Was hat die Schweiz der EU-Governance voraus?

Michael Altenburg, Luzern - Wie kann die inhomogene und in wichtigen nationalen Fragen in zwei Lager gespaltene Schweiz quasi als Insel unter 500 Millionen EU-Bewohnern als Staat überleben, obwohl sie immer wieder zentrale Fragen in Volksbegehren zur Abstimmung stellt? Für den Autor resultiert die nachhaltige Attraktivität des Landes daraus, dass es seine Balance und Vitalität nicht in Zentralisierung und Homogenisierung sucht, sondern in Bürgernähe, also der konsequenten Kundenorientierung der Verwaltung, sowie im Schutz und der Pflege angestammter Diversität. Auch in Großbritannien registriert er einen historisch gewachsenen Respekt vor individueller Andersartigkeit und selbst exzentrischer Großzügigkeit. Die EU, so seine Botschaft, könnte von beiden Ländern lernen. (Red.)

Am 28. Februar 2016 hat die Schweiz mit einer klaren Mehrheit von 58,9 Prozent ein Volksbegehren zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer abgelehnt.1) Das wird mit Recht als höchst erfreuliches Bekenntnis zu den Menschenrechten und zur Arbeitsteilung von Rechtsstaat und Demokratie gewertet. Ein so klarer Ausgang war angesichts der auch in der Schweiz mit Sorge beobachteten weiteren Verschärfung der Flüchtlingskrise keineswegs erwartet worden. Eine Annahme des Volksbegehrens hätte die laufenden Verhandlungen der Schweiz mit der EU zur Vereinbarkeit der ebenfalls per Volksbegehren im Februar 2014 zu Verfassungsrang erhobenen Zuwanderungsbegrenzung mit dem im Schengenraum - zu dem auch die Schweiz gehört - geltenden Freizügigkeitsprinzip in (noch) größere Bedrängnis bringen können.

Gefahr einer Aushöhlung bereits vereinbarter Lösungen

Noch ungewisser wäre allerdings der Ausgang eines vergleichbaren Referendums gewesen, wenn es zum gleichen Zeitpunkt in den inzwischen 28 Mitgliedsländern der EU stattgefunden hätte.

Weil das so ist, verzichtet man in der EU zu heiklen Grundsatzfragen in den letzten Jahren gern auf Regelungen, die zu ihrer Legitimierung eines Referendums bedürfen würden oder selbst gar nur einer qualifizierten Zustimmung der Parlamente aller 28 Mitgliedsländer. So kommt es dann zu Kompromisslösungen wie dem Lissabonvertrag von 2009. Ihm war der Entwurf eines eigentlichen EU-Verfassungsvertrages vorausgegangen, der die Handlungsfähigkeit der EU trotz fortgesetzter Erweiterungsrunden stärken sollte, aber in einem Referendum in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt worden war. Trotzdem gilt zumindest innerhalb der EU-Institutionen, unabhängig vom anhaltenden Machtgerangel zwischen Ministerrat, Kommission und Europäischem Parlament, weiter das Mantra einer "ever closer union".

Weitere Beschädigung der EU-Governance

Das nun auf den 23. Juni 2016 angesetzte Referendum Großbritanniens zu einem weiteren Verbleib beziehungsweise Austritt aus der EU leitet hingegen eine vollkommen entgegengesetzte Entwicklung ein. Der proeuropäische Premierminister Cameron sucht auf diesem Wege eine grundsätzliche Klärung, die sowohl weiteren Einschränkungen britischer Souveränität wie weiteren Popularitätsgewinnen der EU-feindlichen UK Independence Party (UKIP) einen nachhaltigen Riegel vorschieben soll. Um einen Erfolg des Referendums im Sinne eines Verbleibs Großbritanniens in der EU zu befördern, hat ihm der Ministerrat weitere Ausnahmen zu den EU-Integrationsvorgaben zugesichert.

Das führt aber die schon jetzt kaum operablen Kompromisse des Lissabonvertrages weder weiterer Klärung noch einer Lösung zu und ermutigt andere EU-Mitgliedsländern ebenfalls zur Aushöhlung bereits vereinbarter Regelungen. Das Referendum dürfte deswegen, unabhängig davon, ob sich die britischen EU-Gegner am 23. Juni durchsetzen sollten oder nicht, die ohnehin wankende EU-Governance weiter beschädigen. Falls die britischen EU-Gegner aber im Referendum obsiegen sollten, könnte Schottland, das in der EU verbleiben möchte, seinerseits eine Trennung vom Vereinigten Königreich anstreben.

Unterschiede in den Befindlichkeiten

Die Schweiz hat sich schon Ende 1992 in einem Referendum gegen einen Beitritt zum EU-Vorläufer EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) ausgesprochen. Das Ergebnis, bei einer Rekordbeteiligung von damals 78 Prozent, fiel mit einer Mehrheit von lediglich rund 23 000 Gegenstimmen denkbar knapp aus und offenbarte eine deutliche Spaltung des Landes zwischen der befürwortenden, frankophonen Westschweiz und dem ablehnenden, deutsch, italienisch oder rätoromanisch sprechenden Rest der Schweiz. Seitdem hat sich das Stichwort vom "Röstigraben" verbreitet.

Die Schweiz ist trotzdem nicht auseinandergefallen. Es gab keine Sezession der Romandie in Richtung Frankreich, und ob es die Schotten dazu im Hinblick auf Großbritannien am Ende tatsächlich kommen lassen werden, bleibt abzuwarten.

Bedeutsam sind allerdings die Unterschiede in den Befindlichkeiten. Die Schweiz ist ein vergleichsweise sehr kleines Land mit lediglich 8,3 Millionen Einwohnern und ungewöhnlich starker Diversität hinsichtlich Muttersprache, geschichtlicher Entwicklung, kultureller Prägung und Wirtschaftsstruktur. Es fehlt also weitgehend an der für einen Nationalstaat gern angenommenen Homogenität und viele Historiker halten es denn auch für einen an ein Wunder grenzenden Zufall, dass die Schweiz nicht schon nach den napoleonischen Kriegen als Beute unter den Nachbarmächten Österreich, Frankreich und Piemont aufgeteilt wurde.2)

Ein Optimum an Eigenständigkeit im Blick

Die sich im 19. Jahrhundert immer stärker herausbildende Neutralität der Schweiz war denn auch kein reines Eigenprodukt, sondern wurde von den Großmächten in Konfliktphasen eifersüchtig überwacht und blieb auch intern noch lange umstritten, nicht zuletzt vonseiten konservativkatholischer Kräfte. Von vollständiger nationalstaatlicher Souveränität kann bei dieser Insel im umgebenden Meer der inzwischen über 500 Millionen EU-Bewohner aber auch heute keine Rede sein.

Im Wege bilateraler Verhandlungen versucht sich die Schweiz, trotz Nichtmitgliedschaft in der EU und eigener Währung, ein Optimum an Eigenständigkeit zu bewahren. Die Aufhebung des Mindestkurses von 1,20 Schweizer Franken gegenüber dem Euro, nicht zufällig nur eine Woche vor der Ankündigung eines Anleihekaufprogramms von monatlich 60 Milliarden Euro bis zunächst September 2016 durch EZB-Präsident Draghi am 22. Januar 2015, kennzeichnet die Härten, welche die Schweiz bei der Verteidigung dieser Eigenständigkeit auf sich zu nehmen gezwungen ist.

Der Chef der Schweizerischen Nationalbank (SNB), Thomas Jordan, wird deswegen auch bisweilen angegriffen. Aber er hat ein fundiertes Urteil3) zu dem Thema, das sich mit dem des EZB-Präsidenten nicht deckt und auf die Kurzformel gebracht werden könnte, dass eine europäische Fiskalunion auf Basis der gegenwärtigen Governance des Eurosystems nicht sinnvoll wäre. Das schließt allerdings nicht aus, dass die hochinnovative und wirtschaftlich global exzellent positionierte Schweiz bei einer erneuten Währungskrise nicht wieder unter noch höheren Druck kommen könnte, was dann aber etwa in Bezug auf Griechenland zu anderen Lösungen führen würde.

Tradition der Verantwortlichkeit der öffentlichen Gewalt vor dem Parlament

Großbritannien dagegen unterliegt als eine der zehn größten Volkswirtschaften der Welt Abhängigkeiten von der EU oder vom Euro nicht im gleichen Umfang. Noch vor hundert Jahren war Großbritannien anerkannt erste Weltmacht, beherrschte alle Meere und ein weltumspannendes Kolonialreich mit dem dazugehörigen Handels- und Finanzsystem. Das hatte zwar spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Ende. Aber eine Beschränkung von Interessen, Partnern und Ressourcen auf bloß europäische Maßstäbe käme selbst heute keinem britischen Politiker, Unternehmer, Bankier auch nur entfernt in den Sinn. Insofern waren die Annäherungen an die EU, anfänglich von Frankreich blockiert, schon immer durch eine starke Ambivalenz gekennzeichnet, die weniger zu einem Vergleich mit David und Goliath einlädt wie bei der Schweiz.

Eher kommt einem da die Reserviertheit eines urbanen Kosmopoliten gegenüber seiner weniger geschliffenen Verwandtschaft vom Lande in den Sinn. Aufgrund inzwischen stark veränderter Vermögensverhältnisse liegt stärkere Annäherung nun zwar deutlich im Interesse des früheren Imperialisten. Mit der kleinbürgerlichintoleranten Pedanterie des bürokratischzentralistischen Nationalstaates tut der sich aber immer noch schwer, weil eine solche im immer wieder anderen globalen Kontext kontraproduktiv und einfach absurd wäre.

Deswegen hat der Respekt vor individueller Andersartigkeit, ja selbst exzentrischer Querdenkerei in der irgendwo von imperialer Großzügigkeit weiterhin geprägten britischen Hochkultur stärkere Wurzeln als in der noch immer verbreiteten Untertanenmentalität der erst spät ausgebildeten Nationalstaaten Kontinentaleuropas. Dasselbe gilt für die seit Jahrhunderten in England stark ausgeprägte Tradition der Verantwortlichkeit der öffentlichen Gewalt vor dem Parlament.

Eine vergleichbare, betont demokratisch verantwortliche Tradition hat sich auch in der Schweiz entwickelt. Sie ist zwar bei weitem nicht so alt wie in England, aber inzwischen geradezu das Unterpfand des Zusammenhalts des sich nur zu oft von übermächtigen äußeren Kräften bedrängt fühlenden schweizerischen Gemeinwesens. Die nachhaltige Attraktivität der Schweiz resultiert heute daraus, dass sie ihre Balance und Vitalität nicht in Zentralisierung und Homogenisierung sucht, sondern in der Bürgernähe, also der konsequenten Kundenorientierung der Verwaltung, wie in Schutz und Pflege angestammter Diversität.

Von Großbritannien und der Schweiz

Die EU, die schon öfters von schweizerischen Lösungsvorschlägen bei bilateralen Verhandlungen profitiert hat, sollte also ihr Mantra von der "ever closer union" revidieren und dabei nicht nur von Großbritannien, sondern auch von der Schweiz zu lernen versuchen. Vorbildliche Bürgernähe eines Gemeinwesens von unter 10 Millionen Einwohnern kann natürlich nicht ohne Weiteres auf einen Staatenverbund von über 500 Millionen hochskaliert werden. Brüssel und David Cameron sollten aber eigentlich wissen, dass es eine perfekte und deswegen einmalige und endgültige Abgrenzung zwischen einzelstaatlichen und zentral delegierten Kompetenzen politisch gar nicht geben kann. Damit von deren Legitimität nicht nur die Mehrheit der Bürger, sondern auch Minderheiten überzeugt sind und bleiben, muss um sie im kontinuierlichen, verantwortlichen, transparenten Diskurs immer wieder neu gerungen und gekämpft werden.

EU-Ministerratspräsident Donald Tusk zumindest scheint das verstanden zu haben. Im Ausschuss der EU-Regionen zitierte er am 10. Februar den britischen Historiker Arnold Toynbee: Civilisations die from suicide, not by murder.

Fußnoten

1) http://www.srf.ch/news/schweiz/abstimmungen/das-war-der-liveticker-zum-abstimmungssonntag

2) Der Umstand, dass der Herrscher der entscheidenden Siegermacht Russland, Zar Alexander I., ein ausgemachter Bewunderer der Schweiz war, soll hierbei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Ihm hatte seine Großmutter, die deutschstämmige Katharina die Große, den Aufklärer Frédéric-César de la Harpe aus Rolle am Genfer See als Erzieher ausgesucht. Die untereinander wie gewöhnlich zerstrittenen Kantone hätten es von sich aus kaum geschafft.

3) Vgl. Thomas Jordan: Seigniorage, Defizite, Verschuldung und Europäische Währungsunion; Dissertation, Verlag Haupt, Bern 1993.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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