Gefährliches Spiel mit der Angst

Philipp Otto

Weihnachten - die Zeit der Besinnlichkeit, der Ruhe, Stille und der Familie. Weihnachten ist aber auch die Zeit der Hektik, des Konsums und der Spenden. Selten (Katastrophenfälle einmal ausgenommen) wird so viel für gemeinnützige Zwecke gespendet wie in der Adventszeit. Allein im Jahr 2015 summierte sich das Spendenaufkommen in Deutschland Schätzungen zufolge auf fast sieben Milliarden Euro. Durchschnittlich werden knapp 130 Euro pro Kopf gespendet. Ältere spenden dabei häufiger als Jüngere, Frauen etwas öfter als Männer.

Dabei hängt die Spendenbereitschaft keineswegs nur mit dem verfügbaren Einkommen zusammen, denn der Anteil der Spenden am verfügbaren Einkommen ist mit jeweils etwa zwei Prozent in der höchsten und niedrigsten Einkommensklasse am größten, während die Mittelschicht hier mit etwa 0,7 Prozent vergleichsweise wenig dazu beiträgt. Gespendet wird vor allem für (Non-Profit) Organisationen, die sich der humanitären Hilfe verschrieben haben, getreu den ersten Zeilen des bekannten Liedes "We are the World" des Musikprojektes USA for Africa aus dem Jahre 1985: "There comes a time, when we hear a certain call, when the world must come together as one, there are people dying, Oh, and it's time to lend a hand to life, the greatest gift of all." Aus dem Verkauf von Singles, Alben und Merchandising-Artikeln kamen an nähernd 100 Millionen Euro zusammen.

Menschen schauen also über die Grenzen, nicht nur auf den eigenen Geldbeutel, sind bereit, zu helfen und die Lebenssituation in anderen Regionen zu verbessern, auch wenn das für sie selbst finanzielle Einbußen bedeutet. Trotzdem gewinnen Nationalisten und Vertreter eines neuen Protektionismus wie Donald Trump Wahlen. Denn die Menschen haben auch Angst, dass sie in den Mühlen der Globalisierung zermalmt werden, dass internationale Wirtschaftsbeziehungen und Freihandel gar nicht den unteren Bevölkerungsschichten zugutekommen, sondern nur den Eliten helfen, noch reicher zu werden. Zu Recht?

Die grundsätzlichen Vorteile der Globalisierung sind eindeutig zu quantifizieren. Weltweit ist zwischen 1990 und 2015 die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um 58 Prozent gesunken, führt der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Interview in dieser Ausgabe aus. Auch die Wohlstandsverteilung stellt sich auf den ersten Blick zunehmend breiter dar. Entfielen 1990 noch 34,5 Prozent des Welt-BIP auf Europa, sank dieser Anteil schrittweise bis auf 25,5 Prozent im Jahr 2014. Nicht ganz so viel eingebüßt hat Nordamerika, hier ist ein Rückgang von 28,9 Prozent auf 24,9 Prozent zu verzeichnen. Größter Gewinner ist der asiatische Raum mit einem Zuwachs von 21,2 Prozent auf 28,4 Prozent, natürlich getrieben von der Handelsgroßmacht China, das bereits 2009 Deutschland als "Exportweltmeister" abgelöst hat. Der Anteil Afrikas stieg in diesem Zeitraum von 2,4 Prozent auf 4,1 Prozent, der Südamerikas von 3,4 Prozent auf 35,6 Prozent. Laut Statista betrug der Anteil der Schwellen und Entwicklungsländer am kaufkraftbereinigten globalen BIP im Jahr 2016 gut 58 Prozent, davon entfiel allein auf die Schwellen- und Entwicklungsländern Asiens mit einem Anteil von fast 32 Prozent mehr als die Hälfte.

Es steht also außer Frage, dass die großen Industrienationen Amerika und Europa etwas tun müssen, um der Wirtschaftsmacht der aufstrebenden Ländern Asiens nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Allein in den zehn Jahren zwischen 2001 und 2011 sank der Anteil der USA am Welthandelsaufkommen im Güter- und Dienstleistungshandel um sechs beziehungsweise zwei Prozentpunkte, der der EU um jeweils drei Prozentpunkte. Im Gegenzug gewann China zehn Prozentpunkte im Güter- und zwei Prozentpunkte im Dienstleistungshandel. Und bedenkt man, dass die Bedeutung des Güterhandels zugunsten des Handels mit Dienstleistungen spürbar sinken wird, sind das für die etablierten Industrienationen keine guten Aussichten. Was kann getan werden?

Das eine sind Überlegungen, die zu einer Erleichterung des Handels führen sollen, sogenannte Freihandelsabkommen, beispielsweise CETA und TTIP. Hier gibt es allerdings auch viel Kritik, und es ist teils schon erstaunlich, wer zu den Kritikern gehört. Der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz beispielsweise meint angesprochen auf die vermeintlichen Wohlstandseffekte des Freihandels: "Die Daten belegen eindeutig das Gegenteil. Bisher glaubte man, dass durch Handel zwar Leute in den Branchen, in denen mehr importiert wird, ihre Jobs verlieren, sie aber neue Jobs in der Exportindustrie bekommen. Das stimmt so einfach aber nicht. Es gibt aber eine sehr gute Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die hat amerikanische Landkreise untersucht, bei denen Produktion direkt durch billigere Importe aus China verdrängt wurde. Dort ist die Beschäftigung gesunken und die Löhne sind es auch." Seine Folgerung: "Grundsätzlich führt Handel zu mehr Wirtschaftswachstum. Aber er verändert die Verteilung in einem Land. Inzwischen zeigt sich, dass die Wachstumseffekte von Freihandel vergleichsweise klein, die Verteilungswirkungen aber sehr groß sind. In den Industrieländern schadet das den Ärmsten. Leider war die Politik der Regierungen hier bisher nicht hilfreich."

Schenkt man diesen Schlussfolgerungen Glauben ist man bei der zweiten und wahrlich schlechteren Lösung: Renationalisierung und Protektionismus. Handelsbarrieren entwickeln sich auch ohne Donald Trump zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung, die WTO berichtet aktuell von rund 20 neuen handelshemmenden Maßnahmen pro Monat. Die sich auf die Entwicklung der Weltwirtschaft unmittelbar auswirken, wie Martin Wansleben in seinem Beitrag ab Seite 24 ausführt. So wächst die Weltwirtschaft mit knapp drei Prozent derzeit spürbar langsam. Der Welthandel legte schon im dritten Jahr schwächer zu als das Welt-BIP. Und natürlich macht die Globalisierung nicht an Ländergrenzen halt. Aber mit den Ängsten der Menschen lassen sich Stimmen fangen, und zwar nicht nur in einem so stark vom Export geprägten Land wie der Bundesrepublik.

Alle Autoren dieser Ausgabe plädieren für freien Handel und freie Märkte. Aber sie sehen auch die Notwendigkeit, Dinge besser zu erklären und transparenter zu gestalten. Dazu gehören sachliche Diskussionen mit Vor- und Nachteilen in den jeweiligen Ländern ebenso wie global einheitliche und verbindliche Regeln für den Welthandel und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Sonst besteht die Gefahr, dass "die Handelspolitik zur Sozialpolitik wird" (Seite 28).

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