Leitartikel

"Blinde Kuh"

Steht uns eine weitere Zinsrunde - Federal Reserve und Europäische
Zentralbank (EZB) an der Spitze ins Haus? Vermutlich. Indessen lässt
sich über das Wann und Wie viel trefflich streiten. Vor diesem Problem
stehen nicht nur die Fed und die EZB-Watcher, sondern auch die
Notenbankiers selbst dies- und jenseits des Atlantiks. Die handelnden
Personen sind wahrlich nicht zu beneiden; denn die auf der anderen
Seite stehenden Politiker "wissen" nicht nur alles, sondern alles viel
besser, wobei sie sich davor nicht scheuen, die Unabhängigkeit der
Zentralbanken mehr oder weniger unverhohlen in Frage zu stellen. Der
französische Innenminister und ersten Mann des bürgerlichen Lagers,
Nicolas Sarkozy, beschwor kürzlich die in Paris so beliebte
Industriepolitik, indem er die EZB wegen ihrer vor allem auf
Inflationsbekämpfung ausgerichtete Strategie scharf kritisierte; denn:
dies führe zu einem zu starken Euro, was wiederum Arbeitsplätze
bedrohe. Dies äußerte er nicht etwa durch die Hintertür, sondern ganz
offen. Industriepolitik dürfe in Europa nicht länger ein Tabu sein.
Eine echte europäische Wirtschaftspolitik müsse das Wachstum in den
Vordergrund stellen. Gut, aber nicht vor dem Hintergrund des jenseits
des Rheins so geschätzten Käseglocken-Denkens.
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Der internationale Wettbewerb war einer der Säulen des deutschen
"Wirtschaftswunders", und er sollte auch jetzt in Europa für Kraft und
Stärke sorgen. Das hat der Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet,
erfreulicherweise auf seine Fahnen geschrieben. Eine Ausdehnung der
Gespräche mit dem Chef der Eurogruppe, dem Luxemburger Jean-Claude
Juncker, lehnte er jüngst ein weiteres Mal ab: Er wies vielmehr die
Forderung aus dem politischen Lager nach einer stärker
"wachstumsorientierten" Zinspolitik zurück. Das Zulassen von mehr
Inflation, das lehre die Geschichte, führe nicht zu mehr Wachstum.
Auch die nachlässige Fiskalpolitik ist ihm - Gott sei's gedankt - ein
Gräuel. Und er hat bereits mehrfach Kritik an dem "reformierten"
Stabilitätspakt geäußert, der keine Sanktionen für Haushaltssünder
vorsieht. Schlendrian dort und Streben nach Disziplin hier: diese
divergierenden Mentalitäten sind eine schwere Bürde für die
Währungspolitiker, die umso mehr drückt, als die Zins- und
Geldsteuerung auch ganz ohne politischen Einflüsse kompliziert genug
wäre.
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Einer der Hauptgründe hierfür ist der oftmals allzu lange
Zeitunterschied zwischen monetären Beschlüssen und deren Wirkung. Die
Experten sind sich darin einig, dass dieses "Time-lag" Jahre umfassen
kann. Handeln deshalb die Zentralbanken zu kurzfristig? Die Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vertritt diese Meinung. Der
derzeitige Denkansatz berge das Risiko, dass die Leitzinsen zu lange
niedrig gehalten würden. Außerdem blieben die Entwicklungen auf den
Finanzmärkten so gut wie ausgeklammert. Die Folge: steigende Preise
für Vermögenswerte heizten die Spekulation an, so dass sich
längerfristig Ungleichgewichte aufbauten, was eine Bedrohung für die
Stabilität der Preise darstelle. Kein Wunder, wenn sich die BIZ jüngst
mit einer Projektion beschäftigte, nämlich mit der Möglichkeit eines
"abrupten Schocks, der zu Turbulenzen auf den internationalen
Finanzmärkten führt". Besorgnis erregend sei nicht zuletzt die Zunahme
der fremdfinanzierten Übernahmen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es
gekocht wurde, doch sind die Befürchtungen der BIZ nicht völlig aus
der Luft gegriffen. Das Image des legendären "Zauberers" und
Ex-Fed-Chefs Alan Greenspan wird jetzt mehr und mehr nüchtern gesehen.
"Read my lips" ist out; read the facts ist nunmehr angesagt.
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Die meisten Währungspolitiker sind sich darin einig, dass die Federal
Reserve viel zu lange an ihrer Niedrigzinspolitik und dem allzu weiten
Geldmantel festgehalten hat. Das Kreditvolumen des Privatsektors in
den Staaten explodierte im 1. Quartal 2006 mit einer Jahresrate von
sagenhaften elf Prozent, und im Juni sind die Verbindlichkeiten der
Unternehmen mit einer Jahresrate von 8 Prozent gewachsen. Das ist die
stärkste Zunahme seit 2003. Willkommen im Club; denn auch die EZB
lässt seit Jahren zu, dass ihr Geldmengenziel hartnäckig und deutlich
überschritten wird. Summa summarum: dies alles ist Bühne und Kulisse
für das diesjährige Sommertheater der Leitzinsen in der westlichen
Welt. Das Spiel dürfte "Blinde Kuh" heißen; denn wesentliche
Bestimmungselemente können nur durch Raten ins Kalkül gezogen werden.
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Was wird die Fed im August unternehmen, nachdem sie jüngst den
Leitzins um 0,25 Punkte auf 5,25 Prozent heraufgeschraubt hat? Es war
immerhin die 17. Erhöhung seit Aufgabe des damaligen Minimalniveaus.
Auf der einen Seite könnten sich die inflatorischen Tendenzen
verstärken, was eine weitere Drehung an der Zinsschraube denkbar
machte. Andererseits wäre aber auch eine leichte Abschwächung der
konjunkturellen Kräfte vorstellbar. Dies deutete in Richtung auf ein
Verharren des Leitzinses auf derzeitigem Level. Nicht dies allein
macht Prognosen problematisch. Auch die generelle Strategie der
US-Notenbank dürfte sich geändert haben. Experten wurden hellhörig,
als im Kommentar der Fed zur jüngsten Zinserhöhung nicht mehr so hart
gegen die Inflation gewettert wurde und auch keine Hinweise auf das
künftige Vorgehen enthalten waren. Letztere hatte Alan Greenspan in
gewohnt stark verklausulierter Weise zumeist gegeben. Die Beobachter
glauben, dass sich der Offenmarkt-Ausschuss nunmehr an der jeweiligen
makroökonomischen Analyse orientieren wird.
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Die Investmentbank JP Morgan ist indessen der Meinung, die Federal
Reserve werde 2007 gar nicht darum herumkommen, den Leitzins bis auf 6
Prozent in die Höhe zu treiben - und dies, obwohl die 56 vom "Wall
Street Journal" regelmäßig befragten Ökonomen bescheidenere
Wachstumsraten prognostizieren. Im 2. Quartal 2006 dürften es danach
weniger als plus drei Prozent (plus 2,8 Prozent) gewesen sein, und für
das 1. Semester 2007 könnten es auch nur plus 2,7 Prozent werden.
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die verbale Zurückhaltung
Ben Bernankes als indirekte Ankündigung einer Zinspause verstanden
worden ist. Die Märkte reagierten jedenfalls prompt, was zu einem
Kursdruck auf den Dollar und - spiegelbildlich - zu einer Kursavance
für den Euro führte. Vor diesem Hintergrund erstaunt wenig, dass der
EZB-Rat unter Jean-Claude Trichet sein Pulver trocken hielt und sich
in der jüngsten Sitzung für eine Beibehaltung des Leitzinses bei 2,75
Prozent aussprach. Auch drängende Fragen nach der künftigen
EZB-Politik konnten dem Präsidenten nicht mehr entlocken als die
Aussage, der europäische Leitzins sei "derzeit angemessen". Mehr noch:
"große Wachsamkeit" sei geboten, damit mittelfristige Preisrisiken
nicht erst aufträten. Und schließlich warnte Trichet: "Ein
schrittweiser Entzug der monetären Unterstützung bleibt geboten".
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Aus diesen Formulierungen lesen die meisten Experten heraus, dass die
EZB bereits am 3. August den Leitzins um 0,25 Punkte heraufschleusen
dürfte. Entgegen bisherigen Ferien-Usancen sollen im Übrigen die
Ratsmitglieder nicht nur per Telefon, sondern in persona anwesend
sein. Immerhin wird die Zielvorstellung der EZB - eine Teuerungsrate
von nicht mehr als zwei Prozent - seit geraumer Zeit überschritten,
und die Stimmen der Warnenden häufen sich. In der Tat rangiert die
Entwertungsrate derzeit bei 2,5 Prozent, woran sich auch im kommenden
Jahr kaum Nennenswertes verbessern dürfte. Was Wunder, wenn auch die
Meinung im künftigen Muster-Beitrittsland Slowenien von Skepsis
bestimmt werden. Nach einer Umfrage durch die EU-Kommission sind jetzt
65 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass die Einführung des Euro
die Inflation hochtreiben werde. Vor einem knappen Jahr waren es erst
49 Prozent gewesen. Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel
Weber, erklärte, der EZB-Rat müsse vor allem Sorge tragen, dass sich
die Teuerungserwartungen der Bundesbürger nicht nach oben verlagerten.
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Des Weiteren meinen Beobachter, dass die EZB künftig in einem
schnelleren Tempo zu Zinsanpassungen bereit sein dürfte: Ende dieses
Jahres könnte daher ein Leitzins von 3,5 Prozent erreicht sein. Noch
vor wenigen Wochen hatte man für diesen Termin 3,25 Prozent
vorausgesehen. Was nun die konjunkturelle Komponente anbetrifft, so
zeichnet sich heuer besonders scharf der Konflikt ab, in dem sich
Europas Zentralbank von Anfang an befindet: Die Wirtschaftsabläufe in
den Mitgliedsländern sind höchst verschieden; was für den einen
monetär angemessen erscheint, ist für den anderen Gift. So sehen viele
Ökonomen eine deutliche Eintrübung des EU-Wirtschaftsklimas, und
folgerichtig plädieren sie für eine Zinspause, wenn nicht gar für eine
Senkung der EZB-Rate. In Italien sei beispielsweise die
Wirtschaftsleistung bereits zwei Quartale hintereinander geschrumpft.
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Indessen erlebt die deutsche Wirtschaft den stärksten Aufschwung seit
dem Jahre 2000 und stellt damit die bisherigen Prognosen deutlich in
den Schatten. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass der
deutsche Export im 1. Quartal gegenüber der gleichen Vorjahreszeit um
nicht weniger als 16,3 Prozent gestiegen ist. Nimmt man als Abnehmer
die zehn neuen EU-Mitgliedsländer allein, dann kommt man sogar auf
plus 27 Prozent. Eine "akkomodierende" monetäre Politik würde also
schwachen Partnern wie Italien helfen, in der Bundesrepublik aber à la
longue zu einer Überhitzung führen. Auch wegen diesem "Geburtsfehler",
aber auch aus Angst vor externer Bürokratisierung werden die
Vorbereitungen für einen EU-Beitritt von manchen Beitrittskandidaten
nur lax vorangetrieben. Zum Ärger Brüssels sind Ungarn und Polen von
den Konvergenzkriterien noch weit entfernt und treffen kaum Anstalten,
sich technisch auf das Euro-Bargeld vorzubereiten. Es knirscht also im
EU-Getriebe. Damit rückt der Zeitpunkt näher, an dem nicht, wie bis
heute, reine Zinsunterschiede das Wechselkursgefüge bestimmen, sondern
vielmehr auch die fundamentalen Diskrepanzen. OS.

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