Aufsätze

Giftmüll im internationalen Finanzsystem - Abfuhr tut not

In den USA hielt Arsen auf der Liste der schlimmsten Arten von Giftmüll (Toxic Waste) bis vor Kurzem unangefochten die Spitzenposition. Seit dem vergangenen Jahr gibt es einen neuen Spitzenreiter, und der heißt "Subprime Mortgages", anders ausgedrückt: drittklassige US-amerikanische Hypothekarkredite. Die Deponien, auf denen dieser als Handelsware deklarierte Stoff abgeladen wurde, befinden sich nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Hochgiftig, wie er ist, hat der Stoff zu einer schweren Verunreinigung des Weltfinanzsystems geführt. Nun gilt es, schnell Entsorgungsverfahren zu entwickeln, mit denen sich die Kontamination beseitigen lässt. Denn das Gefahrgut kann nicht einfach liegen bleiben, es würde wahrscheinlich weitere Teile des Systems verseuchen.

Vergiftungsgefahr für die Realwirtschaft

Als Erstes müssen wir rasch Klarheit darüber gewinnen, wie viel zersetzendes Gift, allen Risikovorkehrungen zum Trotz, in die Bücher der Banken eingesickert ist. Der erste Eindruck, den einige Banken in der Welt vermittelt haben, löst Beklemmung aus: In den jüngsten Quartalsergebnissen hat die Subprime-Krise tiefe Spuren hinterlassen. Immense Abschreibungen, die den immer weiter steigenden Ausfallraten bei den Subprime Mortgages geschuldet sind, können sogar die Solvenz einzelner Banken beeinträchtigen. Es ist zu Stützungsaktionen gekommen, die - in Deutschland zumindest - im hellen Licht der Öffentlichkeit abgelaufen sind. Mittlerweile hat die Hypothekenmisere ein solches Ausmaß erreicht, dass sie auch die Realwirtschaft vergiften könnte.

Nach einem halben Jahr der Krise steht man ziemlich fassungslos vor der Toxizität der Subprime Mortgages. Wie ist es dazu gekommen, dass diese amerikanische Art - oder besser gesagt Unart - des Realkredits ein solches Schädigungspotenzial entfalten konnte? Seinen Ausgang genommen hat das Unheil in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der USA, wo in den vergangenen Jahren niedrige Zinsen und steigende Preise für Wohngebäude einen Boom bei der Kreditfinanzierung von Immobilien ausgelöst haben. Die amerikanischen Hypothekenfinanzierer haben diese Situation für eine irrsinnige Geschäftsausweitung genutzt - und es gab keine bundesstaatliche Aufsichtsbehörde, die ihrer Expansionswut hätte Einhalt gebieten können.

Diese wurde entscheidend durch die Erschließung neuer Kundenkreise getrieben: Die Eigenheimfinanzierer haben Hypothekarkredite auch an Kunden mit äußerst dürftiger Bonität vergeben - Kunden, die sie früher nur in Ausnahmefällen als kreditwürdig erachtet hätten. Schließlich haben viele Finanzhäuser die Standards für eine solide Kreditvergabe völlig missachtet.

Das ausstehende Volumen an Subprime Mortgages schätzt der IWF auf unglaubliche 1,2 Billionen US-Dollar. Der Anteil der Subprime Mortgages an den US-Wohnungsbaukrediten ist nach Angaben eines US-Regierungsberichtes von 2,6 Prozent im Jahr 2001 auf 14 Prozent im Jahr 2007 gewachsen; das jährliche Neugeschäft in dem Segment habe sich im gleichen Zeitraum etwa verdreifacht.

Lücken in den Aufsichtsvorschriften genutzt

Dieses ungeheure Wachstum war nur möglich, weil die gewährten Kredite die Bilanz der Hypothekenfinanzierer nicht lange belasteten: Nach dem viel gepriesenen "originate-and-distribute"-Modell verkauften die Kredit gewährenden Unternehmen ihre Forderungen schnell weiter. Diese dienten dann als Sicherheit für Asset Backed Securities (ABS). Mit den ABS - oder neu verpackt in Collateralised Debt Obligations - wurden die Forderungen schließlich in alle Welt verstreut. Auch bei europäischen Banken fanden die ABS reißenden Absatz. Sie brachten nämlich überdurchschnittliche Zinsen, und - wichtiger noch - Banken konnten aus diesen Papieren Erträge generieren, ohne dabei Eigenkapital im Rahmen der Solvenznorm zu verbrauchen.

Der Trick bestand darin, Lücken in den internationalen Aufsichtsvorschriften auszunutzen: Die ABS wurden von Zweckgesellschaften, sogenannten "Special Purpose Vehicles" (SPV), jeweils in mehreren Tranchen mit unterschiedlich hohem Ausfallrisiko begeben. Die Käufer der ABS waren zum großen Teil auch Zweckgesellschaften, "Special Investment Vehicles" oder Conduits, die den Kauf der ABS durch die Emission kurz laufender Commercial Papers (CPs) refinanzierten.

Der Absatz der CPs lief jahrelang auf hohen Touren, was eigentlich hätte verwundern sollen, waren doch die Zweckgesellschaften rechte Waisenkinder: Sie gehörten niemandem auf der Welt, noch nicht einmal den Banken, und mussten deshalb nirgends konsolidiert werden.

Die Banken gewährten ihnen zwar Unterstützung, aber nur in der Rolle von "Sponsoren", ohne - so das Kalkül der Geldhäuser - dabei Risiken zu übernehmen. Die Spon-sor-Banken gaben allerdings auch Wertgarantien für die Asset Backed Securities und versprachen, Liquidität zur Verfügung zu stellen, sollte die Anschlussfinanzierung bei den CPs nicht gelingen. Diese vertraglichen Verpflichtungen waren aber so konstruiert, dass die Risiken, welche die Banken damit übernahmen, nach den Vorgaben des alten Baseler Eigenkapitalstandards (Basel I) nicht in der Solvenznorm anzurechnen waren. Kurzum: Ein vermeintlich risikofreies, äußerst lukratives Geschäft, bei dem die Gewinne in Form von Provisionen und Beratungsgebühren sprudelten und das sich deshalb kaum jemand entgehen lassen wollte.

Ende der schönen Regulierungsarbitrage

Die schöne Regulierungsarbitrage war vorbei, als steigende Zinsen und stagnierende, bald sogar fallende Hauspreise Zweifel schürten an der Werthaltigkeit der als Sicherheit dienenden Hypothekarkredite. Als in den USA immer mehr Hypothekenschuldner zahlungsunfähig wurden, geriet der Absatz der Geldmarktpapiere von SPVs ins Stocken und brach innerhalb weniger Wochen zusammen.

In der Folge wurde den Sponsor-Banken der Müll wieder vor die eigene Haustür gekippt: Sie mussten ihre Liquiditätsversprechen in voller Höhe einlösen oder ganze Asset-Portfolios in ihre Bücher nehmen. In beiden Fällen tragen sie nun nolens volens das Werthaltigkeitsrisiko großer Volumina an Asset Backed Securities. Einige Banken haben sogar SPVs gestützt, ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein, nur weil diese mit ihrem Namen verbunden waren. Sie haben das offenbar als notwendig angesehen, um ihre Reputation zu schützen: Wer in kritischen Zeiten ein SPV fallen lässt, wird leicht verdächtigt, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu stecken.

Der massive und anhaltende Wertverfall der US-amerikanischen Hypothekenforderungen hat schnell die Frage aufgeworfen, ob die Solvenz aller Banken angesichts der auflaufenden Verluste noch gewährleistet sei. Binnen weniger Wochen erfasste das internationale Finanzsystem eine schwere Vertrauenskrise, und der Interbanken-Geldmarkt funktionierte nicht mehr. Er reduzierte sich zeitweise auf das Ausleihen von Tagesgeld, und selbst das gewährten sich die Banken gegenseitig nur mit hohen Risikoprämien.

Schließlich sind auch institutionelle Anleger vom Misstrauen angesteckt worden und haben ihre Gelder dem internationalen Bankensystem entzogen. Hätten die Zentralbanken nicht massiv interveniert, wären die Liquiditätsengpässe nicht zu bewältigen gewesen.

Verübeln kann man es den Akteuren nicht, wenn sie im Moment übervorsichtig agieren: Zwar ist nach und nach bekannt geworden, welche Banken eine bedeutende Rolle im Geschäft mit den Verbriefungen von Subprime Mortgages spielen. Unklar ist jedoch, welche Verlustrisiken den einzelnen Instituten daraus erwachsen sind. Außenstehende können die Werthaltigkeit der in Frage stehenden Aktiva kaum einschätzen.

Und selbst die betroffenen Banken stehen bei deren Bewertung vor Problemen: Nach der nach IFRS anzuwendenden Fair-Value-Bewertung muss auf Marktpreise abgestellt werden, falls ein aktiver Markt existiert. Den gibt es jedoch bei vielen strukturierten Produkten nicht - oder zumindest derzeit nicht. Um auch in diesen Fällen einen zulässigen Fair Value ermitteln zu können, darf ersatzweise auf den Einsatz von Modellen zurückgegriffen werden (Mark-to-Model). Ob allerdings die von den Banken entwickelten Modelle in der aktuellen Extremsituation realitätsnahe Werte ermitteln können, muss sich jetzt für den Jahresabschluss 2007 zeigen. Die BaFin wird sich dort die Bilanzierungsmethodik sehr genau anschauen.

Dauerhafter Mindeststandard für Ratings

Die meisten Banken haben sich in der Vergangenheit auf die Beurteilungen der Ratingagenturen verlassen, die sich normalerweise auf alle Tranchen einer ABS-Struktur erstreckten. Nachdem sich in den vergangenen Monaten gezeigt hat, dass die Ausfallwahrscheinlichkeiten der Subprime Mortgages von den Ratingagenturen sträflich unterschätzt worden sind, haben die Marktteilnehmer das Vertrauen in die Verlässlichkeit dieser Ratings verloren. Gerade die amerikanischen Ratingagenturen, vor deren Augen sich der extreme Wandel des amerikanischen Hypothekenmarktes vollzog, müssen sich fragen lassen, wie ihnen die Negativentwicklungen verborgen bleiben konnten. Ihren arg ramponierten Ruf werden sie nicht dadurch wiederherstellen können, dass sie, wie in den zurückliegenden Monaten geschehen, die Ratings von Asset Backed Securities, die hohe Sub-prime-Komponenten enthalten, flächendeckend absenken und dabei nicht davor zurückschrecken, von der höchsten Qualitätsstufe (AAA) in einem Schritt eine Abwertung auf die Hochrisikostufe (CCC) vorzunehmen.

Gerade die besonders guten Ratings waren für viele Marktteilnehmer der Grund, Asset Backed Securities zu erwerben, obwohl sie sich selbst kein Urteil über deren Risikogehalt bilden konnten. Wer dadurch Schaden erleidet, wird dem nachträglichen Hinweis der Ratingagenturen, das AAA-Rating eines strukturierten Produktes sei nicht vergleichbar mit dem Triple-A einer Anleihe, wenig abgewinnen können. Weil Ratingagenturen für die Finanzmärkte eine zentrale Rolle spielen, kommt man auch in den internationalen Aufsichtsgremien nicht umhin, sich mit ihrer jüngsten "Erfolgsgeschichte" zu befassen. Sie werden Anforderungen formulieren müssen, die garantieren, dass die Qualität der Ratings dauerhaft einem Mindeststandard genügt. Die Agenturen wären gut beraten, in diesem Zusammenhang selbst die Initiative zu ergreifen und tief greifende Verbesserungen ins Auge zu fassen.

Weil die Ratingagenturen in ihrem Urteil viel zu spät und viel zu krass umgeschwungen sind, haben sie entscheidend dazu beigetragen, die Finanzmärkte aus dem Tritt zu bringen - oder sogar in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Schrecken beruht darauf, dass die Marktteilnehmer aufgrund ihrer Lebenserfahrung nur darauf vorbereitet waren, dass in unruhigen Wetterlagen die Wellen auch mal höher schlagen können. Die Subprime-Krise aber hat uns allen das Gefühl vermittelt, ganz plötzlich von der Urgewalt eines Tsunamis getroffen worden zu sein. Der Risikoanalytiker kategorisiert eine solche Extremsituation als ein Ereignis, das mit sehr niedriger Wahrscheinlichkeit eintritt und ein hohes Schädigungspotenzial besitzt. Es vorherzusagen ist unmöglich: Weder statistische Zahlenreihen der Vergangenheit noch Szenario-Analysen für die Zukunft sind solchen Situationen gewachsen.

Platz in den Geschichtsbüchern

Professor Nassim Nicholas Taleb benutzt für solche Ereignisse die Metapher "schwarzer Schwan". In seinem Bestseller "The Black Swan - The Impact of the Highly Improbable" bezieht er sich auf ein Beispiel, das in der Philosophie des 17. Jahrhunderts eine empirische Beweisführung illustrierte: Die Aussage, alle Schwäne seien weiß, hatte sich in Europa durch Beobachtung ausnahmslos bestätigt, konnte also als bewiesen gelten. Die Wahrscheinlichkeit, einen andersfarbigen Schwan zu finden, entzog sich jeder Berechenbarkeit - bis in Australien ein schwarzer Schwan entdeckt und die bis dahin gültige Aussage falsifiziert wurde. Bei Black-Swan-Ereignissen ist es nur im Nachhinein möglich zu erklären, warum alles so kommen musste, wie es gekommen ist. Das ist dann eine Aufgabe für Historiker. Auch die Subprime-Krise wird später ihren Platz in den Geschichtsbüchern erhalten.

Die Finanzmärkte neigen dazu, die Wahrscheinlichkeit, dass es "schwarze Schwäne" gibt, stark zu unterschätzen. Sie modellieren die Zukunft auf der Grundlage der Erfahrungen der Vergangenheit. Dem Phänomen des "schwarzen Schwans" ist diese Methodik nicht gewachsen, was ihre Vertreter auch freimütig einräumen. Trotzdem haben wir die uns angedienten 99,5-prozentigen Konfidenzniveaus für die ganze Zukunft gehalten und uns in Sicherheit gewiegt, weil wir das letzte, nicht abgedeckte halbe Prozent vernachlässigt haben. Die Subprime-Krise konfrontiert gerade auch die Finanzaufsicht mit der Grundsatzfrage, ob nicht völlig neue methodische Ansätze notwendig sind, welche die Unberechenbarkeit der Finanzmärkte besser berücksichtigen - und auch unsere damit einhergehende Unwissenheit. Zunächst müssen wir uns allerdings damit beschäftigen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, um die Märkte schnell aus der Vertrauenskrise zu führen, die der "Trauerschwan" der Gegenwart ausgelöst hat.

Saubere Bewertung im Jahresabschluss 2007

Dafür gibt es nur einen Weg: Die Märkte müssen sich des Giftmülls entledigen, am besten, indem sie ihn in Entsorgungsanlagen überführen, wo er verwertet und beseitigt wird. Um es mit Heinz Erhardts Chor der Müllmänner zu sagen: "Kommt! Lasset uns von Tonne zu Tonne eilen! Wir wollen dem Müll eine Abfuhr erteilen."

Die angewendeten Entsorgungsmethoden sollten die Schäden für das internationale Finanzsystem so gering wie möglich halten. Welche Methode man auch immer wählt: Die Risiken des im Finanzsystem verteilten Giftmülls müssen transparent gemacht werden. Misstrauen malt das Verschwiegene noch schlimmer, als es in Wirklichkeit ist. In erster Linie sind die Banken selbst gefordert. Um glaubwürdig zu sein, müssen weltweit alle Institute ihre Engagements im Subprime-Sektor offen legen. Die deutschen Banken werden es sich leisten können, ihre Engagements publik zu machen und so dazu beizutragen, das Vertrauen in den Markt wieder herzustellen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die einzig erfolgreiche Strategie darin besteht, die Wahrheit so lange wie möglich zu verbergen. Das würde die Vertrauenskrise unnötig verlängern.

Die deutsche Finanzaufsicht hat sich darum in den internationalen Aufsichtsgremien wie dem Financial Stability Forum, dem Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht und CEBS, dem Gremium der EU-Bankaufseher, dafür eingesetzt, von den Banken konsequent die notwendigen vertrauensbildenden Maßnahmen einzufordern. Die Aufsichtsinstanzen spielen ein wichtige Rolle: Sie müssen sich vor Ort rechtzeitig vergewissern, dass die Banken darangehen, im Jahresabschluss 2007 den Subprime-Giftmüll einer sauberen Bewertung zu unterwerfen - allen methodischen Schwierigkeiten zum Trotz. Außerdem müssen sie den Abschlussprüfern den Rücken stärken, die in den USA wie in Europa wiederholt öffentlich erklärt haben, gewagte Bewertungskunststücke nicht zu tolerieren.

Bei allen diesen Anstrengungen dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren, Giftmüll künftig überhaupt nicht mehr entstehen zu lassen. Wie beim Umweltschutz heißt auch für die Finanzmärkte der Königsweg "Müllvermeidung"; die ist dem besten Abfallmanagement überlegen. Nicht anders als im Umweltschutz bietet Vorsorge auch für das internationale Finanzsystem das effizienteste Kosten-Nut-zen-Verhältnis. Die Industrie darf sich nicht der Einsicht verschließen, dass sie ausschließlich qualitativ hochwertige Produkte in Umlauf bringen sollte, die nicht mit schädlichen Nebenwirkungen behaftet sind. Nur dann wird sie nachhaltige Bedingungen für eine krisenfreie Zukunft der Finanzmärkte schaffen. Wer das nicht beherzigt, wird eines Tages selbst recycelt.

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