Aufsätze

Derivate im Schussfeld der Kritik

"Das Casino schließen", fordert Peer Steinbrück. Ein zentraler Bestandteil seines Papiers zur Bändigung der Finanzmärkte ist die Regulierung des außerbörslichen Handels von Derivaten und das Verbot von Derivaten ohne realwirtschaftlichen Hintergrund.1) Die parteiübergreifende Zustimmung und der Applaus der Öffentlichkeit ist diesen Forderungen sicher, gelten Derivate doch in der Presse, ja sogar im Theater als "Zockerinstrumente" und als Ursache der Finanzmarktkrise. Ein angesehener Privatbankier charakterisiert Derivate sogar als "Krebsgeschwür".2)

Bevor diese Innovationen jedoch verboten werden, ist zu untersuchen, wer Derivate aus welchen Gründen einsetzt. Ergibt diese Analyse, dass Derivate einerseits Nutzen stiften, andererseits aber Krisen auslösen, ist zu prüfen, ob die destabilisierende Wirkung auf Finanzmärkte durch präventive Maßnahmen beseitigt oder wenigstens in tolerierbaren Grenzen gehalten werden kann.

Risiken separat handeln

Derivate entstehen, indem die Risiken, die Vermögenswerten immanent sind, separiert und damit isoliert handelbar werden.3) Derivatemärkte haben die Funktion, den Preis für ein bestimmtes Risiko festzustellen und es an den Marktteilnehmer zu transferieren, der es am leichtesten tragen kann. Dabei kann es nicht Ziel eines Investors sein, Risiken zu vermeiden, vielmehr sollte er die zu seiner Situation passenden Risiken übernehmen, die anderen abwälzen. So werden Versicherungen durch die Übernahme zusätzlicher gleichartiger Einzelrisiken sicherer.4)

Risikopolitisch begründet ist auch die Beliebtheit von Eigenheimen. Wer im eigenen Haus wohnt, erspart sich sowohl den Ärger mit dem Mieter als auch das Risiko der Mietpreiserhöhung oder gar der Kündigung des Mietvertrages, obwohl beziehungsweise weil er neben dem Vermieter- auch das Mieterrisiko trägt. Beide Risiken heben sich in seiner Person auf. Nicht wenige Immobilieninvestitionen unterbleiben, weil Anleger vor dem mit der Vermietung verbundenen Ärger zurückschrecken. Gäbe es ein Derivat auf dieses Risiko, würde das Angebot an Wohnraum steigen. Das Vermieterrisiko - Mietausfälle, Rechtsstreitigkeiten oder gar Vandalismus - von der Immobilie zu trennen und als Derivat zu handeln, scheitert an der mangelnden Standardisierbarkeit.

Industrieunternehmen importieren Rohstoffe aus politisch unsicheren und von Unwetterkatastrophen betroffenen Regionen. Deshalb sind sie dem Risiko stark schwankender Beschaffungspreise ausgesetzt. Der Versuch, gestiegene Einkaufspreise auf Kunden abzuwälzen, funktioniert nur, wenn Konkurrenten die gleiche Strategie verfolgen. Alternativ könnten Industrieunternehmen versuchen, die Preise in langfristigen Lieferverträgen festzuschreiben. Selbst wenn das gelingen sollte, verlieren sie die Flexibilität bei der Auswahl des Rohstofflieferanten und tragen das Ausfallrisiko des Vertragspartners, wenn sie sich zu höherem Preis eindecken müssen.

Diese Nachteile lassen sich vermeiden, wenn das Marktpreisrisiko vom Grundgeschäft getrennt und isoliert als Derivat gehandelt wird: Mit einem auf die Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnittenen Forward-Termingeschäft auf Cash-Settlement-Basis über eine Bank wird bei Fälligkeit des Kontraktes die Differenz zwischen dem aktuellen Marktpreis und dem Terminpreis in Euro oder US-Dollar zwischen den Vertragsparteien ausgeglichen. Die Preise der als Futures bezeichneten standardisierten und damit an der Börse handelbaren Terminkontrakte sind transparenter, das Unternehmen trägt aber das Risiko, dass das Grundgeschäft nicht exakt mit dem Absicherungsgeschäft übereinstimmt.

Feste Kalkulationsgrundlage gesucht

Optionen werden zur Absicherung im Commodity-Bereich weniger abgeschlossen, weil Industrieunternehmen Planungssicherheit anstreben und sie auf die Gefahr steigender Preise fokussiert sind. Darüber hinaus sind Optionen bei den wenig liquiden und volatilen Commodity-Märkten teuer. Die Strategie der festen Kalkulationsgrundlage ist jedoch nicht problemlos: Wenn der Rohstoffpreis während der Laufzeit des Termingeschäfts einbricht, hat der Konkurrent, der sich nicht abgesichert oder sich für eine Option entschieden hat, Wettbewerbsvorteile, weil er keine Ausgleichszahlung leisten muss.

Optimierung der Finanzierung

Mit Termingeschäften auf Währungen werden insbesondere die aus Exportgeschäften resultierenden Devisenrisiken neutralisiert, wobei sich bei vielen Unternehmen die Währungsrisiken aus Exportund Importgeschäften zum Teil aufheben. Mit Termingeschäften auf Zinssätze können Unternehmen ihre Finanzierungskosten festschreiben, ohne damit die Flexibilität für das Zinsmanagement aufzugeben. Zu den Termingeschäften zählen auch Forward-Rates, mit denen Zinssätze für künftige Kredite schon Jahre im Voraus festgelegt werden können.

Wer von künftig sinkenden oder - bei steigender Zinsstruktur - von konstanten Zinssätzen ausgeht, wird einen Kredit aufnehmen, dessen Verzinsung vierteljährlich an den Euribor-Satz angepasst wird. Ist er sich seiner Zinsmeinung nicht sicher, erwirbt er einen Cap, mit dem er sich gegen steigende Zinssätze absichert. Der Verkäufer dieser Option zahlt dem Käufer die den vereinbarten Cap-Satz übersteigenden Zinsen, dafür erhält er die Cap-Prämie.

Maßgeschneiderte Lösungen

Festzinsprodukte sind häufig mit Kündigungsklauseln ausgestattet: Das Schuldnerkündigungsrecht ist ein Long-Call, das Gläubigerkündigungsrecht ein Long-Put, der verhindert, dass der Kurs der Anleihe wesentlich unter den in den Bedingungen vereinbarten Rückzahlungsbetrag fallen kann. Entsprechend ist das Recht des Bankkunden, seinen Festzinskredit oder sein Wachstumssparbuch kündigen zu können, nichts anderes als eine Option. Als Long-Call kann auch das Angebot einer Bank für ein Festzinsdarlehen interpretiert werden: Wenn der Marktzinssatz während der Angebotsfrist fällt, wird der Kunde den Vertrag nicht unterschreiben, sondern neu verhandeln. Bis heute werden diese "impliziten Optionen" zumindest im Retailgeschäft der Banken weder bewertet noch gesteuert und dem Kunden auch nicht als "Zusatznutzen" verkauft.

Dabei können Derivate als effiziente Marketinginstrumente genutzt werden, um sich dem Preiswettbewerb im standardisierten Geschäft, den Filialbanken auf die Dauer kaum gewinnen können, durch auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden zugeschnittene Lösungen zu entziehen. Allerdings erfordert das Berater mit Fachkompetenz auf einem Qualifikationsniveau, das jenem angesehener akademisch gebildeter Freiberufler entspricht. Erst dann werden vermögende Kunden zu Honorarzahlungen bereit und Berater nicht mehr gezwungen sein, komplexe, provisionsträchtige Produkte zu vertreiben.

Der Future ist das idealtypische Instrument, um auf steigende oder fallende Kurse zu setzen. Den Hebeleffekt erreichen Investoren durch den minimalen Kapitaleinsatz, der sich auf die Sicherheitsleistung (Margin) in Höhe von etwa zehn Prozent der mit dem Future-Kontrakt eingegangenen Eventualverpflichtung beschränkt. Wenn der Kurs des Basisobjektes gegen die Erwartung des Investors läuft, muss er Sicherheiten nachschießen, andernfalls wird seine Position zwangsweise geschlossen und der entstandene Verlust aus der Margin befriedigt.

Die Spekulation mit Futures steht gegenwärtig im Schussfeld der Kritik, weil sie für die gestiegenen Weizen-, Reis- und Maispreise und damit für den Hunger in der Welt verantwortlich sei. Die meisten Forschungsarbeiten zu diesem Thema bestätigen den Zusammenhang nicht.5) Eine Mehrheitsmeinung muss aber nicht richtig sein, vielmehr ist eine gute Theorie eine gute Praxis: Wer aus Preisschwankungen Gewinn ziehen will, muss im Tief kaufen und im Hoch verkaufen, damit dämpft er die Schwankungen. Prinzipiell gilt dies auch für Spekulanten, die darauf setzen, dass langfristig das Angebot an Agrarrohstoffen mit der Nachfrage nicht Schritt hält. Der Aufbau ihrer Position wirkt preistreibend, der Abbau preisdämpfend. Gewinn erzielen sie, wenn der Verkaufs- über dem Kaufpreis liegt. Derivatemärkte nehmen demnach realwirtschaftlich induzierte Preissteigerungen vorweg und setzen Anreize, das Angebot rascher auszuweiten.

Dem Terminkontrakt mit zwangsweiser Schließung nachgebildet sind die insbesondere bei Privatanlegern beliebten Knockout-Produkte. Diese verbrieften Instrumente verfallen wertlos, wenn der Kurs des Basiswertes gegen die Erwartung des Anlegers läuft und der beim Erwerb des Zertifikats eingezahlte Sicherheitenbetrag aufgebraucht ist. Auch mit dem Erwerb von Optionen kann gehebelt an Kursveränderungen verdient werden. Diese Instrumente können während der Laufzeit nicht ausgeknockt werden.

Absicherung gegen Kursänderungen

Genutzt werden Long-Puts zur Absicherung von Portfolios gegen fallende Kurse. Durch den Umweg über den Kauf von Optionen verteuert sich die Transaktion gegenüber dem entsprechenden Terminverkauf um die Absicherungsprämie.

Der sich mit Long-Calls gegen steigende Kurse absichernde Erwerber einer Unternehmensbeteiligung kann die Absicherungsprämie einsparen, indem er zusätzlich zum Erwerb der Calls Put-Optionen mit gleichem Ausübungspreis und gleicher Laufzeit veräußert. Dann kompensiert der Erlös aus dem Verkauf der Puts die im Call enthaltene Risikoprämie. Solange der Kurs der Aktien des Zielunternehmens steigt, bringen die Stillhalterpositionen kein Risiko. Deshalb kann der Beteiligungserwerb in dieser Phase durch zusätzliche, über die Zahl der erworbenen Calls hinausgehenden Verkäufe von Puts noch weiter verbilligt werden. Gefahr droht jedoch, wenn die Aktienkäufe beziehungsweise die Käufe von Calls mangels Liquidität eingestellt werden, die Aktie weit über ihrem inneren Wert notiert und andere Marktteilnehmer auf fallende Kurse setzen.

Das Gewinn- und Verlustprofil der symmetrischen Long-Call-Short-Put-Optionen ist identisch mit jenem des Futures, es entspricht aber auch jenem des Equity-Swaps, bei denen der Receiver die Performance aus der Aktie erhält und den vereinbarten Zinssatz zahlt. Demnach kann das gleiche Gewinn- und Verlustprofil durch verschiedene Finanzinstrumente generiert werden. Das ist charakteristisch für Derivate und erschwert deren Einteilung.

Bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts haben Aktiengesellschaften Rechte zum Bezug neu zu begebender Aktien emittiert, um die Aufnahme von Kapital am Markt zur Erzielung von Stillhaltergewinnen zu nutzen. Wandelobligationen werden heute in Deutschland insbesondere auch von kleinen Gesellschaften, denen der Kapitalmarkt sonst verschlossen wäre, ausgegeben. Mit Inkrafttreten der Aktienrechtsnovelle 2012 können Wandelobligationen auch mit dem Recht des Emittenten ausgestattet werden, die Schuldtitel bei drohender Zahlungsunfähigkeit in Aktien zu wandeln. Ob diese für Anleger wenig attraktive Innovation das Ziel, die Finanzierung von Aktiengesellschaften zu flexibilisieren,6) erreicht, muss bezweifelt werden.

Die klassischen Options- und Wandelanleihen haben in den letzten Jahrzehnten durch Optionen auf bereits umlaufende oder nicht lieferbare Basiswerte, wie Indizes, an Bedeutung verloren. Die als Covered Warrants bezeichneten Instrumente werden von Banken emittiert, um damit Handels- und Arbitragegewinne zu erzielen. Ihre Stillhalterpositionen sichern sie über eigene Bestände, über die Emission strukturierter Papiere, bei denen die Anleger Stillhalterpositionen übernehmen, aber auch über Versicherungs- und Pensionsfonds, die auf ihre Wertpapierbestände Stillhaltergewinne generieren wollen, ab.

Für den Privatanleger sind diese Produkte der Schlüssel für Märkte, die ihm sonst nur mit hohen Transaktionskosten zugänglich sind. Über die von ihm gewohnte Börse kann er sich in nahezu jedem Land mit seiner individuellen Risikopräferenz engagieren, der risikoaverse Investor mit Garantiezertifikaten, der den Diversifikationseffekt nutzende Anleger über Indexprodukte; der spekulative Investor bevorzugt Hebelprodukte und mit Discountzertifikaten können Stillhaltergewinne erzielt werden.

Motivationsinstrumente

Mit der Ausgabe von Call-Optionen auf neue Aktien an angestellte Manager sollen deren Interessen mit jenen der Aktionäre gleich gerichtet werden.7) Beim Beschluss der Hauptversammlung über die Emission von Stock Options ist meist nicht transparent, dass diese Maßnahme das Steigen des Aktienkurses bremst. Durch das asymmetrische Auszahlungsprofil von Optionen mit im Vergleich zum Bestand des Unternehmens kurzen Laufzeiten profitieren Vorstände von kurzfristig eintretenden Kurssteigerungen, ohne von Verlusten betroffen zu sein. Damit haben die "Risk Taker" Anreize, bei Entscheidungen Maßnahmen zu präferieren, die den Aktienkurs beflügeln, ohne die damit verbundenen Gefahren angemessen zu gewichten. Deshalb hat die Begeisterung für Stock Options nachgelassen. Aufsichtsräte versuchen nun das Instrument so zu modifizieren, dass Vorstände mit auf maximal fünf Jahre begrenzten Anstellungsverträgen ebenso zur nachhaltigen Steigerung des Unternehmenswertes motiviert werden, wie das bei Eigentümerunternehmern zu beobachten ist.

Falsche Anreize können auch Credit-Default-Swaps (CDS) auslösen, die durch Abtrennen des Bonitätsrisikos von einer Kreditbeziehung entstehen und den Handel von Ausfallrisiken ermöglichen. Idealtypisch kann die Wirkungsweise dieser Instrumente an Euribor-Floatern, deren Kurs am Zinsanpassungstermin allein von der Bonität des Schuldners bestimmt wird, gezeigt werden: Bei Zahlungsausfall erhält der Gläubiger des variabel verzinsten Titels und Käufer des CDS von dessen Verkäufer gegen Abtretung der Forderung den Nominalbetrag der Anleihe ausbezahlt. Der CDS kann demnach als Put auf einen Floater interpretiert werden: Bei Verschlechterung der Bonität des Schuldners kompensiert der Wertgewinn des Puts den Kursverlust beim Floater.

Ihren durch die Kreditgewährung gewonnenen Informationsvorsprung könnten Banken opportunistisch nutzen, um den Sicherungsgebern überwiegend schlechte Risiken weiterzugeben. Für den Sicherungsnehmer "könnte sich zudem der Anreiz vermindern, weiterhin mit der gleichen Intensität die Bonität des Referenzschuldners zu überwachen"8). Der CDS kann sich sogar vom Absicherungsinstrument zur Wette auf die Bonitätsverschlechterung oder gar auf den Zahlungsausfall des Schuldners wandeln,9) wenn die Bank den Kredit mit einem CDS absichert, dessen Nominalbetrag den Betrag des gewährten Kredits übersteigt. Damit können CDS einerseits als Instrumente charakterisiert werden, mit denen Schuldner in die Insolvenz getrieben werden, andererseits aber als Frühindikatoren für Bonitätsveränderungen, die die Schuldner dazu motivieren, ihre Finanzen in Ordnung zu bringen. Aus beiden Interpretationen ergibt sich zwangsläufig die Frage des Einflusses von Derivate- auf Kassamärkte oder umgekehrt.

Ergänzung der Kassamärkte

Terminkurse von Rohstoffen werden von der erwarteten längerfristigen Entwicklung von Angebot und Nachfrage, die Kassapreise vielfach von das Angebot reduzierenden Eventrisiken10) dominiert. Demgegenüber wird der Preis von Finanzderivaten aufgrund von Bewertungsverfahren festgelegt,11) die ihrerseits auf Duplikationsportfolios basieren. So könnte der auf steigende Kurse einer Aktie setzende Investor alternativ zum Termingeschäft die Aktie am Kassamarkt kaufen und den Kaufpreis auf Kredit finanzieren. Der von ihm per Termin zu zahlende Betrag ergibt sich aus dem Kassakurs der Aktie plus seinen Finanzierungskosten abzüglich der während der Laufzeit des Terminkontraktes erwarteten Dividende. Das von ihm individuell errechnete Ergebnis gleicht jeder Marktteilnehmer mit dem am Terminmarkt gestellten Kurs ab und entscheidet sich dann entweder für eine Transaktion am Kassa- oder am Terminmarkt. Kassamärkte sind also nicht weniger zukunftsorientiert als Terminmärkte.

Dennoch deuten empirische Untersuchungen zum preislichen Zusammenhang zwischen Dax und Dax-Future auf eine Preisführerschaft des Dax-Future hin, die handelstechnisch begründbar ist. Statt die im Index enthaltenen Aktien zu handeln, kann der Future mittels einer einzigen Transaktion erworben werden. Das spart Zeit und Kosten, hebelt die Performance und konzentriert die Liquidität auf den Future, sodass hier viel größere Volumina umgesetzt werden können als bei Einzelaktien. Unter diesen Bedingungen werden marktrelevante Informationen zunächst im Dax-Future eingepreist, bevor sie über den arbitrageinduzierten Handel der Einzelaktien in den Dax einfließen. Empirische Evidenz für eine Preisführerschaft der Derivatemärkte findet sich auch für den Bund-Future. Ebenso haben viele Märkte für Kreditderivate die Preisführerschaft über Anleihemärkte übernommen.12)

Verstärkung von Kurstrends

Derivatetransaktionen beeinflussen auch deshalb den Kassamarkt, weil auf den Vertrieb von Derivaten fokussierte Institute die Risiken der von ihnen eingegangenen Derivatepositionen durch den Aufbau gegenläufiger Positionen zu neutralisieren versuchen: Eine Short-Future-Position wird durch den Erwerb der Anzahl der im Future erfassten Aktien am Kassamarkt, der Abschluss eines Long-Futures durch den Verkauf geliehener Aktien abgesichert.

Demgegenüber muss der Verkäufer einer Option nur einen Delta entsprechenden Teil einer Aktie erwerben (Call) oder verkaufen (Put), um gegen Kursveränderungen abgesichert zu sein, weil der Wert einer Option nur um Delta steigt oder fällt, wenn sich der Basisobjektkurs um eine Einheit ändert. Delta bewegt sich zwischen nahe Null bei weit aus dem Geld und nahe plus eins beziehungsweise nahe minus eins bei weit im Geld stehenden Calls beziehungsweise Puts. Bei steigendem Kurs wird der Absicherungsbestand aufgestockt, weil Delta steigt, mit fallendem Kurs wird er abgebaut. Der Kurs trend wird zusätzlich durch das Hedgen verkaufter Put-Positionen verstärkt.

Während demnach Future-Transaktionen sofort auf den Kassamarkt durchschlagen, beeinflussen die von Kunden nachgefragten Optionen den Kassamarkt bei Abschluss nur in Höhe von Delta, anschließend verstärken sie aber den Kurstrend. Zusätzlich besteht bei Kurseinbrüchen die Gefahr, dass Long-Futures exekutiert werden und die dadurch ausgelösten Verkaufsorders auf den Markt drücken. Umgekehrt werden durch Kurssteigerungen Margins existierender Long-Positionen freigesetzt, was dazu motiviert, weitere Long-Futures abzuschließen.

Günstigere Transaktionskosten

Die Existenz von Finanzderivaten erhöht die Auswahl an Instrumenten verschiedener Rendite-Risiko-Kombinationen,13) senkt die Finanzierungsrestriktionen potenzieller Marktteilnehmer und verschafft ihnen günstigere Transaktionskosten. Durch den Zutritt zuvor ausgeschlossener oder uninteressierter Akteure wird der Markt liquider. Zunehmende Transaktionsvolumina und eine höhere Handelsfrequenz senken tendenziell die Geld-Brief-Spanne, was wiederum Arbitrageure anzieht, die zu einer Glättung der Kursausschläge beitragen.

Durch die Absicherungstransaktionen der Derivateanbieter sowie Transaktionen am Future-Markt werden jedoch deutliche Kurstrends verstärkt, in extremen Situationen führen einseitige Kauf- oder Verkaufsorders sogar zur Austrocknung des Marktes und damit zu exorbitanten Kursausschlägen. Während durch Derivatepositionen verstärkte Kurseinbrüche sowohl bei Einzeltiteln als auch beim Gesamtmarkt beobachtet wurden, sind entsprechende Kursexplosionen wohl nur bei Einzeltiteln im Rahmen von Beteiligungskäufen denkbar. Die Wirkungszusammenhänge zwischen Derivate- und Kassamärkten sind also äußerst komplex und vom jeweiligen Umfeld abhängig. Entsprechend wird schon seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert, ob Kassamärkte durch die Einführung von Derivaten an Stabilität gewinnen oder ob deren Unsicherheit zunimmt. "Die Interaktion zwischen Derivate- und Kassamärkten bleibt Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion."14)

Zentrale ökonomische Funktionen

Derivate erfüllen wichtige ökonomische Funktionen.15) Sie erhöhen grundsätzlich die Liquidität im Markt, dienen der Absicherung von Risiken, erhöhen die Chancengleichheit privater Anleger und eignen sich als Marketinginstrumente sowie als Frühindikatoren. Daher sollte mit Verboten sehr behutsam umgegangen werden, zumal Derivate nicht in wertvolle und schlechte Instrumente eingeteilt werden können. Das gleiche Instrument kann vielmehr positiv, aber auch schädlich wirken.

Derivate können aber auch zu Fehlentwicklungen führen. Das haben die Marktturbulenzen ab 2007, die schließlich in Panik endeten, gezeigt. Der durch Derivatepositionen beschleunigte Kurseinbruch mündete deshalb in eine toxische Konstellation, weil es den Akteuren auf den Derivate-OTC-Märkten unmöglich war, die Solidität ihrer Gegenparteien einzuschätzen und sie deshalb ihre Engagements reduzierten, wodurch sie Liquiditätsengpässe weiter verschärften.16)

Institutioneller Rahmen

Die Ursachen der Fehlentwicklungen auf den Derivatemärkten sind sorgfältig zu analysieren. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse sind Maßnahmen zu konzipieren und durchzusetzen, die die Funktionsmängel beseitigen oder wenigstens in einem annehmbaren Maße halten. Dieses Procedere basiert auf den Empfehlungen von Adam Smith, vor allem aber auch der modernen Institutionentheoretiker, die erkannt haben, dass Märkte ebenso wie andere zwischenmenschliche Aktivitäten nicht per se perfekt sind,17) sondern zur Entfaltung ihrer Effizienz kanalisiert werden müssen. Fußballspiele brauchen nicht nur Regeln, sondern sie geraten ohne durchsetzungsfähige Schiedsrichter zum Chaos. Appelle an Ethik und Moral sowie die Forderung nach Nachhaltigkeit reichen dazu nicht aus.

Das gilt auch für Märkte, auf denen innovative Instrumente weltweit gehandelt werden. Nationalstaatliche Regelungen greifen hier zu kurz, ebenso wie Maßnahmen der klassischen Wettbewerbspolitik. Erste Regularien wurden bereits durch MiFID, durch Anlegerschutzgesetze und nunmehr durch die EU-Verordnung EMIR erlassen. Wie bei allen Innovationen müssen weitere Erfahrungen dazu dienen, durch Trial and Error die Regulierung der Derivatemärkte mit dem Ziel der Effizienzsteigerung zu optimieren.

Fußnoten

1) Vgl. Steinbrück, Peer (2012): Vertrauen zurückgewinnen: Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte, 25. September 2012, S. 16.

2) Vgl. Landgraf, Robert/Panster, Christian (2012): "Derivate sind ein Krebsgeschwür", Interview mit Michael Hauck, in: Handelsblatt vom 3. Mai 2012, S. 38.

3) Vgl. Deutsche Bundesbank (2003): Rolle und Bedeutung von Zinsderivaten, in: Monatsbericht 01/2003, S. 31 bis 44, hier: S. 32 bis 33.

4) Vgl. Engels, Wolfram (1969): Rentabilität, Risiko und Reichtum, S. 82.

5) Vgl. Leibnitz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) (2012): Policy Brief Nr. 9, Dezember 2012.

6) Vgl. Deutscher Bundestag (2012): Aktienrechtsnovelle 2012, Drucksache 17/8989 vom 14. März 2012, S. 1 und 2.

7) Vgl. Steinbrenner, Peter (2000): Optionsrechte in der Praxis, S. 109 und 126 bis 144.

8) Deutsche Bundesbank (2004): Credit Default Swaps - Funktionen, Bedeutung und Informationsgehalt, in: Monatsbericht 12/2004, S. 43 bis 58, hier: S. 49.

9) Vgl. Chesney, Marc (2011): Derivative Finanzprodukte und ihre Systemrisiken, in: Neue Zürcher Zeitung vom 20. Juli 2011, S. 29.

10) Vgl. Bünting, Hans (2007): Commodity-Risikomanagement, in: Seethaler, Peter/Steitz, Markus (Hrsg.) (2007): Praxishandbuch Treasury-Management, S. 395 bis 411, hier: S. 397 bis 398.

11) Vgl. Steinbrenner, Peter (2010): Derivate im Private Banking, in: Graf, Karl H. et al. (2010): Handbuch Personal Finance, S. 209 bis 248, hier: S. 212.

12) Vgl. Deutsche Bundesbank (2006): Finanzderivate und ihre Rückwirkung auf die Kassamärkte, in: Monatsbericht 7/2006, S. 55 bis 68, hier: S. 59 und 60.

13) Vgl. Müller, Sigrid (2009): Der Einfluss von Zertifikaten auf den Aktienmarkt in Deutschland, S. 33.

14) Deutsche Bundesbank (2006): Finanzderivate und ihre Rückwirkung auf die Kassamärkte, in: Monatsbericht 7/2006, S. 55 bis 68, hier: S. 68.

15) Vgl. Deutsche Bundesbank (1994): Geldpolitische Implikationen der zunehmenden Verwendung derivativer Finanzinstrumente, in: Monatsbericht 11/1994, S. 41 bis 57, hier: S. 44.

16) Vgl. BIZ (2012): 82. Jahresbericht, S. 95.

17) Vgl. Welter, Patrick (2010): "Es ist immer schön, einen Prügelknaben zu haben", in: FAZ vom 13. Oktober 2010, Interview mit Dale Mortensen, S. 11.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X