Expeditionen in ein Neuland

Berthold Morschhäuser

In den Tagen und Wochen vor oder nach Silvester gehört der Ausblick auf das neue Jahr ganz selbstverständlich zum Arbeitsalltag von Politikern, Managern, Notenbankern und Wissenschaftlern. Alljährliche Prognosen in den jeweiligen Wirkungskreisen stellen zu müssen, ist allerdings schon in ruhigen Jahren eine recht undankbare Aufgabe. Denn die berühmten Forecasts stehen immer unter dem Vorbehalt,

im Nachhinein erklären zu müssen, welche der getroffenen Annahmen sich denn diesmal wieder ganz anders entwickelt haben als das in den Berechnungsmodellen zugrunde gelegt wurde. Dieses Risiko von nachträglichem Erläuterungsbedarf ist in der derzeitigen weltpolitischen Lage besonders latent. Selbst mit Blick auf solch traditionelle Zusammenhänge wie Zinsen, Investitionen und Konjunktur, über die schon seit Jahrhunderten von Theoretikern wie Praktikern unter verschiedensten Blickwinkeln nachgedacht worden ist und zu deren Gestaltung ein vielfach erprobter Instrumentenkasten zur Verfügung steht, bleibt eine zukunftsweisende Analyse zu Beginn des Jahres 2015 besonders schwierig. Denn sie ist nicht nur mit den ganz normalen Unwägbarkeiten jeder Vorausschau verbunden, sondern allem Eindruck nach sind an vielen Stellen die gewohnten Wirkungszusammenhänge aus dem Lot geraten. Und hinzu kommen immer wieder geopolitische Einflüsse, die die relevanten Einflussfaktoren in einer rasanten Geschwindigkeit verändern.

Wie schnell und gravierend sich wichtige Daten oder Rahmenbedingungen verschieben können, wurde kürzlich beim Auftritt von Bundesbankpräsident Jens Weidmann vor dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten gleich an zwei Beispielen deutlich. Sowohl in seiner Bestandsaufnahme der geld- und wirtschaftspolitischen Lage als auch in der anschließenden Frage- und Antwortrunde war zwar von der Rolle von Wechselkursveränderungen die Rede. Aber erst einen Tag später wurden die drastischen Interventionen der russischen Notenbank zur Stützung der eigenen Währung zum alles beherrschenden Thema der Wirtschaftsnachrichten. Es geht seither um all die bedrohlichen Szenarien für die russische Wirtschaft und damit über Zweit- und Mehrrundeneffekte für das gesamte weltwirtschaftliche Gefüge nach den Währungsturbulenzen um den Rubel.

Volatile Daten bestimmen auch den jüngsten Wirtschaftsausblick der Deutschen Bundesbank. Erst am Ende der ersten Dezemberwoche 2014 hatte diese ihre traditionelle Herbstprognose veröffentlicht und dabei das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion für das schon weit fortgeschrittene 2014 auf 1,4 Prozent und für das jetzt gerade begonnene Jahr auf 1,0 (kalenderbereinigt 0,8) Prozent veranschlagt. Für den harmonisierten Verbraucherpreisindex wurden dabei noch 0,9 Prozent für das vergangene und 1,1 Prozent für das laufende Jahr angesetzt. Nicht einmal zwei Wochen nach der Veröffentlichung musste Jens Weidmann diese Daten relativieren, denn inzwischen war der Ölpreis an den Märkten gegenüber den Prognosegrundlagen um 25 Prozent nach unten gerauscht. Das wiederum deutet für 2015 beim Wirtschaftswachstum tendenziell auf einen Zuschlag und bei der Inflation auf einen Abschlag hin. Sollte diese Preisentwicklung an den Ölmärkten anhalten, will der Bundesbankpräsident für Deutschland in einzelnen Monaten des gerade angelaufenen Jahres auch eine leicht negative Inflationsrate nicht ausschließen.

Zwar beeilte er sich, diese Entwicklung auf die Anpassungen in den europäischen Krisenländern und mehr noch auf die zuletzt sehr stark gesunkenen Energiepreise zurückzuführen. Letztere ordnete er dabei als positiven Angebotsschock im Sinne eines unerwarteten Konjunkturprogramms ein, der für sich betrachtet keinen weiteren geldpolitischen Handlungsbedarf nahelegt. Und eine Deflationsgefahr sieht er erst gegeben, wenn sich eine Abwärtsspirale aus negativen Inflationsraten, Rückgängen des BIP und Lohnsenkungen registrieren lässt. Doch im EZB-Rat - siehe etwa Vítor Constâncio - und mehr noch in der öffentlichen Wahrnehmung, so muss er befürchten, dürfte die bloße Aussicht auf Inflationsraten bei nahe oder sogar unter null unweigerlich jene Stimmen stärken, die von der Ratssitzung in der vierten Januar-Woche endlich eine Umsetzung der angekündigten Ankaufprogramme der EZB fordern.

Aber vielleicht gibt gerade der zumindest in dieser Stärke doch unerwartete Konjunkturimpuls der Ölpreissenkung dem EZB-Rat wie auch der europäischen Politik ein wenig mehr Spielraum, die Geldpolitik von ihrer faktischen Verantwortung für das europäische Wachstum zu entlasten und der Fiskalpolitik wieder mehr in den Vordergrund zu verhelfen. Jens Weidmann jedenfalls hat seine Warnungen vor den Risiken und Nebenwirkungen eines Aufkaufs von Staatsanleihen klar und eindeutig formuliert und wird bei der anstehenden Entscheidung bei der mit Spannung erwarteten Ratssitzung für seine Positionen werben. Unterstützung für seine kritische Haltung zur Wirksamkeit eines Quantitative Easing erhält er in der momentanen Lage auch von Peter Bofinger, der die EZB in einem enormen Dilemma wähnt. Gerade in Deutschland sieht das Mitglied des Sachverständigenrates die höchst ungewissen Wirkungen mit der Gefahr eines enormen Vertrauensverlustes in die Institution EZB verbunden, verweist aber andererseits auf die möglichen Wirkungen einer Enttäuschung der Marktteilnehmer, die erneut eine unerwünschte Aufwärtstendenz des Euro zur Folge haben könnte.

Sein Vorschlag eines von der deutschen Fiskalpolitik unterstützten flankierenden Investitions- und Zukunftsprogramms für Europa findet bei den Autoren dieses Heftes vom Grundsatz her durchaus Anklang. Nur in den Dimensionen und in der Ausgestaltung zeigen sich unterschiedliche Vorstellungen. Weitgehende Einigkeit herrscht, insbesondere die investiven Ausgaben stärken zu wollen und kontraproduktive Wirkungen durch eine weitere Erhöhung der Staatsausgaben möglichst zu vermeiden. Sympathie finden zudem Überlegungen, die gute Liquiditätsversorgung der Wirtschaft wo immer möglich zu nutzen, um auch privates Kapital für die diversen Vorhaben einzuwerben. Auf breite Zustimmung aller gesellschaftlichen Interessenvertreter stößt in diesem Zusammenhang der Ende vergangenen Jahres vorgestellte und vom EU-Gipfel der Regierungschefs kurz vor Weihnachten verabschiedete Investitionsplan der EU-Kommission für Europa. Dieser soll über einen mit rund 21 Milliarden Euro ausgestatteten Fonds möglichst Investitionen von insgesamt rund 315 Milliarden Euro anschieben.

Aber es bleiben im Grenz bereich zwischen Geld- und Fiskalpolitik viele Fragen offen. Kann die EZB mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik wirklich neue Kredit- und Finanzierungskanäle für die europäische Wirtschaft erschließen? Gelingt es ihr vielleicht sogar, einen neuen Wirkungszusammenhang zwischen Geldpolitik, langfristigen Zinsen und Investitionstätigkeit zu initiieren? Finden die zuständigen deutschen, europäischen und globalen Instanzen das richtig Maß an Regulierung, ohne die Geschäftsmodelle der Finanzdienstleister zu gefährden? Schaffen es die Kredit- und Versicherungswirtschaft sowie die Fondsbranche, ihre Geschäftsmodelle in der Niedrigzinsphase so zu justieren, dass sie weiterhin einen gebührenden Beitrag zur Vermögensbildung und Altersvorsorge breiter Bevölkerungsschichten leisten können? Lässt sich die Grundidee eines europäischen Investitionsfonds wie ihn die deutschen Gewerkschaften als auch der BDI vortragen in ein geschlossenes Konzept gießen, das in ganz Europa Anklang findet? Schafft es die EU-Kommission, ihrem 315-Milliarden-Euro-Investitionsplan durch eine kluge Auswahl der geförderten Projekte die angepeilte Impulswirkung für den Einsatz privaten Kapitals zu geben? Helfen die bilateralen Vereinbarungen zwischen Frankreich und Deutschland, in beiden Kernländern zu dem so wichtigen Grundverständnis für die notwendigen Strukturanpassungen zu gelangen? Und tragen künftig im europäischen Standortmarketing gemeinsame Wertvorstellungen dazu bei, hochgradig unfairen Wettbewerb zu verhindern, aber gleichwohl gewisse Anreize zu einem sportlichen Ringen um gute Rahmenbedingungen zu erhalten?

Aus heutiger Sicht lassen sich all diese Fragen nicht abschließend beantworten. Aber in allen Beiträgen dieses Heftes zeigt sich viel stärker als in früheren Zeiten der Blick für den Wirtschaftsraum Europa als Ganzes. Wenn man schon in einer gemeinsamen Währungsunion verbunden ist und diese dem derzeit vorherrschenden politischen Willen der Mehrheit der Bürger nach erhalten will, muss man die Harmonisierung Europas im Rahmen des politisch Machbaren vorantreiben. Und dafür ist es viel stärker als bisher notwendig, über die reinen Interessen der Nationalstaaten hinauszudenken und nach europäischen Lösungen zu suchen. Das politisch Machbare nicht zu einem Engpass für die europäische Politik werden zu lassen, ist dabei angesichts des Erstarkens der nationalen politischen Strömungen in den verschiedensten Ländern eine der besonderen Herausforderungen der kommenden Jahre.

Dr. Berthold Morschhäuser , ehem. Chefredakteur , Fritz Knapp Verlag
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