Der Europäische Binnenmarkt - eine Erfolgsgeschichte

Pierre Gramegna, Finanzminister, Luxemburg - Auf Grundlage von vier Freiheiten, nämlich dem freien Warenverkehr, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr, ist der EU-Binnenmarkt aus Sicht des Autors eine anhaltende Erfolgsgeschichte geworden. Bei allem Harmonisierungsbestreben in den verschiedensten Wirtschaftsund Lebensbereichen spricht er sich dafür aus, jedem Land auch künftig gewisse Freiheiten beim Ausspielen seiner Stärken einzuräumen, um dadurch insgesamt einen Beitrag für die Attraktivität Europas zu leisten. Sein eigenes Land sieht er stark auf grenzübergreifende Finanzdienstleistungen spezialisiert, die mit einer aktiven Diversifizierungsstrategie weiterentwickelt werden. Mit Blick auf Wahrung der Standortattraktivität der EU in einer globalisierten Welt zeigt er sich am Beispiel der Steuerpolitik offen für Lernprozesse und eine Neubewertung bisheriger Usancen. (Red.)

Als 1957 mit den Römischen Verträgen die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde, war Luxemburg mit Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien unter den Wegbereitern einer ambitionierten Idee. Luxemburg hat von Beginn an der Entwicklung einer Gemeinschaft teilgenommen, deren Ziel es war und immer noch ist, ein friedliches Zusammenleben in einem gemeinsamen Staatengefüge zu garantieren. In diesem Rahmen ist ein gemeinsamer Markt entstanden, der heute einer der wichtigsten Märkte der Welt ist.

Binnenmarkt mit vier Freiheiten

Der EU-Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten, dem freien Warenverkehr, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr, ist eine Erfolgsgeschichte. EU-Bürger können sich ihren Wohnsitz innerhalb der EU aussuchen, sie können in anderen Ländern studieren oder arbeiten. Unternehmern eröffnet sich ein Markt von 500 Millionen Konsumenten. Verbraucher können aus einer Vielzahl von Produkten wählen. Das Schengener Abkommen, benannt nach einem kleinen Ort in Luxemburg, an den Schnittstellen zwischen Benelux, Deutschland und Frankreich, ermöglicht, dass Grenzen ohne Personenkontrollen überquert werden können. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass ein Wohlstand geschaffen worden ist, der in der Welt seinesgleichen sucht.

Knapp zwei Drittel des Handels der Europäischen Union spielt sich innerhalb des Binnenmarkts ab. Der Intra-EU-Handel Luxemburgs beträgt sogar 80 Prozent und liegt somit weit über dem EU-Durchschnitt von 60 Prozent. Knapp 75 Prozent des Bruttoinlandproduktes der EU machen Dienstleistungen aus. Die Grundlage für diese Zahlen ist das Prinzip der "gegenseitigen Anerkennung", welches die Rechtsvorschriften eines anderen EU-Mitgliedstaates den inländischen Vorschriften gleichsetzt.

Der Binnenmarkt schafft Arbeitsplätze und stärkt die Europäische Union als wettbewerbsfähigen Standort. Die Währungsunion trägt zudem dazu bei, die EU als Wirtschaftsmacht international zu stärken. Der Euro ist ein Integrationsmittel für Mitgliedsländer, um erfolgreich von den vier Freiheiten des Binnenmarktes profitieren zu können. Mittlerweile ist er den Kinderschuhen entwachsen und ist mit dem Dollar die wichtigste Währung der Welt. Der Euro trägt zu einem gesteigerten Wettbewerb bei, da er Preise transparenter macht und das Währungsrisiko abgeschafft hat. Der Extra-EU-Handel ist seit der Einführung des Euro um 15 Prozent gestiegen. Die aktuell niedrigen Zinssätze steigern zudem die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union.

EU inmitten eines Lernprozesses

Obwohl sie so viel wie noch keine andere internationale Organisation erreicht hat in Bezug auf die Integration der Mitgliedstaaten, ist die EU dennoch kein perfektes Gebilde; sie befindet sich vielmehr inmitten eines Lernprozesses, in dem auch Fehler passieren. Solange aus diesen gelernt wird, können sie am Ende jedoch nützlich sein.

Die Finanzkrise, auch wenn sie nicht von Europa ausging, war ein solcher Fehler. Sie hat schmerzhaft eine Reihe von Strukturschwächen bei einigen Mitgliedsländern der EU offenbart. Einige Staaten wurden aufgrund ihrer kollabierenden Wirtschaft plötzlich teilweise vom Binnenmarkt ausgeschlossen. Die Finanzkrise hat auch die Solidarität unter den Mitgliedstaaten auf die Probe gestellt. Doch sind seitdem mehrere wichtige Entscheidungen getroffen worden, die langsam aber sicher ihre langfristige Wirkung entfalten.

Die vor Kurzem in Kraft getretene Bankenunion ist ein Beispiel dafür. Als zentrale Aufsichtsbehörde mit Sitz in Frankfurt am Main wird sie die großen systemrelevanten Banken der Europäischen Union beaufsichtigen. Gerät trotzdem eine Bank in Schwierigkeiten, kann diese über einen einheitlichen Fonds abgewickelt werden und wird somit nicht auf Kosten der Steuerzahler einfach geschlossen. Die Bankenunion ist nicht nur maßgebend für die EU, sie setzt auch international Maßstäbe. In Asien zum Beispiel gilt die Europäische Union sogar als Vorbild für einen erfolgreichen ökonomischen Integrationsprozess.

Luxemburg - erfolgreich im Export von Finanzdienstleistungen

Luxemburg hat als Gründungsland die Werte der Europäischen Union verinnerlicht wie kaum ein anderes Land. Finanzdienstleistungen machen etwa 25 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Die Dienstleistungsfreiheit ist die Basis des Finanzsektors und hat Luxemburg zu einem der bedeutendsten Finanzzentren Europas gemacht. Im Bereich Investmentfonds ist Luxemburg sogar das zweitgrößte Zentrum der Welt nach den USA. Doch sind es nicht nur die Luxemburger Bürger oder die Großregion, die von diesem Erfolg profitieren. Jeder einzelne Mitgliedstaat kann mit seiner Wirtschaftsleistung die ganze EU voranbringen, indem er, wie Luxemburg, dazu beiträgt, deren Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Umfeld zu erhöhen.

Deutschland, der Exportweltmeister, ist ein wichtiger Wachstumstreiber im europäischen Staatengefüge. So wie Deutschland seine Autos in alle Welt exportiert und sich das Label "Made in Germany" als eine absolute Qualitätsmarke entwickelt hat, ist Luxemburg erfolgreich im Export von Finanzdienstleistungen. Der Finanzplatz hat etwa den UCITS-Fonds zu einer Luxemburger, wenn nicht sogar europäischen Marke gemacht, die weltweit Anerkennung findet.

Die Spezialisierung der EU-Mitgliedsländer auf verschiedene Sektoren ist grundlegend und wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Jedes Land muss seine Stärken ausspielen können, um einen Beitrag für die Attraktivität Europas zu leisten. Wenn jeder das gleiche, zu den gleichen Konditionen anbieten würde, würde es mit Europa sehr schnell bergab gehen. Komplementarität widerspricht sich nicht mit dem europäischen Gedanken - ganz im Gegenteil.

Aktive Diversifizierungspolitik

Luxemburgs Markt war seit jeher ein europäischer Markt. Dies war bereits zur Blütezeit der Stahlindustrie so, und ist auch heute noch der Fall in Bezug auf die Finanzindustrie. Luxemburg hat sich auf grenzübergreifende Finanzdienstleistungen spezialisiert und sich darin europa- beziehungsweise weltweit positioniert.

Die Verantwortung der Regierung ist es, dieses Geschäftsmodell gesund zu halten. Das tun sie mit einer aktiven Diversifizierungspolitik. So ist Luxemburg Europas führendes Finanzzentrum im internationalen Handel der chinesischen Währung Renminbi geworden. Dies resultiert aus einer proaktiven Politik der Regierung, neue Trends zu identifizieren und ihr Potenzial zu nutzen. Auch im Bereich islamische Finanzen hat sich Luxemburg zum größten nicht-muslimischen Zentrum entwickelt. 52 Prozent des weltweiten Vermögens in Mikrofinanz-Fonds werden in Luxemburg verwaltet und seine Börse ist Europas wichtigste Börse für die Notierung von Anleihen.

Doch sind Produkte aus Luxemburg nicht immer so abstrakt wie ein Investmentfonds oder eine Dim Sum Anleihe. Wenn man irgendwo auf der Welt einen Kugelschreiber in die Hand nimmt, beträgt die Chance, dass die kleine Hartmetallkugel, welche das Auslaufen der Farbe verhindert, aus Luxemburg kommt, ganze 25 Prozent. So wurden auch die Glasfenster des Burj Khalifa in Dubai hergestellt, genau wie das Stahlgerüst des One World Trade Centers in New York. Auch der Weltmarktführer für die elektronischen Sicherheitssysteme, welche das Auslösen von Airbags garantieren, sitzt in Luxemburg. Eine der größten Cargo-Fluggesellschaften der Welt operiert aus Luxemburg heraus, genau wie das weltweit größte Satellitenunternehmen.

Man könnte noch viele Beispiele aufzählen, die zeigen, dass der Wirtschaftsstandort Luxemburg sich bei Weitem nicht auf die Finanzindustrie beschränkt. Luxemburg ist, genau wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten am wirtschaftlichen Erfolg der Gemeinschaft aktiv beteiligt.

Bestrebung nach einer größeren Harmonisierung

Der Komplementarität der einzelnen Wirtschaften der Mitgliedstaaten steht die Bestrebung nach einer größeren Harmonisierung gegenüber.

Erst die Finanzkrise hat Praktiken infrage gestellt, die EU-konform sind und lange Zeit unter den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten als völlig legitim akzeptiert waren. Auch dies ist Teil des Lernprozesses der EU: Situationen ändern sich aufgrund der Zeitgeschehnisse.

An einer gewissen Harmonisierung in Steuerfragen führt kein Weg vorbei. Luxemburg arbeitet aktiv an diesbezüglichen Neuregelungen mit, sowohl auf EU- also auch auf OCDE-Ebene. Trotzdem muss es auch in Zukunft einen gesunden und fairen Steuerwettbewerb geben. Dies gilt gerade auch in der EU, um die Standortattraktivität in einer globalisierten Welt zu bewahren.

Bis die Europäische Union zu einem wirklich einheitlichen Staatengefüge zusammenwächst, hat sie noch einen langen Weg vor sich, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Mit dem angekündigten Zukunftspakt der Europäischen Kommission ist zumindest auf politischer Ebene eine weitere Hürde genommen. Die Ansiedelung und Entwicklung von innovativen Unternehmen und dies bezüglichen Investitionen wird sicherlich eine der größten Herausforderungen werden, um die Attraktivität dieses einzigartigen Staatengebildes zu wahren. Das wird gelingen. Zusammen steht die EU erst am Anfang einer spannenden Reise.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X