Leitartikel

Gestörte Idylle

Man hätte es fast schon vergessen: Noch Anfang Mai 2006 herrschte an
den Finanzmärkten so etwas wie eine Idylle. Die Messlatte der
konjunkturellen Befindlichkeit, der Geschäftsklimaindex des
Ifo-Instituts war zum fünften Mal gestiegen. Mit 105,9 wurde zudem das
höchste Niveau seit fünf Jahren verbucht. Auf einen knappen Nenner
gebracht: Im Frühjahr 2006 präsentierte sich die Stimmungslage so
positiv wie schon lange nicht mehr. Und dies trotz eines ungewöhnlich
hohen Ölpreises, anziehender Zinsen, eines schwächelnden Dollars und -
vice versa - eines erstarkten Euros. So verwundert es kaum, dass die
führenden Forschungsinstitute in ihrem am 26. April vorgelegten
Frühjahrsgutachten eine ausgeprägte Vorliebe für das Adjektiv
"kräftig" zeigten. Nicht nur bei der globalen Wertung der
Weltwirtschaft, allen voran für die Schwellenländer, denen durchweg
eine stattliche Expansion attestiert wird. Aber auch anderswo,
namentlich in Japan, geht es mit der Konjunktur jetzt "kräftig" nach
oben. Eine Ausnahme machen lediglich die Länder der Eurozone, wo die
konjunkturelle Erholung - so die Institute - "keine allzu große
Dynamik" zeige.
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Für die Zwölfer-Riege des Euroraums wird das Wachstum in diesem Jahr
nur auf 2,1 Prozent taxiert. Im Vergleich zu 2005, als das
Bruttoinlandsprodukt um 1,4 Prozent zunahm, ist das zwar mehr, aber
nach wie vor zu wenig, um bei den strukturellen Problemen schneller
voran zu kommen. Alles in allem ist es eine zuversichtlich stimmende
Bestandsaufnahme, die bis Mitte Mai auch die Finanzmärkte in bester
Laune hielt. Die Aktienkurse steuerten beiderseits des Atlantiks
mehrjährige Höchststände an, in den USA trotz des schwächelnden
Dollars, in Europa, vor allem aber in Deutschland, trotz des kräftig
gestiegenen Euros. Und was nicht minder verblüffte: Die Aktienmärkte
blieben im Gegensatz zur herkömmlichen Lehrmeinung auf Kurs. Der
Szenenwechsel an den Anleihemärkten wurde nicht zur Kenntnis genommen.
Die Faustregel, wonach steigende Renditen an den Bondmärkten den
Aktienmärkten alles andere als förderlich sind, schien im Frühjahr
2006 außer Kraft gesetzt.
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Tatsächlich hatte sich an den Anleihemärkten der Wind jedoch längst
gedreht. Beispielhaft dafür ist die zehnjährige Bundesanleihe - die
Benchmark-Emission in den Ländern der Eurozone -, die Ende 2005 noch
knapp 3,3 Prozent abwarf, zwischenzeitlich aber über vier Prozent
anzog. Richtungsweisend waren da einmal mehr die USA, wo die
Bondmärkte auf die Erhöhung des Leitzinses lange Zeit nicht
reagierten. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der Alan Greenspan, damals
noch Präsident der US-Zentralbank, so irritierte, dass er im
vergangenen Jahr noch von einem Zinsrätsel sprach.
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Schließlich wurde der Leitzins von Mitte 2004 bis Ende 2005 von 1,0
auf 4,25 Prozent angehoben - nach der 16. Korrektur vom 10. Mai liegt
die Verzinsung der Fed Funds bei 5,0 Prozent -, ohne dass dies auf
Anleihen mit langen Laufzeiten durchgeschlagen hätte. Inzwischen
scheint das Zinsrätsel gelöst zu sein. Das Erstarken der
Weltwirtschaft hat die globale Liquiditätsfülle abgeschwächt - und das
mit zinspolitischen Konsequenzen. In den USA stieg die Rendite
zehnjähriger Papiere unter "Nachhilfe" des leichteren Dollars
vorübergehend bis auf 5,2 Prozent. Zum Jahresanfang mussten sich die
Investoren noch mit 4,4 Prozent begnügen.
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Doch Mitte Mai brachten sich unversehens Risiken in Erinnerung, die
sich zwar schon zuvor abzeichneten, bis dahin aber beharrlich
ausgeblendet wurden: Aufkommende Zinsängste, die Unsicherheit über den
weiteren Kurs der US-Zentralbank, aber auch anstehende
Leitzinserhöhungen der Europäischen Zentralbank. Für Irritationen
sorgte nicht zuletzt auch die veränderte Währungsszene mit einem seit
November 2005 um annähernd zehn Prozent verteuerten Euro. In der
Addition eine Gemengelage, die den Dax der 30 umsatzstärksten
deutschen Aktien, der am 9. Mai 2006 mit 6 141 noch auf ein
Fünfjahreshoch geklettert war, innerhalb weniger Tage fast 600 Punkte
oder knapp zehn Prozent abstürzen ließ. Der Dow Jones der 30 Blue
Chips der Wallstreet, mit 11 643 auf dem besten Wege, sein
All-Time-High von 11 723 vom Januar 2000 einzustellen, wurde um rund
500 Punkte erleichtert.
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Die Frühjahrsidylle war gestört, so manche Blütenträume an den
Aktienmärkten jäh geplatzt. Dabei handelte es sich offensichtlich doch
nur um eine Korrektur, die eigentlich fällig war. Schließlich war der
Leitindex des deutschen Aktienmarktes von Mitte März 2003 bis Ende
vergangenen Jahres um mehr als 3 200 Punkte oder 145 Prozent nach oben
geschnellt. Die schweizerische Privatbank Wegelin & Co wertete denn
auch das Mai-Debakel als einen eher zwangsläufigen Vorgang:
"Aktienrenditen von mehr als sieben Prozent pro Jahr sind
'übernormal', sie müssen sich irgendwann wieder korrigieren". Der
ohnehin "verdächtige" Monat Mai lieferte jedenfalls eine eindringliche
Lektion dafür, dass sich ein beträchtliches Risikopotenzial aufbaut,
wenn sich die Finanzmärkte zu stark von der Entwicklung der
Realwirtschaft abkoppeln. Der konjunkturellen Zuversicht für das Jahr
2006 sollte das freilich keinen Abbruch tun. Die Wachstumsprognosen
für 2006 müssen deshalb nicht umgeschrieben werden - wenn auch der
Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts im Mai marginal auf 105,6
zurückfiel.H.H.

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