, sondern als eine Chance, den gesamten Geschäftsablauf zu optimieren. Des Weiteren steht die Automobilbranche vor der Herausforderung, vorhandene Schnittstellenproblematiken in den Griff zu bekommen. Durch die Vielzahl der verwendeten Systeme und einer fehlenden logischen und sinnvollen Vernetzung kommt es immer wieder zu Datenverlusten und Brüchen im Prozess.

Die Automobilindustrie muss daher eine Schnittstellenharmonisierung zum einen in ihrer internen Prozesslandschaft weiter vorantreiben, also innerhalb der Systeme zwischen Herstellern, Händlern und dem automobilen Bankensystem. Zum anderen gilt es, diese Vernetzung auf die Kundenprozesse zu übertragen. Dem Kunden sollte es zukünftig ermöglicht werden, ein ganzheitliches Angebot aus einer Hand zu bekommen. Tesla Motors dient hier als gutes Beispiel, wie innerhalb der neugeschaffenen digitalen Verkaufskanäle eine Integration von Fahrzeug-, Leasing-, Finanzierungs- und Versicherungsangeboten vollzogen werden kann.

Durch eine erfolgreiche Integration der Schnittstellen verschiedener Systeme sollte es der Automobilindustrie ebenfalls gelingen, vorhandene Probleme rund um das Thema Datenhoheit zu lösen. Momentan werden Kundendaten zwischen Hersteller und Händler größtenteils unter Verschluss gehalten, was ein enormes Hindernis für eine zielführende Kundenorientierung darstellt.

Letztendlich stellt die Einführung von Big-Data-Prozessen in Kombination mit einer direkten Einbindung in moderne CRM-Systeme eine der wichtigsten Handlungsempfehlungen dar. Nur durch die Freigabe der Daten aufseiten der Hersteller und Händler und die Etablierung von digitalen Tools und Prozessen, die ein strukturiertes Auswerten und Ableiten von Maßnahmen aus großen Datenmengen ermöglichen, lässt sich das Ziel einer gesteigerten Kundenorientierung vonseiten der eingesetzten Tools erreichen.

Radikale Prozesseinschnitte

Die zunehmende Digitalisierung innerhalb des automobilen Vertriebs muss zu einer vollkommenen Neuausrichtung vieler Prozessabläufe führen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die stärkere Ausrichtung und Orientierung der Prozesse auf den Kunden und die damit verbundene nahtlose Verknüpfung aller Verkaufskanäle. Die wohl prägnanteste und für den Kunden sichtbarste Veränderung, die durch die Digitalisierung ermöglicht wird, ist die Einführung neuer, rein digitaler Vertriebskanäle.

Für den Automobilvertrieb der Zukunft stellt die Integration der physischen und digitalen Vertriebskanäle ein zentrales Anforderungsparadigma dar. Die einzige Handlungsempfehlung kann hierbei die erfolgreiche Etablierung eines hybriden Vertriebsmodells sein. Zukünftig werden die Möglichkeiten des reinen Onlinekaufs von Autos deutlich zunehmen. Diese Tendenz lässt sich an den bereits vorhandenen Beispielen, etwa der Vertriebsstruktur der Marke Tesla oder dem genannten BMW-Pilotprojekt in UK, eindeutig belegen.

Auch der physische Handel wird weiterhin seine Daseinsberechtigung innerhalb des Automobilvertriebs der Zukunft behalten. Allerdings wird sich das Aufgabenspektrum und das Selbstverständnis der stationären Händler deutlich wandeln müssen. Somit sollte es das Ziel der Hersteller und der Händler gleichermaßen sein, die Online- und Offline-Verkaufsprozesse eng miteinander zu verzahnen und dem Kunden die bestmögliche Kauferfahrung zu bieten. Der Kunde erhält so die Möglichkeit, abhängig von seinen persönlichen Präferenzen frei zwischen den verschiedenen Vertriebskanälen zu wählen.

Zeit für neue Verkaufsflächenkonzepte

Die dritte Säule des Modells "Automobilvertrieb der Zukunft" bilden die Verkaufsflächen im stationären Handel. Neben dem bereits ausführlich beschriebenen Einfluss der Digitalisierung wirkt mit der Urbanisierung noch ein zweiter wichtiger Megatrend auf den stationären Handel. Laut Prognosen werden bis zum Jahre 2025 rund 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Dies hat einen massiven Einfluss auf die Kosten stationärer Verkaufsflächen. Gesteigerte Mieten führen zu enormen Kostenerhöhungen und machen somit Verkaufsflächen in Städtelagen zu einem Luxusgut. In der Folge wird sich der stationäre Handel bezüglich Größe und generellem Auftritt wandeln müssen. Dies zeigt auch die sinkende Zahl der Autohausbesuche der Kunden innerhalb des Kaufprozesses.

Durch moderne, digitale Technologien und den Einsatz neuer Konzepte, wie digitale Flagshipstores (Vorzeigeläden) und Pop-up-Stores3) , kann die Transformation des stationären Handels erfolgreich vollzogen werden. Mit der Etablierung virtueller Showrooms in zentralen Innenstadtlagen, die aufgrund von Highend-Präsentationsflächen in der Lage sind, auf große Fahrzeugbestände zu verzichten und deren Größe sich im Vergleich zu traditionellen Autohäusern drastisch reduzieren lässt, wird dem Kunden zukünftig ein vollkommen neues Verkaufserlebnis geboten.

Im Mittelpunkt der Mensch

Die Digitalisierung der vertrieblichen Aktivitäten der Automobilbranche stellt sich aus einer ganzheitlichen Perspektive heraus betrachtet als ein fundamentaler Change-Prozess dar, in dem insbesondere die menschliche Komponente eine entscheidende Rolle spielt. Dabei sind allen voran die Führungskräfte und Verkäufer im Automobilhandel gefragt. Darüber hinaus müssen durch den gezielten Einsatz von Change-Management-Methoden potenzielle Widerstände gegen die neuen, digitalen Rahmenbedingungen harmonisiert werden. Gleichzeitig müssen die Händler es schaffen, ihre zukünftigen Ausbildungs-, Qualifizierungs- und Schulungsmethoden vollkommen auf das geänderte Anforderungsprofil des Automobilverkäufers auszurichten. Nur wenn es dem Handel gelingt, entsprechendes Wissen durch humane Ressourcen in den Betrieben anzureichern, kann ein Übergang in die digitale Welt erfolgreich sein.

Wie geht es weiter?

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Kunden sind bereit, sich auf die Digitalisierung des Verkaufsprozesses einzulassen. Für Hersteller und Händler ergeben sich hieraus enorme Potenziale und Chancen. Die Händler und Hersteller, die diese Möglichkeiten frühzeitig für sich nutzen, werden sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil erarbeiten. Zahlreiche aktuelle Beispiele belegen, wie die Strukturen und Vertriebswege der traditionellen Automobilhersteller und -händler zukünftig vermehrt durch disruptive Geschäftsmodelle und völlig neue Marktteilnehmer angegriffen werden könnten. Für die Unternehmen ist es somit von zentraler Bedeutung, sich nicht auf den bisherigen Digitalisierungsinitiativen auszuruhen, sondern in einem rekursiven und iterativen Prozess die eigenen Vertriebswege, -strukturen und -kanäle ständig kritisch zu hinterfragen. Nur so ist es möglich, schnell und präzise auf die sich ändernden Rahmenbedingungen zu reagieren.

1) Quelle: Capgemini, Cars Online 2015, S. 17.

2) Es wurden die deutschen Webseiten der Automobilhersteller Audi, BMW, Citroen, Fiat, Ford, Honda, Mercedes, Opel, Peugeot, Renault, Toyota und Volkswagen analysiert.

3) Temporäre Läden, die Produkte inszenieren, um die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen.

DER AUTOR:

Christian Lenz, Köln, hat im September 2016 erfolgreich sein Masterstudium Business Administration an der Rheinischen Fachhochschule Köln abgeschlossen. Seine Masterarbeit mit dem Thema "Analyse der Digitalisierung im Automobilvertrieb und Ableitung möglicher Handlungsempfehlungen" wurde als beste seines Jahrgangs ausgezeichnet und diente als Basis für diesen Artikel.E-Mail: lenz.christian89[at]gmail[dot]com

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