Aufsätze

Das Elend der Nationalökonomie - Plädoyer für eine normative Volkswirtschaftslehre

Wie eine Tsunami-Welle hat die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 das Gedankengebäude der neoliberalen Nationalökonomie hinweggespült. Zuvor hatte schon der Fall der Berliner Mauer die Idee des realen Sozialismus unter sich begraben. Wenn man von der Lobby in der Wall Street, der Londoner City oder der Frankfurter "Maintown" absieht, gibt es so gut wie niemanden mehr, der den entfesselten Kräften der Finanzmärkte das Wort zu reden wagt, und schon gar nicht, dass sie von ganz allein den Idealzustand jenes mythischen Gleichgewichtes von Angebot und Nachfrage bewirken würden.

Abschied vom Prinzip der Gewinnmaximierung

Die ökonomische Landschaft hat sich vollkommen verändert: Die Deutsche Bank musste sich zum Beispiel von ihrem hochtrabenden Werbeslogan "Leistung aus Leidenschaft" verabschieden. Von ihrem großspurig verkündeten Ziel einer Eigenkapitalrendite von über 25 Prozent ist nichts übrig geblieben. Offenbar hat auch die Commerzbank Zweifel, ob sie sich in der Werbung als Bank darstellen kann, die nicht "einfach so weiter macht", während gleichzeitig ihre Geschäftsräume von der Polizei durchsucht werden. In dieser Situation hat Papst Franziskus den Satz geprägt: "Diese Wirtschaft tötet." Und wer sich diesen Schuh anziehen muss, darin liegt das ganze Drama Nationalökonomie.1)

Milliardenschwere Staatshilfen waren erforderlich und sind es weiterhin, um den weltweiten Supergau abzuwehren. Das "laissez faire" findet als Maxime der Wirtschaftspolitik inzwischen keine Akzeptanz mehr. Vielmehr wird ganz im Gegenteil gerade die ungehemmte Gewinnmaximierung - die Gier - als Urgrund der Krise diagnostiziert, der die Deregulierungsorgie vor 2008 Türe und Tor geöffnet hat. In den Fakultäten der Wirtschaftswissenschaften wagt es niemand, dem zu widersprechen. Unter dem unerbittlichen "Blick zurück im Zorn" haben sich die geistigen Fundamente ihrer Disziplin als Unwerte, als Machenschaften, als Lug und Trug, als Ausbeutung, vielleicht sogar als Untreue im Sinne des Strafrechts erwiesen, wenn auch die Rechtsprechung dazu deutlich zurückhaltender ist.2)

Selbst der berühmte Soziologe Max Weber - wäre er Zeitgenosse - könnte nichts dagegen ausrichten, dass seine Theorie über die Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften3) von der allgemeinen Empörung über die hemmungslose Gewinnsucht mitgerissen wird, die sich eine Kaste meist akademisch gebildeter Manager zuschulden kommen ließ. Man will die Schuldigen, die an den Universitäten keine Werturteile kennen gelernt haben, vor Gericht und nach ihrer Aburteilung im Gefängnis sehen. Der bekannten Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinson galt Mitte des 20. Jahrhunderts in Übereinstimmung mit der früher herrschenden Meinung ihrer Fakultät das Moralproblem noch als "Konflikt, für den es niemals eine Lösung geben" könne.4) Als Zeugin der Wirtschafts- und Finanzkrise würde sie diesen fatalistischen Satz heute nicht mehr wiederholen.

Gemeinwohl als Leitstern

"Es ist doch offensichtlich, dass alle makroökonomischen Lehrbücher die Krise nicht erklären können", formulierte Niall Ferguson, der in Oxford eine Professur für "Political and Financial History" bekleidete und Adam Smith zu seinen Vorfahren zählt.5) Die wenigen Exoten unter den zahllosen "Experten", die das Debakel vorausgesagt haben, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.6) Die Zunft der Volks- und Betriebswirte, die "Fünf Weisen" des Sachverständigenrates, die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute und die Ratingagenturen, sie haben allesamt versagt, und das nicht nur wegen ihrer falschen Prognosen und Ratings, sondern vor allem wegen ihrer hilflosen Therapieversuche. Sie können niemand mehr davon überzeugen, alles würde sich von selbst zum Besseren wenden, man müsse nur die Gesetze des Marktes anwenden und über die des Rechts stellen. Auch wenn es die wenigsten Wirtschaftswissenschaftler zugeben: Das Prinzip der Gewinnmaximierung hat abgewirtschaftet!7) Das Gemeinwohl ist zum Leitstern der Volkswirtschaftslehre geworden.

Arbeitsteilung und soziale Gerechtigkeit

Man muss sich das Prinzip der Arbeitsteilung vor Augen führen, will man die Beziehung zwischen Markt und Moral, zwischen Wirtschaft, Sozialethik und Recht erfassen. Das wusste schon der Grieche Aristoteles: Der Mensch ist ein Staaten bildendes Lebewesen, ein "zoon politikon".8)

Ähnlich wie die Bienen bilden auch die Menschen Völkerschaften und erstellen die wirtschaftliche Gesamtleistung, das sogenannte Bruttosozialprodukt des Inlands, (BIP) nicht wie Robinson als ein auf sich allein gestellter Selbstversorger, der mit Null Dollar Pro-Kopf-Einkommen im Monat isoliert auf einer einsamen Insel lebt und leben muss. Sie tun das vielmehr in einem extrem ausgefeilten System der Arbeitsteilung und der beruflichen Spezialisierung. Diese Arbeitsteilung ist untrennbar gekoppelt an Austausch der gemeinschaftlich erstellten Waren und der erbrachten Dienstleistungen - genau das und nichts anderes ist der Markt.

Das Wirtschaftsleben ist von vorne herein ein Geben und ein Nehmen, ein Tauschgeschäft, das über Mark und Pfennig, besser gesagt über den Euro und den Cent gegeneinander verrechnet wird. In diesem umfassenden "Teamwork" der Volkswirtschaft, in dem alle von allen abhängig sind (Interdependenz) und deshalb alle aufeinander Rücksicht nehmen müssen, treffen die privaten Interessen des Einzelnen auf die öffentlichen Interessen der Gemeinschaft.9) Und damit beginnt der große Konflikt des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit.

Abhängigkeit von den gültigen Spielregeln

Was im öffentlichen Interesse liegt und was dem privaten Interesse überlassen bleibt, das festzustellen ist die hohe Kunst der Politik, die auch als die "Kunst des Möglichen" bezeichnet wird. Nicht ohne besonderen Grund spielte Robinson Crusoe in der sogenannten "Dogmengeschichte" der Wirtschaftswissenschaften eine fatale Rolle.10) Allein auf einer einsamen Insel bedarf man der sachgerechten Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen nicht. Doch das Leben ist anders. "Nirgends wird die Sozialnatur des Menschen deutlicher als im Bereich der Wirtschaft. Schon mit der Geburt ist er auf die Versorgung in der Familie angewiesen. Zeitlebens bleibt er eingebettet in die Gesellschaft seiner Mitmenschen."11) Das gesamte Arbeits- und Wirtschaftsleben ist ein Leben in einer Gemeinschaft. Die Lebensqualität eines Volkes, in dem alle aufeinander angewiesen sind, hängt entscheidend davon ab, welche Spielregeln gelten. In einer Volkswirtschaft kommt es auf die Ordnung im Wirtschaftsverkehr an. Unter der Herrschaft des Rechts kann jedermann tun und lassen, was er will. Das ist in Art. 2 Grundgesetz auch so festgehalten.

Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat

Das Grundgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsrecht, das Gesellschaftsrecht, das Bilanzrecht, das Scheck- und Wechselrecht, das Steuerrecht, das Börsengesetz, das Notenbankrecht, das Insolvenzrecht, das Kreditwesengesetz, das Tarifvertragsgesetz, sie alle regeln das Wirtschaftsleben - wahrlich "ein weites Feld". Und diesen Acker haben die Wirtschaftswissenschaftler kampflos den Juristen überlassen. Viel lieber als dort zu ackern, bauen sie Sandburgen wie die "new economy"12) oder Luftschlösser wie die "Neue Soziale Marktwirtschaft". Statt in die Debatte über die Deckelung der Staatsverschuldung einzugreifen - und zwar mit konkreten gesetzgeberischen Formulierungsvorschlägen - streiten sie über John Maynard Keynes ...

Und das ist ja das Elend der Wirtschaftswissenschaften: Ihre Vertreter haben sich fast immer als reine "Naturwissenschaftler" jenseits des Rechts verstanden. Sie wurden deshalb das Opfer ihrer Ideologie, der Markt folge seinen eigenen Gesetzen und die ökonomischen hätten nichts mit den juristischen Normen zu tun. Tatenlos schauen daher die geborenen Experten "der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen"13) zu, wie die ökonomisch einschlägigen Rechtsnormen, die ihr ureigenstes Sachgebiet regeln, von anderen, von Juristen, formuliert werden und deshalb nicht die Handschrift der Ökonomen tragen. Sie begreifen die Tragweite des Gedankengangs nicht, dass die Grundrechte der Verfassung auch die Grundprinzipien der Wirtschaftswissenschaften sind. Gewiss, Grundrechte sind Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat. Ihnen liegt in ihrer Gesamtheit aber auch eine Wertordnung zugrunde.14)

Blut - ein ganz besonderer Saft

Der Wohlstand eines Volkes hängt von seinem Wohlverhalten ab. Man kann in einem Land, in dem der Diebstahl geduldet wird, keinen kostensparenden Selbstbedienungsladen eröffnen, ohne damit Schiffbruch zu erleiden. Und Länder wie Griechenland, die zum Beispiel gar keine Steuerfahndung kennen, werden auch keinen ausgeglichenen Haushalt zustande bringen. Hier herrscht der Egoismus. Die Gewinn maximierende Steuerhinterziehung treibt die Volkswirtschaft am Ende in den Ruin. Und es soll doch, bitte, niemand behaupten, dass genau dies die Lehre von Adam Smith war.

Blut spielt nicht nur in der Medizin, sondern in auch in der Nationalökonomie eine wichtige Rolle. Der englische Arzt William Harvey (1575 bis 1657) entdeckte Anfang des 17. Jahrhunderts den Blutkreislauf im Körper des Menschen, in dem das Herz die zentrale Pumpe ist.15) Harvey widersprach dem Irrtum Galens (griechischer Arzt 130 bis 200 nach Christus), das Blut ströme über unsichtbare Poren von einer Herzkammer in die andere. Zwischen dem Körper des Menschen und der Körperschaft des Volkes sahen die von den bahnbrechenden Entdeckungen der Medizin begeisterten Physiokraten verblüffende Ähnlichkeiten. Die Analogie zwischen dem Kreislauf des Blutes im Menschen und Kreislauf des Geldes in der Körperschaft des Volkes lag auf der Hand, zumal schon in der Antike der Körper als Abbild der Gesellschaft verstanden wurde.16)

Die Nationalökonomen sind damit gleichsam zu Ärzten der Volkswirtschaft geworden. Der Patient steht vor ihnen, klagt zum Beispiel über allgemeine Teuerung, schrumpfende Auftragsbestände bei den Gewerbetreibenden, Arbeitslosigkeit bei den abhängig Beschäftigten, Überschuldung im privaten wie im öffentlichen Sektor, sinkendes Steueraufkommen, über Depression. Und wer weiß es nicht: Es gibt gute, aber auch schlechte Ärzte. Den guten unterscheidet vom schlechten Arzt vor allem und zuerst die richtige Diagnose. Der Patient ist krank. Das ist nicht zu übersehen. Aber: Was hat er? Was ist die Ursache der Beschwerden? Und auch die richtige Diagnose ist nichts, wenn sie nicht mit der richtigen Therapie verbunden wird. Wie die ärztliche hat auch die "nationalökonomische Heilkunde" zwei Bestandteile. Und man kann beides falsch machen: eine Fehldiagnose stellen und eine falsche Therapie anordnen.

Wie schon in der Medizin spielen auch in der Nationalökonomie die Selbstheilungskräfte eine wichtige Rolle. Und hier liegt gleichsam der "springende Punkt" der volkswirtschaftlichen Heilkunde. Viele Volkswirte sind von der Selbstheilung der Märkte so überzeugt, dass sie bei jeder Diagnose immer die gleiche Therapie anordnen, nämlich den Patienten seinem Schicksal zu überlassen, weil er von selbst gesund werde. Jeder Arzt weiß aber, wie sehr die Gesundheit vom Lebenswandel des Patienten beeinflusst wird.

Gleichwohl ist in der volkswirtschaftlichen Heilkunde die Einsicht nicht allzu weit verbreitet, dass der Wohlstand des Volkes von seinem Wohlverhalten abhängt. Und der Hauptirrtum der Wirtschaftswissenschaften liegt in der weit verbreiteten Auffassung, ein überschuldeter Staat könne dem Bankrott entgehen, wenn er noch mehr Schulden auftürmt.

Adam Smith - ein Moralist wie Ludwig Erhard auch

Zur Rettung seiner Ehre muss es festgehalten werden: Adam Smith (1723 bis 1790), der Urvater der klassischen Nationalökonomie, war an der Universität Glasgow von 1752 bis 1753 unter anderem auch Professor für Moralphilosophie. Lange vor 1776, als unter dem Titel "An Inquiery into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" sein weltberühmtes, dreibändiges Hauptwerk zur Nationalökonomie, erschien, hat er 1759 ein zweibändiges Werk zur Ethik, "Theory of Moral Sentiments", veröffentlicht.17)

Auch als Nationalökonom ist Adam Smith ein Moralist geblieben. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Arbeitsteilung nur im Rahmen der kodifizierten Gerechtigkeit (justice) ent falten kann, durch die Leben, Freiheit, Eigentum, Vertragstreue und andere Werte garantiert werden.

Wer unter den Wirtschaftswissenschaftlern die Zeichen der Zeit erkannt hat, der hat es begriffen: Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist auch eine Krise der Volksund Betriebswirtschaftslehre. Das nationale Interesse, das gemeine Wohl des Volkes erfährt eine Renaissance, eine Wiedergeburt.18) Vor allem die Bereiche Banken, Geld und Kredit sind davon betroffen. Die Bankgeschäfte werden rigoros unter die Lupe genommen und dabei strengen sozialethischen Maßstäben unterworfen. Es hagelt neue Gesetze, auch wenn sich diejenigen, die das "big business", das ganz große Geschäft nicht missen wollen, mit Händen und Füßen - teilweise sogar mit Erfolg - zur Wehr setzen.

Man muss aber gar nicht auf Adam Smith zurückgreifen, um die Rolle des Gemeinwohls in der Gesellschaft zu erfassen. Wer das weltbekannte Buch "Wohlstand für alle" von Ludwig Erhard zur Hand nimmt - das vor allem aus überarbeiteten Redemanuskripten entstanden ist, die zusammengetragen und in eine einigermaßen sinnvolle Reihenfolge gebracht wurden19) - kann daran keinen Zweifel haben: Auch Erhard, der zu den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft zählt, war ein Moralist wie es vor ihm Adam Smith schon war. Er redete den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ins Gewissen.20) Er stemmte sich gegen die Ausbeutung der Verbraucher durch die Bildung von Kartellen.21) Er war berühmt für seine Appelle zur Maßhaltung.22) Er wehrte aber auch alle Bestrebungen ab, die Freiheitsrechte auf dem Markt mutwillig zu beschneiden und die privaten grundsätzlich den öffentlichen Interessen zu opfern.

Geordnete Marktwirtschaft

Das Gegenbild zur freien bildet die geordnete Marktwirtschaft. Maßgebend geprägt wurde dieses ökonomische Leitbild vom Ordoliberalismus mit Walter Eucken an der Spitze. Das Besondere am Ordoliberalismus ist, dass er nicht nur in der Zeit, sondern auch im geistigen Widerstand gegen die Nazidiktatur entstand und daher seine Blüte erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll entfalten konnte. Das Gedankengut dieser Denkschule der nationalökonomischen Dogmengeschichte ist also im Feuer des Dritten Reiches gehärtet worden.

Walter Eucken, (1891 bis 1950) Sohn des Philosophen Rudolf Eucken, wurde zum Begründer der Freiburger Schule, die eine Generation von Wirtschaftswissenschaftlern beeindruckt und beeinflusst hat.23) Das Hauptwerk Euckens "Grundlagen der Nationalökonomie" erschien 1940. Eucken war alles andere als ein opportunistischer Mitläufer des Dritten Reichs. Er hatte Kontakt zu Carl Goerdeler und stand dem Widerstand des 20. Juni 1944 nahe. "1947 wurde Eucken Gründungsmitglied der Mont-Pélerin-Gesellschaft und gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten im ersten wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums 1949 in Bonn."24) Er befürwortete minimalinvasive Eingriffe des Staates mit marktkonformen Mitteln. Eucken starb am 20. März 1950 in London.

Euckens geistige Erben

Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard wurden Euckens geistige Erben. Müller-Armack prägte den genialen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. In einer Rede vor dem Frankfurter Wirtschaftsrat, die er am 17. August 1948 gehalten hat, tauchte diese Wortschöpfung zum ersten Mal auch bei Erhard auf. Er machte dieses politisches Leitmotiv unbeirrbar zum Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik, die von den "Aufräumarbeiten" der Nachkriegszeit geprägt war und zu einer Erfolgsgeschichte führte, die von aller Welt als "Wirtschaftswunder" bestaunt wurde.

Der Schock, den das Investitionshilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juli 1954 auslöste, muss daher gewaltig gewesen sein.25) Es hatte eine ähnliche Wirkung auf die Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland wie ein Habicht, der über einen Hühnerhof fliegt. Das Urteil ist berühmt geworden, wegen der höchstrichterlichen Feststellung, die Soziale Marktwirtschaft sei nicht durch das Grundgesetz vorgegeben und habe daher keinen Verfassungsrang.

Die Verfassungsrichter des Ersten Senats entschieden mit Urteil vom 20. Juli 1954: "Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch andere Entscheidungen ersetzt werden kann."26) An anderer Stelle heißt es noch deutlicher: "Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde soziale Marktwirtschaft."27)... - ein politisches Desaster?

Stimmzettel entscheiden

Man muss die Dinge nehmen wie sie sind: Als tragende Idee der Wirtschaftspolitik steht die Soziale Marktwirtschaft nicht unter dem Schutz der Verfassung. Dazu wäre der Begriff wohl auch zu unbestimmt. Etwas anderes ist jedoch viel wichtiger: Das Urteil zeigt, wie fragil die vom Willen des Gesetzgebers getragene Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft ist. Der leuchtende Glanz der genialen Formulierung übertrifft ihre Aussagekraft für die Praxis bei Weitem und steht auch im Widerspruch zu den zeitgebundenen Inhalten, die mit der Wortschöpfung verbunden sind. Denn das haben die Verfassungsrichter den Bürgern eingeschärft: Die einzige Garantie, die es hier überhaupt gibt, liegt in der Verfahrensweise der demokratischen Willensbildung, sprich in der Politik. Und Politik ist nichts anderes als das Verfahren zur konkreten Bestimmung, was im öffentlichen Interesse liegt und was nicht.

Die Bundesrepublik ist ein Volksstaat. Das Volk tut seinen Willen in Wahlen und Abstimmungen kund. "Mehrheit entscheidet".28) Die Soziale Marktwirtschaft hängt in ihrer konkreten Gestalt von der jeweiligen Wahlentscheidung ab. Was man unter Sozialer Marktwirtschaft konkret zu verstehen hat, wird also mit dem Stimmzettel entschieden. Natürlich gilt das nicht schrankenlos und ungehemmt. Denn alles hat seine Grenzen. Weil ja alle Grundrechte nur in ihrem Kern garantierten werden und nicht aus ihrem Kontext herausgerissen und verabsolutiert werden dürfen, kann natürlich niemand einfach tun und lassen, was immer er gerade will.

Abhängig von Wahlentscheidungen

Diese an die demokratische Willensbildung des Volkes gebundene Regelungsbefugnis der Hoheitsträger birgt Gefahren und Risiken. Sie bietet aber auch regelmäßig wiederkehrende Chancen, mit dem Stimmzettel einen Wechsel herbeizuführen. Und soviel ist klar: Die Auswüchse der Wirtschafts- und Finanzkrise müssen mit Feuer und Schwert ausgemerzt werden. Das wird aber nur geschehen, wenn die Mehrheit der Wähler das so haben will.

Fußnoten

1) Vgl. Der Aufsehen erregende Satz befindet sich in dem päpstlichen Lehrschreiben "Evangelium Gaudii" (Freude des Evangeliums), das am 26. November 2013 veröffentlicht wurde. Vgl. dazu ferner das Interview mit Erzbischof Georg Gänswein in der Zeitschrift: Cicero, Nr. 13, Januar 2014, S. 120 ff (123): "Die Jubler werden sich wundern."

2) Vgl. zur Untreue Beschluss des BVerfG vom 23. Juni 2010. AZ 2 BvR 2559/08;105/09 u 491/09), die Pressemitteilung des BVerfG vom 11. August 2010 und die Tagespresse vom 12. August 2010 im Zusammenhang mit dem Berliner Bankenprozess gegen Klaus-Rüdiger Landowsky: Bei Untreue muss ein bezifferbarer Schaden nachweisbar entstanden sein.

3) Weber, "Objektivitätsaufsatz", S. 149: "... dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte abzuleiten." (Vgl. dazu auch unten Anmerkung 12.)

4) Vgl. Joan Robinson, "Doktrinen der Wirtschaftswissenschaften", 1965, S. 175.

5) Vgl. Ferguson, H-Blatt, vom 15. September 2009, S. 22, vgl. auch www.handelsblatt.com/ferguson.

6) Zu ihnen gehört Prof. Otte (FH Worms), "Der Crash kommt", 2006. Das Buch erreichte zahlreiche Auflagen und ist auch als ebook zugängig.

7) Peter Bofinger, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 18. August 2013: "Der Segen des Egoismus/Adam Smith hat als Erster den Wert des Ego-Kapitalismus erkannt: Der Eigenliebe des Bäckers ist es zu danken, dass wir satt werden." - Der Egoismus ist kein Segen. Der Egoismus ist ein Fluch. Wenn man nur an die Spekulationen auf den Lebensmittelterminmärkten denkt, sieht man sofort, wie falsch es ist, dem Ego-Kapitalismus das Wort zu reden.

8) Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1162 a; ferner Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, Stichwort: zoon politikon.

9) Vgl. die kritischen Untersuchungen des US-Soziologen Sennett, "Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält", deutsch 2012; ähnlich Schirrmacher, "Ego: Das Spiel des Lebens", 2012; auch Nida-Rümelin, "Die Optimierungsfalle: Philosophie der humanen Ökonomie", 2012.

10) Populär gemacht hat das Robinson-Beispiel vor allem der österreichische Nationalökonom und Finanzminister Böhm-Bawerk (1851 bis 1914).

11) Vgl. Hettlage, Die Funktionen des Rechts in der Wirtschaft, Anuario de Filosophia del Derechio, 1973, S. 197.

12) Überzeugter Anhänger der "new oeconomy" war auch Unternehmensberater Roland Berger. In Vorträgen trat er dafür ein, den Typenzwang im Vertragsrecht des BGB aufzugeben und die Schutzbestimmungen im klassischen Dienst- beziehungsweise Arbeitsrecht durch neue Rechtsformen der Arbeitsbeziehungen zu "deregulieren", ohne damit auch nur im Ansatz ernst genommen zu werden.

13) Bei diesem Terminus handelt es sich um einen dem Grundgesetz entnommenen Rechtsbegriff, vgl. Art. 9 Abs. 3 GG.

14) Zur Debatte, inwieweit subjektive Grundrechte auch objektive Grundwerte sind, vgl. BVerfGE 77, 170, (140) in dem das sogenannte Lüth-Urteil des BVerfG v. 1958 BVerGE 7. 198 (205) ausgelegt und interpretiert wird. Ferner Sodan/Ziekow, Grundkurs des öffentlichen Rechts, 3. Auflage 2008, § 20, Ziff. 11; und § 22, Ziff. 14 und 15. mit weiteren Hinweisen zur sonstigen Urteilsliteratur des BVerfG.

15) Harvey unterschied zwischen Hypothesen und Fakten und führte streng wissenschaftliche Methoden in die Medizin ein. Das erklärt seinen Einfluss auf die übrigen Wissenschaften. Seine Handschriften gingen teils im Bürgerkrieg seiner Zeit, teils im Brand von London 1666 verloren.

16) Berühmt wurde die Rede des Konsuls Agrippa Menenius Lanatus, der 494 durch eine Rede die Plebejer bewegte, den Auszug aus Rom (secessio plebis) zu beenden. Die Glieder würden zwar die Arbeit verrichten, während der Magen scheinbar müßig sei. Eine Arbeitsniederlegung würde aber zur Entkräftung des ganzen Körpers führen.

17) Adam Smith, "Theory of Moral Sentiments". Deutsche Ausgabe: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1985.

18) Vgl. von Arnim, "Gemeinwohl im modernen Verfassungsstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland". im Internet unter http://www.dhvspeyer.de/vonArnim/Gemeinwohlverfstaat.htm - mit zahlreichen Hinweisen zum einschlägigen Schrifttum in den Anmerkungen.

19) Vgl. Hardt, H-Blatt, 3. bis 5. Februar 2006: "Der qualmende Engel"; ferner Goldschmidt/Hesse, Süddeutsche Zeitung vom 14. Juni 2008: "Erhard hatte Helfer" und Beise, Süddeutsche Zeitung vom 19. Juni 2008: "Erhards Erbe".

20) Erhard, Wohlstand für alle, 1957; Neuausgabe bearbeitet von W. Langer, 1997, S. 77ff. und 208ff.

21) Vgl. Erhard, a.a.O., (Fn 16), S. 159 ff. Das Kartellgesetz Erhards trat am 1. Januar 1958 in Kraft.

22) Vgl. Erhard, im Ansatz auch noch in der Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963, a.a.O., (Fn 16), S. 340.

23) Vgl. Piper, Süddeutsche Zeitung vom 9. Juni 2005: "Die Ordnung der Marktwirtschaft".

24) Vgl. Piper a.a.O., (Fn 19).

25) Vgl. BVerfG vom 20. Juli 1954, (1 BvR 459/52), BVerfGE 4, 7; NJW 154, 1235. Vgl. dazu ferner Huber, DÖV 1956, S. 97 ff.: "Der Streit um die Wirtschaftsverfassung".

26) Vgl. BVerfG, a.a.O., (Fn 21).

27) Vgl. BVerfG, a.a.O., (Fn 21).

28) Diese unübertrefflich prägnante Formulierung hat so Eingang in die Bayerische Verfassung vom 8. Dezember 1946 gefunden.

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