Leitartikel

Alles unter Kontrolle?

Gesamtbanksteuerung, so schreibt Bernd Rolfes in diesem Heft, ist der
Inbegriff für eine integrierte ertrags- und risikoorientierte
Geschäftspolitik von Kreditinstituten. Solche Art der Hinführung zum
Thema klingt einigermaßen beruhigend, denn die verwendeten Begriffe
sind geläufig und vermitteln damit auch dem interessierten Laien ein
greifbares Grundverständnis. Der zeitgemäßen Interpretation dieser
wertorientierten Steuerung nach sollten ambitionierte Banken ihre
Aktivitäten am Markt also in möglichst gutem Einklang mit der Ertrags-
und Risikoseite halten. (Was sonst, möchte man aus heutiger Sicht
fragen.)
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Umgesetzt werden soll das Ganze freilich unter Berücksichtigung
sämtlicher relevanter Dimensionen. Und genau dieser Anspruch zur
umfassenden Einbeziehung aller Einflussfaktoren macht die Dinge dann
doch überaus komplex und führt den Außenstehenden vergleichsweise
schnell in die Grenzbereiche seines eigenen Urteilsvermögens. Als
hinreichend abstrakte Zielvorgabe ist es zwar ohne weiteres fassbar,
Gebilde wie Citibank, HSBC, UBS und Unicredito oder auch Deutsche
Bank, Commerzbank oder Allianz grundsätzlich unter Ertrags- und
Risikogesichtspunkten steuern zu wollen. Doch in der Praxis der
vielfältigen Bankenlandschaft alle maßgeblichen Kriterien überhaupt zu
erkennen, geschweige denn zu verstehen und aktiv zu gestalten, scheint
für den Normalbürger schier unmöglich. Und selbst ausgewiesene
Fachleute innerhalb und außerhalb der Banken streben nicht nach dem
großen Wurf, sondern konzentrieren sich auf die Lösung von
Einzelaspekten beziehungsweise beschränken sich in der Umsetzung auf
das derzeit Machbare.
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Gefragt ist an dieser Stelle die nüchterne Analyse. Es zählt
beispielsweise der Sachverstand, mit dem die Wissenschaft die
Anforderungen an eine moderne Banksteuerung herausarbeitet und
systematisiert, die emotionslose Bestandsaufnahme der Berater bei der
Umsetzung neuer Verfahren in den Banken und nicht zuletzt der tiefe
Einblick kompetenter Bankmitarbeiter in die betrieblichen Abläufe
ihrer Häuser bei ebendiesen Arbeiten oder beim Aufbau beziehungsweise
der Fortentwicklung einer funktionsfähigen Steuerungsorganisation. Die
Grenzen zwischen Wissenschaft, Beratung und Praxis sind bei all diesen
Projekten in den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend fließend.
Bankprofessoren entwickeln Verfahren und Ideen zur Messung und
Steuerung von Erträgen und Risiken in der Kreditwirtschaft und
erproben das Instrumentarium an konkreten Projekten in der Praxis.
Consultants mit wissenschaftlichem Hintergrund und/oder engen
Kontakten zu Hochschulen begleiten die Kreditwirtschaft bei
Spezialaufgaben und tragen dabei die neusten Methoden aus dem In- und
Ausland viel schneller als früher in die Institute hinein. Und gerade
in den relevanten Fachbereichen Controlling, Risikomanagement und
Gesamtbanksteuerung bewahren sich auch viele Banker den Bezug zur
Wissenschaft und profitieren bei Eigenentwicklungen häufig von dem
intensiven Informationsfluss zwischen Theorie und Praxis. So darf man
beispielsweise Credit Metrics und Credit Risk als weithin anerkannte
und breit eingesetzte Konzepte zur Messung des Ausfallrisikos mit den
Namen J.P.Morgan und Credit Suisse verbinden.
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In diesem Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis, so zeichnet es
die gerade erschienene Festschrift zum 60. Geburtstag von Henner
Schierenbeck nach, entstand der Begriff der Gesamtbanksteuerung und
wurde in den vergangenen dreißig Jahren kontinuierlich
weiterentwickelt: "Der reinen Wachstumsorientierung folgte die
Hinwendung zur Ertragsorientierung, welche nunmehr durch die
Wertorientierung abgelöst wird." Die erste Phase beschreibt
dementsprechend die bilanzsummenorientierte Denkweise, mit dem
allgemeinen Bestreben nach hohen Volumina der Kredite und
Kundeneinlagen sowie den Liquiditäts- und Eigenkapitalregeln als
wichtigen Orientierungsmaßstäben für die Banksteuerung. Die daran
anschließende Entwicklung des ertragsorientierten Bankmanagements hat
der Jubilar nicht zuletzt durch seine gleichnamigen Lehrbücher
maßgeblich mitgeprägt. Mit der Berechnung von Deckungs- und
Ergebnisbeiträgen einzelner Geschäfte über die Kalkulation von
Produkten bis hin zur gewinnorientierten Ausrichtung der Konditionen
entwickelten sich dabei erste Ansätze zur Gesamtbanksteuerung.
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Parallel dazu war dem Risikomanagement ein ständig wachsender
Stellenwert beschieden (zuletzt zusätzlich flankiert durch Basel II).
Das begann mit der Vorstellung von Verfahren zur Messung und Steuerung
zentraler Risiken und führte über Betrachtungen zu Ausfall-, Klumpen-,
Währungs- und Zinsänderungsrisiken bis hin zur Entwicklung von
Risikokennziffern. Mit der dritten Auflage der Klassiker Anfang der
neunziger Jahre durfte das Kapitel Risikomanagement in der
Gliederungshierarchie dann auf die oberste Stufe aufrücken. Damit war
endgültig verdeutlicht, welch bedeutende Rolle die ganzheitliche
Risikobetrachtung für die Steuerung moderner Kreditinstitute spielt.
Der Weg zur so genannten wertorientierten Steuerung war quasi
vorgezeichnet.
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Einen weiteren Schub erhielt die risikoorientierte Betrachtung Ende
der neunziger Jahre mit der Einführung von Value-at-Risk-Modellen, die
bei festgelegten Wahrscheinlichkeiten (Konfidenzniveau) für
verschiedene Risikopositionen die Ermittlung des absoluten
Wertverlustes ermöglichen. Zusammen mit den neuen Konzepten zur
aufsichtsrechtlichen Erfassung von Bankrisiken begann seither in
vielen Kreditinstituten eine Aufwertung des Risikomanagements, die bis
heute anhält. Die gleichzeitige Umsetzung neuer
Rechnungslegungsvorschriften und der aufsichtsrechtlichen Vorgaben
nach Basel II sorgen zudem für eine Harmonisierung der Methoden,
Systeme und des Reportings und damit zu einer erwünschten Verzahnung
von Finanz- und Risikoorganisation (siehe Beitrag Hofele/Schröck).
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Die Elemente der modernen Gesamtbanksteuerung, wie sie in diesem Heft
beschrieben werden, reichen damit von einem umfassenden
Steuerungsinstrumentarium, das auf die Aufgaben in verschiedenen
Geschäftsbereichen zugeschnitten ist, über ein
Management-Informationssystem, das in eine funktionsfähige
Steuerungsorganisation eingebettet ist, und einer verlässlichen
Erfolgs- und Risikomessung, die in ein adressatengerechtes Reporting
mündet, bis hin zu einer durchgängigen, an den Gesamtbankzielen
orientierten Steuerungslogik sowie klaren Verantwortungsstrukturen in
den Banken. Was in der Theorie noch einigermaßen erfassbar klingt,
verlangt in der Praxis einen enormen organisatorischen und technischen
Aufwand (siehe Interview mit Manuel Joiko). Es müssen alle Risiken und
Ertragsgrößen systematisch erfasst und in derselben Einheit gemessen
und vergleichbar gemacht werden. Und das Konzept des wertorientierten
Managements muss auf alle Unternehmensteile angewandt und dort auch
akzeptiert werden. Im Prinzip muss es auf der Ebene der
Unternehmensbereiche ebenso passen wie auf Ge-biets-, Filial-,
Produkt- oder gar Einzelgeschäftsebene. Sind die Ertrags- und
Risikokomponenten in der notwendigen Feingliederung bekannt, wird dann
in der fortgeschrittensten Ausbaustufe das verfügbare Kapital in die
Bereiche mit dem attraktivsten Risiko-/Renditeverhältnis gelenkt.
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An solch anspruchsvollen Maßstäben gemessen bescheinigt Bernd Rolfes
den einzelnen Bankengruppen und ihren Instituten einen deutlich
unterschiedlichen Umsetzungsgrad. Während die Gesamtbankziele bei den
größeren Instituten einschließlich der genossenschaftlichen
Zentralbanken und der Landesbanken durchgängig auf die
Geschäftsbereiche heruntergebrochen und anhand der relevanten
Steuerungsgrößen gemessen werden, begnügen sich viele Sparkassen und
Genossenschaftsbanken schon auf dieser Ebene mit der Ermittlung von
Volumens- und Ertragsgrößen (Deckungsbeitrag II). Der nächste Schritt
einer Ertrags- und Risikobetrachtung auf Bereichs- und Marktebene oder
gar die Vorgabe von Stückzielen für die Berater wird selbst von den
Groß- und Regionalbanken nicht mehr umfänglich vollzogen. Und den
hehren Anspruch das Eigenkapital unter Risiko-/Ertragsgesichtspunkten
in die optimale Verwendung zu lenken, haben nur die großen Banken
sowie ansatzweise die Großsparkassen und wenige Regionalbanken in
Angriff genommen. Das genossenschaftliche Steuerungssystem VR-Control
greift viele dieser Ansätze auf, ist aber vielerorts erst in der
Implementierungsphase. Eher vereinzelt umgesetzt sind ferner die
Ermittlung und damit Steuerung der Wertbeiträge im Kundengeschäft und
der Aktivitäten im Vertrieb und der Produktivität. Ein Beispiel zur
bislang ebenfalls nur spärlich verbreiteten Integration der
strategischen Asset Allocation in die Gesamtbanksteuerung wird in
diesem Heft vorgestellt.
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Dass große und kleine Banken in den vergangenen Jahren viel Wert auf
ein effizientes Risikomanagement gelegt und ihr Instrumentarium
deutlich verfeinert haben, ist durch die lebhafte Behandlung des
Basel-II-Themas in die interessierte Öffentlichkeit transportiert
worden. Es wurde und wird intern mit großer Intensität daran
gearbeitet, die verschiedenen Risikoarten des Bankgeschäftes zu messen
und laufend zu überwachen. In der Praxis sind diese Bemühungen
allerdings noch nicht weit genug fortgeschritten. Es gibt zwar
zahlreiche Arbeiten und Projekte zur Erfassung und Steuerung der
Einzelrisiken, aber es fehlt noch ein Konzept, um sämtliche Risiken im
Sinne der Anforderungen an die Steuerung zu einem Risikostatus für die
Gesamtbank zu verdichten. In der Bestandsaufnahme zur Umsetzung der
Gesamtbanksteuerung in der Bankenpraxis wird genau das als aktueller
Handlungsbedarf herausgestellt. Und eben dieser Herausforderung stellt
sich in einem weiteren Beitrag dieses Heftes ein Autorenteam vom
Institut für Kreditwesen der Universität Münster mit der
Gegenüberstellung möglicher Lösungsansätze. Mit den
Risikofaktormodellen, den Varianz-Kovarianz-Verfahren und den
Copula-Funktionen werden drei Verfahren zur Ermittlung des
Gesamtbankrisikos diskutiert und nach den Kriterien Handhabbarkeit,
Stichhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit auf ihre Praxistauglichkeit
bewertet.
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Ob und in welchem Umfang sie eingesetzt werden, wird sich in der
wissenschaftlichen Diskussion und/oder der praktischen Erprobung
erweisen müssen. Das Beispiel zeigt aber einmal mehr, dass die
Kreditwirtschaft in den Feldern Controlling, Rechnungslegung,
Risikomanagement und damit auch Gesamtbanksteuerung längst über das
Stadium des Nachdenkens hinweg ist und sich seit Jahren der harten
Projektarbeit widmet. In diesem Sinne ist es gewiss kein Zufall, dass
Fachtagungen wie das Symposium der Deutschen Bundesbank
"Bankenaufsicht im Dialog" so gut besucht sind und sich mit den
angebotenen beziehungsweise eingereichten Fachbeiträgen rund um die
Gesamtbanksteuerung mühelos der ganze Jahrgang dieser Zeitschrift
füllen ließe. Das Thema wird derzeit mit solcher Intensität und so
vielen Kapazitäten vorangetrieben, dass man sich fragen muss, wie der
ehrwürdige Privatbankier vor dreißig oder gar hundert Jahren ohne
diese Errungenschaften überhaupt auskommen konnte.
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Ohnehin müssen sich die Steuerungserfolge erst noch erweisen. Die
deutliche Risikokonzentration und Ertragsschwäche, wie sie besonders
stark vor drei oder vier Jahren in den Bilanzen der deutschen
Kreditwirtschaft sichtbar wurde, konnten mit dem neuen Instrumentarium
jedenfalls noch nicht vermieden werden. Eine umfassende
Kosten-/Nutzenbetrachtung der Gesamtbanksteuerung steht noch aus.Mo.

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