Digitaler Pionier oder analoger Bewahrer: Wo steht der Mittelstand in puncto Digitalisierung?

Dr. Kai Höhmann, Geschäftsführer und CEO, TÜV Rheinland Consulting GmbH, Köln

Quelle: TÜV Rheinland

Dr. Kai Höhmann, Geschäftsführer und CEO, TÜV Rheinland Consulting GmbH, Köln - Wie groß ist der Rückstand des deutschen Mittelstandes in puncto Digitalisierung? Dieser Frage ist der TÜV Rheinland in einer Studie nachgegangen. Aus Sicht des Autors haben die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) mit Blick auf die Digitalisierung sehr wohl ein Gespür für die rasanten Veränderungen ihrer jeweiligen Branchen entwickelt. Die Einsicht in die Dringlichkeit von Veränderungsprozessen ist freilich höchst unterschiedlich ausgeprägt. Für die Entscheider, die die Zukunftsfähigkeit einer Organisation bewerten müssen, verweist er auf einen neu ent wickelten Digitalisierungsspiegel. Mithilfe dieser Benchmark, die sich mit einer größeren Zahl von neuen Teilnehmern dynamisch weiterentwickelt, können Unternehmen ihren aktuellen Digitalisierungsstatus erfassen und im Zeitablauf immer wieder überprüfen. (Red.)

Wie weit sind kleine und mittelständische Unternehmen in der Bewältigung der digitalen Transformation? TÜV Rheinland wollte es genau wissen und hat deshalb die Studie "Digitaler Reifegrad im Mittelstand 2017" gemeinsam mit Lünendonk & Hossenfelder erarbeitet. Sie beleuchtet Fragen, die von strategischer Bedeutung sind: Gehören KMU (kleine und mittlere Unternehmen), die in Deutschland noch die meisten Arbeitsplätze schaffen, zu den digitalen Pionieren? Sind sie digitale Verfolger? Oder hinken sie als digitale Nachzügler dem Wettbewerb hinterher und haben als analoge Bewahrer bereits mit Wettbewerbsnachteilen zu kämpfen?

Eine ganzheitlich angelegte Studie

Die Antworten sind in erster Linie für die Unternehmen selbst wichtig, die an der Studie teilgenommen haben, denn sie müssen sich im Klaren darüber sein, ob sie ihre Wachstumsstrategien der neuen Entwicklung anpassen müssen. Wichtige Erkenntnisse liefert die Studie aber auch Gestaltern auf politischer, regionaler und nationaler Ebene. Denn sie müssen darüber nachdenken, unter welchen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Standort Deutschland im globalen Wettbewerb mittel- bis langfristig gesichert werden kann und wie Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden können.

Befragt wurden Geschäftsführer und Führungskräfte von insgesamt 110 Mittelständlern, mit mindestens 50 und mehr als 3 000 Mitarbeitern.

Weil die Frage des digitalen Reifegrads nicht nur einzelne neue Bereiche wie Onlinevertriebskanäle betrifft, sondern das gesamte Unternehmen, war die Studie ganzheitlich angelegt. Zu beantworten waren mehr als 70 Fragen aus allen Unternehmensbereichen. Ziel war es, herauszufinden, wie es um die Veränderungsfähigkeit der gesamten Organisation bestellt ist und welche Bedeutung die Digitalisierung in den verschiedenen Unternehmensbereichen spielt, angefangen von der Produktion über Vertrieb und Marketing, IT, Logistik bis hin zu Verwaltung und HR. Auch die Umsetzung der Digitalisierungsstrategie in den einzelnen Bereichen spielte eine Rolle sowie ein Vergleich der Unternehmen untereinander.

Individuelles Digitalisierungsprofil mit Optimierungspotenzialen

Ziel der Studie ist es auch, Unternehmen noch stärker für die Notwendigkeit, sich mit der digitalen Transformation auseinanderzusetzen, zu sensibilisieren. Das Potenzial der Digitalisierung mangels Expertise ungenutzt zu lassen, kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten, das langfristig am Markt bestehen will. Die digitale Transformation ist ein Kraftakt, der aber auch viele Chancen birgt.

Ausgangspunkt für diesen Kraftakt muss eine individuelle Standortbestimmung sein, denn nur was messbar ist, lässt sich auch verbessern. Dazu bedarf es allerdings nicht nur einer statischen Auswertung einer Befragung, sondern eine dynamische Umsetzung als Onlinebenchmarking. Um Organisationen dies zu erleichtern, hat TÜV Rheinland einen Digitalisierungsspiegel entwickelt (www.digitalisierunggestalten.de). Die Onlinebefragung, die etwa 30 Minuten in Anspruch nimmt, gibt mittelständischen Unternehmen die Möglichkeit einer ersten fundierten Einschätzung ihres laufenden Digitalisierungsstatus.

In 80 standardisierten Fragen, die online und anonymisiert beantwortet werden, schätzen die Teilnehmer den Stand der Digitalisierung in ihrem Unternehmen zunächst selbst ein. Anschließend werden die Angaben aller Teilnehmer in Relation zueinander gesetzt und ausgewertet. Das teilnehmende Unternehmen erhält sein individuelles Digitalisierungsprofil, das konkrete Hinweise auf Optimierungspotenziale vermittelt und Handlungsbedarfe aufzeigt. Durch die Teilnahme unterschiedlichster Branchen wird die Studie faktisch fortgesetzt und es entsteht darüber hinaus ein fortlaufendes und aussagekräftiges Benchmarking mit stets aktuellen Ergebnissen. Spannend wird sein, inwiefern sich Trends verschieben, je mehr Unternehmen sich an dieser Studie beteiligen.

Abweichung der Selbsteinschätzung von den objektiven Ergebnissen

Nach den Ergebnissen der initialen Studie ist sich der Mittelstand der gegenwärtigen Transformation sehr wohl bewusst: 60 Prozent der befragten Unternehmen erwarten starke oder sehr starke Veränderungen für die eigenen Geschäftsmodelle. 67 Prozent der Unternehmen rechnen mit organisatorischen Veränderungen, unter anderem durch eine neue Verteilung der Führungsverantwortung für Unternehmensbereiche. Rund 30 Prozent der Studienteilnehmer sehen sich als "Digitale Pioniere", 14 Prozent als "Digitale Verfolger" und 24 Prozent als "Digitale Nachzügler". Am anderen Ende der Skala sind mit 32 Prozent die "Analogen Bewahrer", die deutliche Digitalisierungsrückstände aufweisen.

Dennoch: Bei den befragten mittelständischen Unternehmen war das digitale Reifegradniveau recht hoch - was bedeutet, dass evaluierte Organisationen die Entwicklung aktiv gestalten und nicht einfach nur passiv abwarten.

Analoges Arbeiten als Bremse für digitales Wachstum

Bislang ticken die Uhren in den traditionellen B2B-Branchen, die stark durch den Mittelstand geprägt sind, oft langsamer als in der digitalen Wirtschaft. Entwicklungszyklen umfassen oft mehrere Jahre, grundsätzliche Strategieentscheidungen zu Veränderungen des Geschäftsmodells fallen nur selten. In vielen Branchen, aber auch in der Gesellschaft, nimmt die Veränderungsgeschwindigkeit jedoch rapide zu. Die Digitalisierung gilt zu Recht als vierte industrielle Revolution. Sie verändert viele Unternehmen und Branchen grundlegend.

In der Vergangenheit waren Nutzen und Einsatz von IT-Technologien nur auf die Verbesserung und Beschleunigung von Geschäftsprozessen reduziert. Industrie 4.0 und aktuelle Technologien wie Cloud-Services, das Internet der Dinge, Big Data oder mobiles Internet schaffen heute die Grundlage dafür, dass konventionelle Geschäftsmodelle über Nacht auf den Kopf gestellt werden können. Das gilt für die digitale Wirtschaft wie Softwareunternehmen, Musik- und Filmindustrie, Fernsehen oder Onlinehandel, aber auch für bislang konventionelle Branchen wie Hotellerie, Automobilindustrie oder das Taxiwesen. Die Digitalisierung hat in kürzester Zeit schon viele Branchen transformiert - andere Sektoren könnten daraus wertvolle Erkenntnisse für konkrete Unternehmenssituationen ableiten.

Aber nutzt der deutsche Mittelstand diese Chancen? In der Realität erleben Berater von TÜV Rheinland häufig sehr unterschiedliche digitale Reifegrade und Veränderungsgeschwindigkeiten, sowohl von Unternehmen zu Unternehmen als auch in den verschiedenen Unternehmensbereichen. Der Einsatz von Smartphones und Tablets für Mitarbeiter sagt noch nichts über den digitalen Reifegrad eines Unternehmens aus. Trotz moderner Ausstattung arbeiten viele Unternehmen in der Praxis faktisch analog.

Prozesse haben erfahrungsgemäß oft noch viele Medienbrüche. Digitale Datenkreisläufe, die wertvolle Informationen über Zielgruppen, Kundenwünsche und mögliche neue Geschäftschancen beinhalten, werden unterbrochen. Sie lassen sich häufig weder effektiv beschleunigen noch nachhaltig auswerten. Das bedeutet: Viele Potenziale bleiben ungenutzt.

Deutlich wird das zum Beispiel dort, wo Daten manuell von einem System in ein anderes übertragen werden müssen. Lassen sich Unternehmen auf den digitalen Wandel ein und entwickeln sie neue Produkte und Dienstleistungen, weichen übergreifende Prozesse die vorhandenen Grenzen zwischen Unternehmensbereichen in der Regel auf. Herrschen im Unternehmen jedoch unterschiedliche digitale Reifegrade und Veränderungsgeschwindigkeiten, kann das die erfolgreiche digitale Transformation eines Unternehmens blockieren. Dazu kommen die organisatorischen Veränderungen durch eine neue Verteilung von Verantwortungen - ein Change-Prozess, der erfahrungsgemäß stets ressourcenintensiv ist.

Branchenkenntnis und Verständnis für die Komplexität der Prozesse

Die Standortbestimmung allein reicht nicht. Wer sich auf den Weg durch die digitale Transformation macht, muss eine solide Strategie entwickeln, die sich an Geschäftszielen und Investitionsvolumen orientiert und dennoch in einem wettbewerbsorientierten Zeithorizont umzusetzen ist. Weil es an Erfahrung oder an der technischen Expertise fehlt, scheuen sich viele mittelständische Unternehmen, Digitalisierungsprojekte oder gar eine gesamte Strategie konsequent in Angriff zu nehmen. Gleichzeitig spüren sie den steigenden Handlungsdruck und die Sorge, von der Konkurrenz überholt oder gar abgehängt zu werden. Ein Weg, solche Defizite auszugleichen, ist, externe Ressourcen hinzuziehen. Der Vorteil: Speziell geschulte Digitalisierungsteams haben einen objektiven Blick auf die Organisation. Diese profitiert wiederum von der Projektkompetenz und den branchenübergreifenden Erfahrungsschatz der externen Berater und baut zugleich interne Kompetenz auf.

Weil die Anforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung so vielfältig sind, kommt es darauf an, die richtige Unterstützung zu finden. Die Experten sollten die Branche kennen, die Komplexität verstehen und auch bei der Arbeit an Spezialthemen und (Teil-)Prozessen das große Ganze für den Kunden im Blick behalten. Entscheidend für die Unternehmen ist, dass sich Investitionen schnell auszahlen. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss immer im Zeichen einer nachhaltigen Wertschöpfung stehen.

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