Gute Chancen

Philipp Otto Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Seit Monaten befinden sich Deutschland und die Welt in einem Ausnahmezustand. Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, Grenzen werden geschlossen, soziale Kontakte verboten, milliardenschwere Hilfsprogramme müssen die Wirtschaft stützen. Die Corona-Pandemie traf die Menschen - Politiker, Ärzte wie Bürger - völlig unvorbereitet. Zu prosperierend, zu stabil waren die vergangenen Jahre. Zu vorhersehbar und planbar die weiteren Schritte. Nun ist die Ungewissheit zurück. Man hat so wenig Vergleichbares. Statt Historikern, die aus früher Erlebtem Handlungsempfehlung ableiten können, muss man nun auf Ärzte und Virologen, auf Ökonomen und Soziologen vertrauen. Entscheidungen werden wieder unter Unsicherheit getroffen. Mit all den anstrengenden Folgen wie Meinungsunterschiede, Korrekturen, Ungläubigkeit, Egoismus und mangelnder Solidarität.

"Die Pandemie ist ein eindeutiger Test für die internationale Zusammenarbeit - ein Test, den wir im Wesentlichen nicht bestanden haben", zeigte sich UN-Generalsekretär Antonio Guterres jüngst sehr enttäuscht. Grund dafür sei, dass es weltweit an "Vorbereitung, Kooperation, Einigkeit und Solidarität" gefehlt habe. Harte Worte. Aber vielleicht liegt genau hier die Chance. Denn die Corona-Pandemie beschleunigt die Notwendigkeit des Umdenkens. Globalisierung um jeden Preis führt genauso in eine falsche Zukunft wie verstärkter Nationalismus und Protektionismus. Ungebremstes Wachstum stößt an die Grenzen eines Planeten mit endlichen Ressourcen. Leitbilder wie die soziale Marktwirtschaft müssen überdacht und um neue Denkansätzen erweitert werden.

All das mag für uns heute neu sein. Für die Menschheit selbst ist es das nicht. Ihre Geschichte ist voll mit Katastrophen und Pandemien, mit Kriegen und Umstürzen, gesellschaftlichen und technologischen Revolutionen. Dabei haben die entstandenen Krisen keineswegs zum Zusammenbruch geführt, sondern aus ihnen heraus ist stets etwas Neues entstanden. Josef Schumpeter bezeichnete diesen Prozess in seinem Hauptwerk "The Theory of Economic Development" 1911 als schöpferische Zerstörung. Für den Nationalökonomen steckt in wirtschaftlichen Krisen wie einer Rezession die Geburtsstunde für Innovationen, neue wirtschaftlichen Zyklen sowie komplett neue Organisationsformen. Eine Welle des Wohlstands wird durch die neue "Herde" von Unternehmern ausgelöst und der gesamte Zyklus setze sich fort.

Das gilt sicherlich auch jetzt. Allein durch die "kreative Zerstörung" der Digitalisierung haben viele Wirtschaftszweige bereits an Bedeutung verloren, während gleichzeitig neue Tätigkeitsfelder, Unternehmen und ganze Branchen entstanden sind. In nahezu allen Lebensbereichen kommen digitale Produkte zum Einsatz, Prozesse werden digitalisiert, Unternehmen und Menschen aus der ganzen Welt sind immer stärker miteinander vernetzt. Dieser Transformationsprozess in Wirtschaft und Gesellschaft wird durch die Pandemie um Jahre beschleunigt. Dabei präsentiert sich die deutsche Wirtschaft bislang äußerst robust. Die Deutsche Bank beispielsweise hat ihre BIP-Prognose für 2020 auf minus 5,5 Prozent angehoben und rechnet für 2021 mit einem Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent. Anfang Mai, auf dem Höhepunkt der Pandemie in Europa, wurde für 2020 noch ein Einbruch von mehr als 9 Prozent erwartet. Auch die Unternehmer selbst blicken deutlich zuversichtlicher in die Zukunft. Der Ifo-Geschäftsklimaindex stieg im September den fünften Monat in Folge auf 93,4 Zähler. Besonders deutlich verbesserte sich die Beurteilung der aktuellen Lage. Sie legte um 1,3 auf 89,2 Punkte zu. Die Erwartungen für das nächste halbe Jahr stiegen um 0,5 Punkte auf 97,7 Punkte.

Entwicklung der Genossenschaftlichen Finanzgruppe Quelle: Deutsche Bundesbank

Das sind gute Nachrichten. Auch für die deutschen Banken, vor allem die Sparkassen und Volksbanken und Raiffeisenbanken, die ihren Schwerpunkt im deutschen Mittelstand haben. Werden dadurch doch vielleicht Wertberichtigungsbedarfe in den kommenden Jahren nicht ganz so dramatisch ansteigen, wie zunächst zu befürchten war? Halten sich dadurch doch vielleicht die Auswirkungen auf das ohnehin unter der Zinspolitik leidende Ergebnis in Grenzen? Auch wenn die Krise natürlich nicht spürbar an den Instituten vorüberziehen wird. Die Institute haben im Übrigen erheblich dazu beigetragen, dass die wirtschaftlichen Folgen noch relativ milde ausfielen. Und es zeigt sich einmal mehr die stabile und solide Struktur des deutschen Bankwesens und die großen Stärken der von manchen kritisierten sehr breiten regionalen Aufstellung der beiden Verbünde, sowohl im Firmenkunden- als auch im Privatkundengeschäft.

Allein die genossenschaftliche Finanzgruppe betreibt deutschlandweit fast 9 400 Geschäftsstellen und rund 3 500 SB-Zweigstellen. Darüber hinaus zahlt sich auch aus, dass sie sich vor einigen Jahren schon in der Marktbearbeitung das Ziel gesetzt hat, mit einer Omnikanalstrategie in allen Regionen und über alle Vertriebskanäle hinweg auf Dauer präsent und wettbewerbsfähig zu sein. Laut einer BVR-Studie machen die sogenannten hybriden Kunden bereits heute mehr als die Hälfte der insgesamt fast 30 Millionen Kunden der Volksbanken und Raiffeisenbanken aus, Tendenz steigend. Um diese auch weiterhin erreichen und bedienen zu können, muss zum einen die Investitionskraft in neue Technologien erhalten bleiben. Zum anderen muss immer wieder an der erfolgreichen Arbeitsteilung von den Vertriebsbanken vor Ort auf der einen und den Produktionsbanken, sprich den Verbunddienstleistern auf der anderen Seite gefeilt werden. Zum Glück ist die Aufstellung der genossenschaftlichen Finanzgruppe anders als in der Gruppe der Öffentlich-Rechtlichen spätestens seit der Fusion von DZ Bank und WGZ Bank sehr übersichtlich, was vieles sicherlich leichter macht. Das macht sich auch in den Zahlen bemerkbar. Laut Auswertung der Deutschen Bundesbank zur "Ertragslage der deutschen Kreditinstitute im Jahr 2019" ist es den Kreditgenossenschaften als einziger der drei großen Bankengruppen gelungen, die operativen Erträge zu steigern. Trotz sinkender Zinseinnahmen, trotz notweniger Investitionen in den technischen Fortschritt, trotz hohem administrativem Aufwand.

Das alles wird sicherlich in den laufenden gewohnt intensiven Gesprächen zum Strategieprozess Niederschlag finden. Denn natürlich gibt es noch und stetig Verbesserungsbedarf, gerade mit Blick auf die Themen Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Wie können Provisionseinnahmen nachhaltig gesteigert werden, um die Rückgänge im nach wie vor dominierenden Zinsgeschäft zu kompensieren? Wo lassen sich neue Kundengruppen und Marktanteile erschließen? Wie kann der Spagat zwischen notwendiger Volumenausweitung und ordentlicher Risikopolitik gelingen? Welche Rolle spielt das Regionalprinzip in einer Welt mit zunehmend hybriden Kunden noch? Wer sind die künftigen Wettbewerber? Welche Bedeutung behalten Filialen? Wie reagiert man auf die Anforderungen der Bankenaufsicht? Welche Größe ist auskömmlich?

Die Chancen stehen gut, dass auf die gerade abgelaufenen "Dekade der Genossenschaften" eine weitere folgen kann. Denn, noch einmal Schumpeter, nicht die schiere Größe sei das relevante Kriterium für die Nachhaltigkeit eines Unternehmens, sondern die Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Umgebungsbedingungen. Und diese hat die Finanzgruppe wiederholt unter Beweis gestellt. Man muss nur hoffen, dass dies aufsichtlich auch endlich berücksichtigt und anerkannt wird.

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Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft

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