Aufsätze

Wechselkursprognosen: "Herding oder Anti-Herding?"

Ein charakteristisches Merkmal ökonomischer Modelle besteht darin, dass die Erwartungen von Wirtschaftssubjekten eine zentrale Rolle spielen. In einer Welt, in der die Zukunft so manche Überraschung bringt, müssen die Wirtschaftssubjekte, um ihre heutigen Entscheidungen zu optimieren, Erwartungen darüber bilden, wie sich wichtige handlungsrelevante Größen in der Zukunft entwickeln werden.

Bemerkenswerte Heterogenität

In einer global verzahnten Welt ist der Wechselkurs ein ganz wichtiger Preis: Der Wechselkurs ist der relative Preis einer Währung ausgedrückt in Einheiten einer anderen Währung. Wechselkurse schwanken im Zeitverlauf sehr stark, und es ist daher nicht verwunderlich, dass Erwartungen über den zukünftigen Verlauf von Wechselkursen sowohl in der Forschung als auch in der Tagespresse eine wichtige Rolle spielen.

Daneben sind Wechselkurse und Wechselkurserwartungen auch für die Wirtschaftspolitik von zentraler Bedeutung, wenn es zum Beispiel darum geht abzuschätzen, wie sich Exporte und Importe und damit die konjunkturelle Lage in einer exportorientierten Volkswirtschaft wie der Bundesrepublik Deutschland entwickeln werden.

Eine wichtige Quelle zur Analyse von Wechselkurserwartungen sind die Ergebnisse von Umfragen unter professionellen Prognostikern. Dabei handelt es sich um Ökonomen, die zum Beispiel an Universitäten oder für Banken tätig sind, und sich aus beruflichen Gründen mit Wechselkursprognosen beschäftigen. Die Umfragen werden in bestimmten zeitlichen Abständen wiederholt, wobei es vorteilhaft ist, wenn möglichst viele Prognostiker an der Umfrage teilnehmen. Eine wichtige und traditionsreiche Umfrage ist die des Wall Street Journals. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse dieser Umfrage ausgewertet, um genauer zu charakterisieren, wie Prognostiker ihre Wechselkurserwartungen bilden.

In Untersuchungen von Umfragedaten stellt sich in der Regel heraus, dass die Prognostiker keineswegs als eine homogene Gruppe betrachtet werden können. Man sollte also nicht von einem "repräsentativen" Prognostiker ausgehen. Vielmehr existiert oft eine bemerkenswerte Heterogenität in den Wechselkursprognosen.

Diese Heterogenität zeigt sich unter anderem darin, dass die Prognosen häufig erheblich um die sogenannte "Konsensprognose" streuen. Die Konsensprognose ist einfach der Mittelwert oder Median aller teilnehmenden Prognostiker. Dies wirft die Frage auf, wie diese Streuung erklärt werden kann.

Man könnte sich vorstellen, dass die Dynamik von Wechselkursen mit so großer Unsicherheit behaftet ist, dass die große Streuung der Prognosen nicht überraschend ist. Allerdings würde ein solches Argument voraussetzen, dass die Prognostiker entweder zufällig entscheiden (würfeln) oder Zugang zu sehr unterschiedlichen privaten Informationen haben, welche sie veranlassen, ganz unterschiedliche Prognosen abzugeben. Ein anderes Argument ist, dass die Prognostiker vielleicht an unterschiedliche Wechselkursmodelle glauben und daher zu anderen Prognosen gelangen.

Bewusstes Abweichen von der Konsensprognose?

Dieses Argument leuchtet unmittelbar ein, wenn man bedenkt, dass es eine Vielzahl von Wechselkursmodellen gibt und sich bisher noch nicht ein einzelnes als allen anderen überlegen erwiesen hat. Zahlreiche empirische Analysen haben vielmehr gezeigt, dass jene Wechselkursmodelle, die in der einschlägigen Literatur diskutiert werden, einem sogenannten Random-Walk-Modell nicht überlegen sind (siehe Meese/Rogoff 1983, Neely/Sarno 2002 und Kilian/Taylor 2003). Man sollte also erwarten, dass Prognostiker das überlegene Random-Walk-Modell nutzen, was wiederum bedeuten würde, dass die Prognosen homogen sind.

Ein weiteres Argument, welches im Fokus dieser Analyse steht, ist, dass Prognostiker unter bestimmten Bedingungen Anreize haben, ganz bewusst von der Konsensprognose abzuweichen. Ein solches Verhalten nennt man "Anti-Herding". Die Prognostiker versuchen mithin, sich von der "Herde" der anderen Prognostiker abzusetzen. Würden sich die Prognostiker hingegen ganz bewusst an der Konsensprognose orientieren, spricht man von "Herding". Herding sollte also zu einer Homogenität der Prognosen führen. Analog könnte Anti-Herding ein Grund für die empirisch beobachtete Heterogenität der Prognosen sein.

Wechselkursänderungserwartungen und Random Walk Forecast

Ein Random-Walk-Modell basiert auf der Annahme, dass der Wechselkurs in der Zukunft sowohl abwerten als auch aufwerten kann und dass die Wahrscheinlichkeit dieser beiden Ereignisse gleich groß ist. Das Auf und Ab des Wechselkurses könnte man zum Beispiel auf das Eintreffen guter und schlechter Nachrichten zurückführen. Trifft für den Dollar eine schlechte Nachricht am Finanzmarkt ein, dann wird der Wert des Yens steigen und der Wert des Dollars fallen, der Yen/Dollar-Wechselkurs sinkt. Trifft hingegen eine gute Nachricht für den Dollar ein, so steigt der Wechselkurs.

In Abbildung 1 ist der potenzielle Wechselkursprozess eines Random Walks über vier Perioden dargestellt. Man erkennt, dass in dem Fall in dem vier schlechte Nachrichten für den Dollar eintreffen, der Wechselkurs auf einem Niveau von 80 Yen/Dollar sinken wird. Dies tritt jedoch nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,54 = 6,25 Prozent ein. Am wahrscheinlichsten wird sich der Wert auf einem Niveau von 100 Yen/Dollar einpendeln, denn insgesamt führen "sechs verschiedene Wege" zu diesem Niveau.

Der Wert von 100 Yen/Dollar entspricht dem mathematischen Erwartungswert. Falls der Wechselkursprozess einem Random Walk folgt und ein Prognostiker an einer möglichst genauen Prognose interessiert ist, dann muss das Random-Walk-Modell herangezogen und daher das zum Zeitpunkt der Vorhersage vorherrschende Wechselkursniveau als Prognose benannt werden.

Da ökonomische Wechselkursmodelle in der Regel nicht in der Lage sind, das Ran-dom-Walk-Modell zu schlagen, macht es Sinn, die Wechselkursprognose aus dem Random-Walk-Modell abzuleiten. Im Mittel wird dann keine Veränderung des Wechselkurses erwartet. Im Folgenden soll überprüft werden, ob Prognostiker tatsächlich einem Random-Walk-Modell folgen.

Zur Illustration wird in Abbildung 2 die Verteilung der Wechselkursprognosen für den Yen/Dollar von 54 verschiedenen Prognostikern grafisch aufbereitet, die im Januar 2005 an einer Umfrage des Wall Street Journals teilnahmen. Die Prognosen zentrieren sich um den damals vorherrschenden Wechselkurs von 102 Yen/Dollar. Es scheint somit, dass viele Prognostiker ihre Prognosen auf dem Random-Walk-25,0 Modell aufbauten und daher erwarteten, dass der zukünftige Wechselkurs dem gegenwärtigen Wechselkurs entspricht.

Andere Prognostiker weichen jedoch von diesem Prinzip ab und prognostizieren starke Veränderungen des Wechselkurses in die eine oder andere Richtung. Berücksichtigt man, dass ökonomische Modelle zur Wechselkursbestimmung das Random-Walk-Modell nur schwerlich schlagen können, so scheint das Abweichen vieler Prognosen vom aktuellen Wechselkurs nicht rational zu sein, zumindest dann nicht, wenn das Ziel des Prognostikers darin besteht, eine möglichst genaue Prognose abzuliefern. Genau dieses Ergebnis stellt sich auch in empirischen Analysen ein, in denen überprüft wird, ob die Erwartungsbildung rational abläuft, wobei eine möglichst akkurate Prognose als erstrebenswert unterstellt wird. In der Regel sind die individuellen Prognosen signifikant schlechter als eine Prognose, die auf dem Random-Walk-Modell aufbaut (vergleiche zum Beispiel MacDonald/Marsh 1996 und Audretsch/Stadtmann 2005).

Theoretisches Modell zur Erklärung von Anti-Herding

Gibt es also noch andere Gründe, warum Prognostiker systematisch von der Konsensprognose oder dem Random-Walk-Modell abweichen? Die Frage führt zu der Überlegung, dass Prognostiker möglicherweise ganz bewusst von der Konsensprognose abweichen. Dieses Argument bedarf einer genauen Begründung. Im Folgenden theoretischen Modell wird daher analysiert, unter welchen Bedingungen es für einen Prognostiker rational sein kann, von der Konsensprognose abzuweichen.

Dazu sei angenommen, dass zehn Prognostiker vor dem Problem stehen, den Wechselkurs in einem Jahr zu prognostizieren. Die Prognostiker haben alle den gleichen Informationsstand, sie verwenden alle das gleiche Prognosemodell und alle besitzen die gleiche Nutzenfunktion. Obgleich die Prognostiker somit als eine homogene Gruppe betrachtet werden können, sind Laster/Bennet/Geoum (1999) in der Lage, Bedingungen abzuleiten, unter denen die Prognostiker einen Anreiz haben, von der Konsensprognose abzuweichen und unterschiedliche Prognosen abzugeben.

Zwei Zielgruppen im Blick

Es wird unterstellt, dass die Prognostiker mit ihren Prognosen zwei verschiedene Zielgruppen bedienen: Zum einen handelt es sich dabei um "Stammkunden", welche häufig auf Prognosen zurückgreifen und an einer hohen Prognosegüte interessiert sind. Zum anderen ist die Gruppe der "Laufkundschaft" zu bedienen, die sich nur an dem Prognoseerfolg der letzten Periode orientiert. Die Gewinnfunktion des Prognostikers setzt sich somit aus zwei Komponenten zusammen:

Ein Verlust (Loss) von L = -|x0 - x| falls eine Prognose (x) von dem später realisierten Wechselkurs (x0) nach unten oder oben abweicht. Falls also die Prognose nicht akkurat ist, geht dem Prognostiker die Stammkundschaft verloren und es entsteht ein Verlust.

Die Komponente B = P/n > 0 falls x = x0 und B = 0 sonst, stellt den potenziellen Ertrag durch die Laufkundschaft dar. Falls der Kurs mit dem später realisierten Wert übereinstimmt und somit eine ex-post richtige Prognose gestellt wurde (x0 = x), dann ist der Betrag (B) positiv, ansonsten gleich Null. Die Höhe des Betrages wird entscheidend dadurch beeinflusst, wie viele Prognostiker (n) den Wechselkurs korrekt prognostiziert haben und sich somit den Ertragstopf (P) teilen, der durch die Laufkundschaft gespeist wird.

Im folgenden Zahlenbeispiel wird von einem Wert von P = 10 ausgegangen. Somit beträgt die Gewinnfunktion:

(1)

wobei a und b zwei Parameter darstellen, um unterschiedliche Szenarien zu simulieren. Darauf wird später näher eingegangen. Des Weiteren wird für den zu prognostizierenden Wechselkurs die in Abbildung 3 dargestellte symmetrische Wahrscheinlichkeitsverteilung unterstellt. Der gegenwärtige Wechselkurs liegt bei xt = 3 und eine Auf- beziehungsweise Abwertung ist gleich wahrscheinlich.

Ausgangspunkt der nun folgenden Überlegungen ist eine Situation, in der bereits neun Prognostiker ein Wechselkursniveau von x = 3 vorhersagen. Für den zehnten Prognostiker stellt sich die Frage, ob er ebenfalls der "Herde" folgen und eine Prognose von x = 3 abgeben oder von der Konsensprognose abweichen soll.

Verschiedene Szenarien

Um verschiedene Szenarien zu analysieren werden im Folgenden unterschiedliche Parameterwerte für a und b unterstellt. Zunächst sei im Szenario 1 der Fall betrachtet, in dem a = 1 und b = 0 gilt, also nur Stammkundschaft existiert. Falls der zehnte Forecaster sich für x = 3 entscheidet, beträgt sein erwarteter Gewinn:

(2)

(3)

Aufgrund der symmetrischen Verteilung gilt auch G(x = 2) = G(x = 4). Für G(x=1) erhält man analog:*

(4)

Wiederum gilt aufgrund der symmetrischen Verteilung G(x = 1) = G(x = 5). Aus diesen Überlegungen folgt: Bestehen die Kunden der Prognostiker nur aus Stammkunden, sollte der Prognostiker den Erwartungswert von x = 3 prognostizieren. Es besteht daher kein Anreiz, von der Konsensprognose abzuweichen.

Nun soll entsprechend das andere Extrem untersucht werden, in dem im Szenario 2 a = 0 und b = 1 gilt, und die genannte Welt somit nur von der Laufkundschaft bevölkert wird. Für den zehnten Prognostiker gilt nun unter der Annahme, dass bereits neun Prognostiker x = 3 vorhergesagt haben:

(5)

Somit hat der zehnte Prognostiker einen Anreiz, von der Konsensprognose abzuweichen. Es besteht zwar nur eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass er den Ertragstopf (P) gewinnt, aber er wäre dann der einzige Prognostiker, der diesen Kurs prognostiziert hat und muss sich somit den Ertragstopf nicht mit den anderen Prognostikern teilen.

Nash-Gleichgewicht

Selbstverständlich haben auch die anderen neun Prognostiker einen Anreiz, ihre bisherige Entscheidung zu überdenken. Im sogenannten Nash-Gleichgewicht sollte jedoch kein Prognostiker mehr einen Anreiz haben, von seiner Strategie abzuweichen - bei gegebener Strategie der anderen Spieler.

Somit muss im Gleichgewicht der erwartete Gewinn für alle möglichen Prognosen identisch sein. Dies ist der Fall, wenn jeweils ein Prognostiker x = 1 beziehungsweise x = 5 prognostiziert, jeweils zwei Prognostiker x = 2 beziehungsweise x = 4 prognostizieren und vier Prognostiker x = 3 vorhersagen. In dieser Situation beträgt der erwartete Gewinn:

(6)

Setzt man hingegen a = 1 und b = 1 (Szenario 3) und lässt somit sowohl Stamm- als auch Laufkundschaft zu, besteht kein Anreiz, die ganz extremen Prognosen abzugeben (x = 1 oder x = 5), aber weiterhin ein Anreiz, von der Konsensprognose abzuweichen. Dies erkennt man wie folgt: Für den zehnten Prognostiker gilt

(7)

Somit stellt sich der zehnte Prognostiker besser, moderat von der Konsensprognose abzuweichen. Dies führt jedoch auch dazu, dass der erwartete Gewinn für die restlichen neun Prognostiker ansteigt, weil sich nun nur noch neun Prognostiker den Ertragstopf teilen müssen, falls die Realisation x0 = 3 eintritt.

(8)

Nichtsdestoweniger haben die neun Prognostiker weiterhin einen Anreiz, ihre bisherige Strategie zu überdenken und ebenfalls von der Konsensprognose abzuweichen, bis die erwarteten Gewinne wieder für alle Prognostiker identisch sind.

Informativer Output

Die Ergebnisse umfangreicher empirischer Arbeiten haben gezeigt, dass die von unterschiedlichen Prognostikern abgegebenen Wechselkursprognosen eine bemerkenswerte Heterogenität aufweisen. In dem anschließend vorgestellten Modell wurde herausgearbeitet, warum Prognostiker einen Anreiz haben, sich untereinander durch unterschiedliche Prognosen zu differenzieren. Eine interessante Frage besteht darin, in welchem der drei Szenarien sich der Konsument der Prognosen besserstellt.

Falls der Konsument lediglich an dem ersten Moment (dem Erwartungswert) interessiert ist, unterscheiden sich die drei Szenarien nicht. In allen Szenarien würde man einen Erwartungswert von x = 3 berechnen. Im Szenario 2 würde der Konsument jedoch nicht nur eine Information über den Erwartungswert, sondern auch über alle weiteren Momente (Varianz, Schiefe und Wölbung) der erwarteten Verteilung erhalten. Obwohl der Prognostiker sich somit nicht ausschließlich an der Akkuratheit der Prognose ausrichtet, ist der Output, welcher von der Gruppe der Forecaster geliefert wird, viel informativer als ein simpler "alle Forecaster wählen den Random Walk Forecast".

Literatur

Audretsch, David B. and Stadtmann, Georg (2005): Biases in FX-Forecasts: Evidence from Panel Data. Global Finance Journal, Vol. 16(1), 99-111.

Kilian, Lutz; Taylor, Mark P. (2003): Why Is It So Difficult to Beat the Random Walk Forecast of Exchange Rates? Journal of International Economics, Vol. 60(1), 85-107.

Laster, D., Bennett, P. and Geoum, I. S. (1999): Rational bias in macroeconomic forecasts, The Quarterly Journal of Economics, Vol. 114(1), 293-318.

MacDonald, Ronald; Marsh, Ian W. (1996): Currency Forecasters Are Heterogeneous: Confirmation and Consequences, Journal of International Money and Finance, Vol. 15(5), 665-685.

Meese, Richard A.; Rogoff, Kenneth (1983): Empirical Exchange Rate Models of the Seventies: Do They Fit Out of Sample?; Journal of International Economics, Vol. 14(1-2), 3-24.

Neely, Christopher J.; Sarno, Lucio (2002): How Well Do Monetary Fundamentals Forecast Exchange Rates?; Federal Reserve Bank of St. Louis Review, Vol. 84(5), 51-74.

Scharfstein, David S.; Stein, Jeremy C. (1990): Herd Behavior and Investment. American Economic Review, Vol. 80(3), pp. 465-479.

Georg Stadtmann , Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät (Wiwi) Lehrstuhlinhaber, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Noch keine Bewertungen vorhanden


X