Leitartikel

Was ihr wollt

Würde Englands Dichtergenie William Shakespeare heute auf Deutschlands Großbaustellen blicken, so fiele ihm gewiss eine treffliche Komödie ein. Wo sonst lassen sich so herrlich menschliche, allzu menschliche Schwächen charmant aufs Korn nehmen? Von den Narrheiten der Mächtigen bis zum Kleingeist der Bürger, von Dünkel und Täuschung bis Geiz und Gier fände er alles für eine vorzügliche Posse vor. Da wird ein überdimensionierter Flughafen in den märkischen Sand gegossen, der vielleicht nie betriebsbereit sein wird. Da versenken die Hamburger eine pompöse Philharmonie im Elbeschlamm. Da werden in der schwäbischen Provinz ein Bahnhof und mit ihm Milliarden Euro verbuddelt. Da lässt das hochverschuldete Leipzig einen Bahntunnel durch den Auenmorast treiben, der die Fahrzeiten verlängert statt verkürzt. Und stürzte nicht in Köln die neue U-Bahn ein? Man stelle sich nur einmal vor, Deutschlands Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2012 wäre erfolgreich gewesen. Wo hätten sie stattgefunden?

"Können wir Deutschen keine Großprojekte mehr?", fragte der "Express", und der Stern wusste: "Deutschland kann alles - außer Großprojekte". Und so mancher erregt sich dieser Tage, wie die Römer ein Kolosseum errichten konnten, das knapp zwei Jahrtausende später immer noch steht, während heutigentags trotz modernster Verfahren, innovativer Baustoffe und hochentwickelter Technologie die Baukosten und Fertigstellungstermine offenbar regelmäßig überschritten werden, sofern das Vorhaben überhaupt vollendet wird und seine eigentliche Bestimmung erfüllen kann. Wussten die Altvorderen um die Grenzen ihrer Technik nur besser Bescheid und planten solider? Tatsächlich scheitern die ambitionierten Vorhaben nicht an mangelnder Ingenieurskunst, sondern an der Ungeduld und der Unehrlichkeit der politischen Entscheider, aber auch am Unwillen der Bürger.

Als die alten Ägypter ihre Pyramiden errichteten, war dies für sie mehr als das Aufschütten eines Grabhügels, es war auch ein Akt der kulturellen Identifikation. Als die Handwerker und Händler der mittelalterlichen Städte die Grundsteine für ihre großen Kathedralen legten, war dies nicht nur ein religiöses Bekenntnis, sondern auch eine Investition in das Image, die Macht und die Zukunft ihrer Stadt. Dabei war denen, die den Bau initiierten, bewusst, dass sie vor allem die Kosten tragen, den Nutzen daraus aber erst spätere Generationen ziehen würden. Auch damals lief beileibe nicht alles nach Plan: Gewölbe und Kuppeln stürzten ein, die Fertigstellung verzögerte sich und der Bau verschlang Unsummen. Gebaut wurde trotzdem - notfalls über Jahrhunderte, wie Geld und Handwerker eben verfügbar waren.

Wird heute noch so perspektivisch gedacht, geplant und gebaut? Es mangelt nicht an visionären Ideen für dieses Land, aber an der Bereitschaft, die Kosten dafür zu übernehmen. Dass Weitsicht zwar mehr kostet, aber auch wesentlich besser verzinst wird, illustriert zum Beispiel Mainz. Dort sorgte im 19. Jahrhundert der Mainzer Stadtbaumeister Eduard Kreyßig, ein preußischer Beamter, dafür, dass die Eisenbahnstrecke von Frankfurt nach Koblenz nicht am Rheinufer entlang, sondern im Süden um die Stadt herumgeführt wurde, was den Bau eines immens teuren Tunnels erforderte. Wie "wertvoll" eine ruhige Uferpromenade ist, können heute wohl am besten die vom Eisenbahnlärm vor ihren Fenstern geplagten Einwohner der mittelrheinischen Städte ermessen.

Wenn heute öffentlich gebaut werden soll, fragt der Bürger reflexartig: "Was kostet es mich, und was nützt es mir?" Das ist legitim. Antworten muss die Politik geben. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsame Visionen zu entwickeln und die Mehrheiten und Mittel zu organisieren, die für das Erreichen der Ziele erforderlich sind. Dies braucht neben Überzeugungskraft eben auch Zeit. Die aber wird sich immer weniger genommen, vielleicht auch, weil Kanzler, Minister und Bürgermeister doch zu gern rote Bändchen durchschneiden und sich mit monumentalen Bauten verewigen möchten. Statt gründlich zu planen, öffentlich zu diskutieren und nachzujustieren, werden die Projekte durch die Instanzen gejagt. Und weil die Volksvertreter den Plebiszit fürchten, werden die Projektkosten heruntergerechnet. Und immer wieder ist das Ergebnis so vorhersehbar wie der Sonnenaufgang: Der Bau dauert länger, wird teurer und ist schlechter als geplant. Wer könnte die Wut des Steuerzahlers nicht verstehen? Aber haben wir es nicht so gewollt? Haben wir selbst noch die Geduld, langfristig zu planen und für künftige Anschaffungen Verzicht zu üben? Die Dynamik, mit der Sofortkredite und Vorfinanzierungen zum Beispiel auch im Bausparen zunehmen, spricht dagegen. Aber: "Wer vor der Zeit beginnt, der endigt früh", mahnte schon Shakespeare.

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