Wirtschaftsnobelpreis

Richard Thaler - vom Labor in die Welt

Dr. Florian Hett, Akademischer Rat an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Forscher am Frankfurt Laboratory for Experimental Economic Research

Dr. Florian Hett, Akademischer Rat an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Forscher am Frankfurt Laboratory for Experimental Economic Research. Richard Thaler erhält den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Beiträge zur Verhaltensökonomik. Die Verhaltensökonomik - verstanden als die systematische Integration psychologischer Phänomene in die ökonomische Analyse - hat in den vergangenen Jahrzehnten unser Verständnis ökonomischer Sachverhalte substanziell bereichert. Diese Erkenntnisse finden in jüngerer Zeit auch zunehmend ihren Weg in die wirtschaftspolitische Debatte und Anwendung. Richard Thaler steht wie kaum ein anderer maßgeblich für beide dieser Entwicklungen.

In der Verhaltensökonomik werden klassische Verhaltensannahmen auf den Prüfstand gestellt und systematische Abweichungen dokumentiert. Thaler hat hierfür den Begriff der "Anomalien" geprägt. Eine Reihe solcher Anomalien betrifft die Art und Weise, in der Menschen Situationen bewerten und gemäß ihrer Bewertung handeln. In der Volkswirtschaftslehre werden menschliche Bedürfnisse traditionell in absoluter Form beschrieben: Wie eine Transaktion zu bewerten ist, hängt vom Gesamtzustand ab, den sie letztlich herbeiführt. Thalers Arbeiten zeigen, wie diese Grundannahme häufig verletzt wird.

Zum einen berücksichtigen Menschen auch die Situation vor einer Transaktion - sie denken also in Veränderungen zum Status quo. So können zwei Transaktionen unterschiedlich bewertet werden, selbst wenn sie zu vollkommen identischen Zuständen führen. Eine eindrucksvolle Implikation dieses Phänomens ist der "Endowment Effect". In einem seiner berühmtesten Experimente zeigt Thaler, dass der reine Besitz eines Gutes dessen Wertschätzung substanziell erhöht. Da der Erwerb eines Gutes einen Zugewinn im Vergleich zur Ausgangslage darstellt, der Verkauf aber einen Verlust, bewerten viele Menschen das Gut im Kontext der beiden Transaktionen jeweils unterschiedlich.

Zum anderen demonstriert Thaler, dass Individuen die Auswirkungen ihres Handelns oft nicht in ihrer Gesamtheit beurteilen, sondern stattdessen "Mental Accounting" betreiben, also verschiedene Arten von Transaktionen separat voneinander betrachten und bewerten. Solche isolierten "Accounts" können dann zum Beispiel erklären, wieso dieselben Menschen einerseits hohe Zinsen für Kreditkartenschulden zahlen, andererseits aber Geld auf einem Sparkonto mit nie driger Verzinsung halten.

Eine weitere Anomalie, der sich Thaler gewidmet hat, ist die Zeitinkonsistenz menschlichen Verhaltens. Das klassische Entscheidungsmodell nimmt an, dass Menschen in der Lage sind, einmal beschlossene Pläne einzuhalten und sie nur aufgrund neuer Informationen zu ändern. Tatsächlich weichen wir jedoch regelmäßig von ursprünglichen Plänen ab, etwa indem unangenehme Aufgaben immer weiter in die Zukunft verschoben werden. Zum Verständnis dieses Verhaltens hat Richard Thaler das "Planner-Doer" Modell entwickelt, wonach der menschliche Entscheidungsprozess als Konflikt zwischen einem kurzfristig und einem langfristig orientierten Selbst interpretiert werden kann. Auf Basis dieser Idee lässt sich verstehen, wieso Menschen bereit sind, ihren eigenen Handlungsspielraum einzuschränken und freiwillig Verpflichtungen eingehen: Das langfristig orientierte Selbst ("Planner") kann so das Verhalten seines kurzfristig orientierten Gegenparts ("Doer") beeinflussen, um die Erfüllung langfristiger Ziele zu begünstigen.

Die wohl populärste Anomalie, der sich Thaler gewidmet hat, bezieht sich auf die Annahme des materiellen Eigennutzes. In ökonomischen Anwendungen wird oft unterstellt, dass Menschen allein das eigene materielle Wohlergehen berücksichtigen. Thaler hat im Rahmen von Laborexperimenten dokumentiert, dass Menschen diese Annahme systematisch verletzten. Er hat dabei auch ein methodisches Instrumentarium entwickelt, das es erlaubt, die genaue Struktur dieser Abweichungen zu analysieren.

Neben seinen beeindruckenden wissenschaftlichen Leistungen zeichnet sich Richard Thaler auch durch seinen außergewöhnlichen Beitrag zu deren praktischer Verwertung aus. Als Mitbegründer des Felds "Behavioral Finance" hat er zum Beispiel die Auswirkungen von Entscheidungsnanomalien auf Finanzmärkten analysiert und systematisches Fehlverhalten von Marktteilnehmern dokumentiert. Aber der vielleicht größte gesellschaftliche Einfluss Thalers liegt in dem von ihm und Cass Sunstein, einem Juristen der Harvard University, erarbeiteten Konzept des "Nudging".

Nudges (zu Deutsch: "Schubser") sind Politikmaßnahmen, die Verhaltensänderungen "sanft" herbeiführen sollen, das heißt ohne diese durch Vorschriften zu erzwingen. Die zuvor beschriebenen Anomalien bilden dabei die Grundlage: So können etwa die Auswirkungen verschiedener Maßnahmen gezielt als Gewinne oder Verluste beschrieben werden, um Menschen so zur einen oder anderen Aktion zu verleiten. Thaler und Sunstein argumentieren, dass diese Art der Beeinflussung einen "libertären Paternalismus" darstelle, da Verhaltensänderungen herbeigeführt werden können, ohne die individuelle Freiheit des Einzelnen einzuschränken, wie es bei Vorschriften der Fall wäre.

Diese Position ist kontrovers. In ihrer Formulierung liegt daher auch ein nicht zu unterschätzender gesellschaftspolitischer Beitrag Thalers: Das Konzept des Nudging schafft einen allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen man nicht nur die (wirtschafts-)politische Effektivität verhaltensökonomischer Erkenntnisse debattieren kann, sondern auch die damit verbundene ethische Dimension: Darf der Staat Kenntnisse über Entscheidungsanomalien systematisch ausnutzen?

Der neue Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler hat mit seiner Arbeit somit die Verhaltensökonomie nicht nur rein akademisch entscheidend geprägt. Er hat auch den Grundstein für eine gesellschaftliche Debatte über deren Implikationen und Anwendungen gelegt.

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