Aufsätze

Statistische Aspekte der Risikotragfähigkeit

Kreditinstitute sind durch die MaRisk gehalten, ihre eingegangenen wesentlichen Risiken mit Eigenmitteln (Risikodeckungspotenzial) abzudecken. Üblicherweise fordern die Institute dann in ihren internen Risikocontrollingprozessen, dass mit mindestens einer vorgegebenen hohen Wahrscheinlichkeit - etwa 99 Prozent - das vorgehaltene Kapital ausreichen wird, um mögliche Verluste abzudecken. Andersherum formuliert bedeutet dies, dass höchstens mit einer geringen Wahrscheinlichkeit - im gewählten Beispiel beträgt diese ein Prozent - die Risikotragfähigkeit nicht gegeben ist. Dies könnte leicht zu der Annahme verführen, die Nichteinhaltung der Risikotragfähigkeit sei ein typisches "Schwarzer-Schwan-Phänomen", dessen Auftreten als so unwahrscheinlich eingestuft wird, dass eine nähere Beschäftigung damit unterbleiben könne.

Subjektive Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten

Welche anschauliche Bedeutung und Implikationen haben die im Rahmen der Risikotragfähigkeitskonzeption gewählten Konfidenzniveaus und welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Diese Frage wird insbesondere motiviert durch die nachgewiesenermaßen oft verzerrte, subjektiven Einflüssen unterliegende Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Vor dem Hintergrund zunehmender Kritik an dem weit verbreiteten Value-at-Risk-Konzept (VaR) wird das mit dem VaR verwandte Risikomaß "Conditional Value at Risk" (CVaR) vorgestellt, dessen Eigenschaften kurz beschrieben und mit dem Value at Risk verglichen.

In der Bundesbank-Umfrage "Range of practice" zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit bei deutschen Kreditinstituten (2010) gaben die befragten Institute am häufigsten die in Tabelle 1 aufgeführten Konfidenzniveaus an. Die Angaben beziehen sich auf die Berechnung des Marktpreisrisikos durch jene befragten Institute, die den Going-concern- sowie den VaR-Ansatz verfolgen (insgesamt 82 Institute).

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse zahlreicher experimenteller Untersuchungen, die regelmäßig zeigen, dass die Interpretation und Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten problematisch ist, wird im nächsten Abschnitt versucht, die genannten Konfidenzniveaus einzuordnen. Im Alltag werden regelmäßig Wahrscheinlichkeiten deutlich über- oder unterschätzt; Beurteilungen unterliegen stark persönlicher Erfahrungen. So wird etwa jemand, der eben an einem Straßenverkehrsunfall vorüberfuhr, die Wahrscheinlichkeit, selbst einen Unfall zu erleiden, deutlich überhöht einschätzen. Ein ähnliches Phänomen tritt im Zusammenhang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten auf, etwa wenn medizinische Tests ein positives Ergebnis anzeigen - hier wird typischerweise die Wahrscheinlichkeit, dass die positiv getestete Person betroffen ist, überhöht eingestuft. Andererseits suggerieren zunächst gering erscheinende Wahrscheinlichkeitswerte negativer Ereignisse eine vermeintliche Sicherheit. Derlei Verzerrungen werden insbesondere auch durch den später mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichneten D. Kahneman untersucht. Der Autor N. Taleb widmet dieser Problematik sein Buch (Der Schwarze Schwan, 2008), in welchem die These vertreten wird, genau diese extrem unwahrscheinlichen Ereignisse seien bestimmend. Es ist daher zunächst allgemein zu fragen, wie häufig verwendete Konfidenzniveaus veranschaulicht und interpretiert werden können und welche Implikationen sie haben.

Konfidenzniveaus: Illustration

Zur Illustration dreier typischerweise in der Risikotragfähigkeit verwendeter Wahrscheinlichkeiten soll folgendes einfaches Beispiel dienen: Es wird eine faire Münze (das heißt beide Seiten - Zahl und Wappen - treten mit derselben Wahrscheinlichkeit 1/2 auf) x Mal unabhängig voneinander geworfen und angegeben, wie wahrscheinlich das x-malige Auftreten der Seite "Wappen" ist. Der Tabelle 2 können die Wahrscheinlichkeiten, bei x Würfen x Mal hintereinander Wappen zu werfen, entnommen werden. So gilt etwa, dass bei fünf Würfen das fünfmalige Auftreten von Wappen eine Wahrscheinlichkeit von zirka 3,13 Prozent aufweist.

Stellt ein Institut Risikodeckungspotenzial lediglich für den 95-Prozent-VaR vor, ist folgende Interpretation möglich: Würde der Bank das Spiel des viermaligen Werfens angeboten und bestünde ihr Risiko darin, dabei vier Mal Wappen zu werfen, so würde sie sich dagegen versichern. Würde ihr dagegen das Spiel des fünfmaligen Werfens angeboten und bestünde ihr Risiko darin, dabei fünf Mal Wappen zu werfen, so würde sie sich dagegen nicht mehr versichern, da sie dieses Risiko als zu unwahrscheinlich einschätzt. Letzteres gilt auch für sechs oder mehr Würfe. Erscheinen 95 Prozent zunächst als verhältnismäßig sicher, dürften viele das fünfmalige Auftreten von Wappen (bei fünfmaligem Werfen) als durchaus realistisch einstufen und versuchen, sich dagegen abzusichern.

Stellt ein Institut Risikodeckungspotenzial für den 99-Prozent-VaR vor, versichert es sich im Rahmen des Münzwurf-Beispiels gegen den Fall, sechs Mal hintereinander "Wappen" zu werfen. Den Fall, sieben Mal (oder öfter) Wappen zu werfen, würde es nicht absichern. Für viele Individuen dürfte dies bereits ausreichend sicher sein, während stark risikoaverse Individuen möglicherweise noch mehr Absicherung wünschen. Stellt ein Institut Risikodeckungspotenzial für den 99,9-Prozent-VaR vor, ist es gegen den Fall, zehn Mal hintereinander "Wappen" zu werfen, abgesichert. Dies dürfte von den meisten Individuen als ausreichend sicher eingestuft werden. Schließlich ist die Versicherung gegen den 99,99-Prozent-Fall mit der Absicherung gegenüber dem 14-maligen Werfen von "Wappen" vergleichbar.

Bei frequentistischer Interpretation der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bedeutet eine Steuerung des 95-Prozent-VaR, dass die Nichteinhaltung der Risikotragfähigkeit bei einem Zeithorizont von 100 Jahren in genau fünf Fällen (Jahren) zu erwarten ist. Analog ist bei Steuerung des 99-Prozent-VaR die Nichteinhaltung der Risikotragfähigkeit in genau einem Jahr (von insgesamt 100 betrachteten Jahren) zu erwarten. Ebenso erwartet man bei Steuerung des 99,9-Prozent-VaR die Nichteinhaltung der Risikotragfähigkeit genau ein Mal in 1000 Jahren. Dies sind Erwartungswerte, die so keineswegs eintreten müssen:

Für ein Institut, welches den 95-Prozent-VaR steuert, kann es nämlich auch schlimmer kommen - mit einer Wahrscheinlichkeit von zirka 38,4 Prozent wird die Risikotragfähigkeit in den 100 Jahren öfter als fünf Mal verletzt. Betrachtet man einen kürzeren Zeitraum von beispielsweise zehn Jahren, ergibt sich, dass die Risikotragfähigkeit mit einer Wahrscheinlichkeit von über 40 Prozent (mindestens) ein Mal in diesen zehn Jahren verletzt wird. Die Risikotragfähigkeit wird von einem Institut, welches den 99-Prozent-VaR steuert, mit einer Wahrscheinlichkeit von fast zehn Prozent innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren mindestens ein Mal verletzt (siehe Tabelle 3).

Bei den Berechnungen wurde jeweils Unabhängigkeit angenommen. Diese Annahme bedeutet, dass das Verletzen der Risikotragfähigkeit in einem gewissen Jahr sich nicht auf die anderen Jahre auswirkt.

Die Ergebnisse zeigen, dass die durch hohe Konfidenzniveaus suggerierte Sicherheit bei längerer Betrachtung relativiert wird. Dies legt nahe, sich auch mit der Verletzung der Risikotragfähigkeit intensiv auseinanderzusetzen, beispielsweise im Rahmen des Stresstestings. Eine weitere, gut geeignete Möglichkeit, Verlusthöhen jenseits des VaR in die Risikosteuerung zu integrieren, wird durch ein alternatives Risikomaß eröffnet, welches im nun folgenden Abschnitt vorgestellt wird.

Der Conditional Value at Risk

Der Conditional Value at Risk zum Konfidenzniveau alpha ist der bedingte Erwartungswert des Verlusts unter der Hypothese, dass der Verlust X größer als der VaR (zum Konfidenzniveau alpha) ist. Wie auch beim VaR bezieht sich der Verlust auf einen festgelegten zeitlichen Horizont, die Haltedauer t, beispielsweise ein Vierteljahr. P bezeichne das zugrundeliegende Wahrscheinlichkeitsmaß. Man definiert (siehe Formel 1): (vergleiche Albrecht/Maurer 2008). Ist X stetig und hat eine positive Dichtefunktion f, so entspricht dies dem Ausdruck

Formel

Anders als beim VaR gehen hier die Verlustausprägungen jenseits des alpha-Quantils nicht verloren, sondern werden ebenfalls zur Berechnung des Risikomaßes herangezogen. Es gilt sogar die folgende wichtige Eigenschaft, bekannt aus der Theorie der bedingten Erwartungswerte: Ist der Verlust X quadratisch integrierbar, so ist der CVaR die - im Sinne der Kleinstquadrate-Methode - beste Schätzung der Verlusthöhe, falls bekannt ist, dass X den VaR überschreitet. Wird also als Risikomaß der CVaR herangezogen, ist damit eine (sogar die beste) Schätzung des im "kritischen" Fall eintretenden Verlusts verbunden.

Eine weitere wünschenswerte Eigenschaft ist die Additivität des CVaR: Anders als beim VaR setzt sich der CVaR eines Portfolios (etwa des Kreditportfolios) additiv aus den verschiedenen CVaR von Subportfolios (etwa einzelner Branchen oder auch Einzelkredite) zusammen. Somit können die Risiken verschiedener Positionen leichter aggregiert beziehungsweise für weitere Analysen (beispielsweise hinsichtlich risikoadjustierter Performancemaße wie Rorac) aufgespalten werden.

Ist man, ausgehend von der ursprünglich gewählten Haltedauer t, an einer davon abweichenden Haltedauer T interessiert, lässt sich unter bestimmten Voraussetzungen eine entsprechende zeitliche Skalierung des CVaR gemäß der Umrechnungsformel

Formel

vornehmen. Diese Formel beruht auf der zeitlichen Skalierung der Volatilität; hinreichend für deren Gültigkeit ist, dass der Verlust eine Brownsche Bewegung ohne Drift ist.

Die Definition des CVaR gestattet die Zerlegung (siehe Formel 2), woraus ersichtlich wird, dass der CVaR zu einer höheren Risikovorsorge führt als der VaR. Hier wird ein Anhaltspunkt angegeben, wie stark die Risikowerte beim Übergang vom VaR zum CVaR ansteigen, und dabei wird eine zentrierte Normalverteilung des Verlusts zugrunde gelegt. Aus Tabelle 4 ist ersichtlich, dass der 99-Prozent-CVaR um knapp 15 Prozent über dem 99-Prozent-VaR liegt. Die angegebenen Werte gelten unabhängig von der Volatilität des Verlusts. Je höher das Konfidenzintervall gewählt wird, desto schwächer fällt die Risikovorsorge beim Übergang zum CVaR aus. Für rechtsschiefe Verlustverteilungen werden die hier berechneten Anstiege bei der Risikovorsorge möglicherweise noch deutlicher ausfallen.

Die durch Steuerung des CVaR zu bildende Risikovorsorge fällt höher aus als bei Steuerung des VaR. Abschließend wird daher gefragt, welches VaR-Konfidenzniveau durch die CVaR-Steuerung implizit eingehalten wird, wobei eine (nicht notwendigerweise zentrierte) Normalverteilung des Verlusts angenommen wird. Tabelle 5 zeigt etwa, dass die Steuerung des 95-Prozent-CVaR implizit ein VaR-Konfidenzniveau von gut 98 Prozent bedeutet. Die in der Tabelle 5 angegebenen Werte sind wiederum nicht von der Volatilität des Verlusts abhängig.

Aggregation

Auf Fragen zur Aggregation von Risikowerten unterschiedlicher Risiken ist bereits andernorts ausführlich eingegangen worden (siehe Literaturverzeichnis), daher soll diese Thematik hier nur kurz gestreift werden. Zur Geltendmachung risikoreduzierender Diversifikationseffekte bieten sich typischerweise die korrelierte Addition oder auch auf Copulas basierende Verfahren an, was eine belastbare Schätzung von Korrelationen erforderlich macht. In der bereits zitierten Bundesbankumfrage gab die Mehrzahl der befragten Institute an, keine Diversifikationseffekte anzurechnen, sondern die Risikowerte der einzelnen wesentlichen Risiken zu addieren. Wurden Diversifikationseffekte genutzt, betrug deren Ausmaß zwischen fünf und 35 Prozent.

Problematisch bei der Anrechnung von Diversifikationseffekten dürfte in erster Linie die Legitimation der unterstellten Annahmen, insbesondere die Validität der verwendeten Korrelationen sein. In diesem Sinne ist dieses Vorgehen kritisch zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn keine portfoliospezifischen, sondern lediglich auf der Basis von Benchmarkanalysen oder Expertenmeinungen abgeleitete Annahmen getroffen werden.

Empfehlungen

Angesichts der herausgearbeiteten Ergebnisse beinhaltet die Steuerung lediglich des 95-Prozent-VaR nicht zu unterschätzende Risiken. Bei der Steuerung des VaR sollten daher auch höhere Konfidenzniveaus berücksichtigt werden. Eine gebräuchliche Ableitung eines Konfidenzniveaus geschieht beispielsweise mit Hilfe eines angestrebten Zielratings: Beträgt die Ausfallwahrscheinlichkeit des angestrebten Zielratings 1,2 Prozent, wäre als Konfidenzniveau 98,8 Prozent zu wählen.

Ein aus genannten Gründen gutes Vorgehen zur Risikosteuerung ist die Verwendung des CVaR, welcher nicht nur auf der Wahrscheinlichkeit extremer Ereignisse beruht, sondern der auch die dann entstehenden Verlusthöhen mit einbezieht. Dieses einfache und intuitive Risikomaß kann zudem gewisse Schwächen des üblicherweise verwendeten VaR-Ansatzes beheben. Insbesondere erfüllt der CVaR die für Risikomaße wünschenswerte Eigenschaft der Kohärenz. Unter gewissen Voraussetzungen lässt sich der CVaR mittels eines Wur-zel-Zeit-Gesetzes auch für andere Haltedauern angeben.

Bei der Aggregation der Risikowerte der einzelnen Risikokategorien sind eventuell angerechnete Diversifikationseffekte und die dabei getroffenen Annahmen genau zu hinterfragen und unterstellte Abhängigkeiten zwischen den Risiken auf Validität zu überprüfen. Bei keiner ausreichenden Legitimation sollte auf die Anrechnung von Diversifikationseffekten besser verzichtet werden.

Literatur

P. Albrecht, A. Maurer: Investment- und Risikomanagement, 3. Auflage, Schäffer Poeschel, 2008.

A. Beck, M. Lesko, F. Schlottmann, K. Wimmer: Copulas im Risikomanagement, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 14/2006.

Deutsche Bundesbank: "Range of Practice" zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit bei deutschen Kreditinstituten, 2010.

D. Kahneman (Hrsg.): Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, Cambridge Univ. Press, 1982.

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