Schwerpunkt Stadtentwicklung

Große Siedlungen - vor der Renaissance?

Berlin wächst. Eine Anfang Dezember 2012 veröffentlichte neue Bevölkerungsprognose des Berliner Senats ergab, dass im Jahr 2030 rund 250 000 Menschen mehr in der Stadt leben werden als 2011 - in etwa das Äquivalent der heutigen Einwohnerzahl des stark nachgefragten Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Wesentlicher Motor dieser Entwicklung ist der Zuzug. Nach Schätzung des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V. (BBU) ergibt sich hieraus ein zusätzlicher Wohnungsbedarf von rund 150 000 Wohnungen. Anders ausgedrückt: In den nächsten 15 Jahren müssen im rechnerischen Mittel jedes Jahr mindestens 10 000 Wohnungen neu gebaut werden; kommen noch andere Effekte wie Ersatzneubau und (in abnehmendem Maße) Haushaltsverkleinerung hinzu, steigt die Bedarfsschätzung sogar auf 12 000 Wohnungen im Jahr. Derzeit gebaut werden mit etwas Glück in diesem Jahr etwa halb so viele.

Deshalb besteht hier Handlungsbedarf - in Berlin, aber auch in anderen Großstädten. Es müssen nicht nur Wege gefunden werden, die Neubauzahlen nachhaltig zu steigern; sondern dabei auch noch Antworten auf verschiedene weitere drängende Fragen gefunden werden: Wie kann unter den Bedingungen einer Großstadt kostengünstig und ressourcensparend gebaut werden? Wie kann Neubau in Innenstadtlagen auch für einkommensschwache Haushalte bezahlbar werden? Wie können - neben der Wohnraumversorgung - auch noch die anderen beiden großen stadtentwicklungspolitischen Herausforderungen angegangen werden: Demografie und Energiewende? Das Nachdenken über "große Siedlungen" kann hier interessante Ansatzpunkte liefern.

Städte, hört die Signale

Zunächst aber ein Ausflug in die Berliner Statistik. Vielen ist noch in Erinnerung: Anfang der neunziger Jahre gab es bereits Vorhersagen, denen zufolge die Einwohnerzahl Berlins heute schon bei sechs Millionen liegen sollte. Die Neubauleistungen in der frisch wiedervereinigten Stadt wurden auf bis zu 20 000 Wohnungen pro Jahr hochgetrieben. Was dann aber unter dem Eindruck von tief greifendem Strukturwandel und Umlandwanderung zunächst vor allem stieg, war der Leerstand. Hatten die Quoten bei den BBU-Mitgliedsunternehmen im damaligen Westteil der Stadt traditionell um die zwei Prozent gelegen, kletterten sie - auch als Folge des Neubaubooms - auf bis zu sieben Prozent: Das entsprach über 40 000 Wohnungen. Wie belastbar sind also die neuen Vorhersagen und die aus ihnen abgeleiteten Bedarfsschätzungen für Neubau?

Eine Reihe von Faktoren spricht dafür, dass die jüngste, vom Forschungsinstitut Empirica im Auftrag des Berliner Senats erstellte Bevölkerungsprognose realistischer ist. Erstens besteht der Trend der Reurbanisierung nicht nur in Berlin, sondern in fast allen industrialisierten Ländern. Zweitens fußt die Prognose anders als vor 20 Jahren heute auf deutlich gesicherteren Annahmen und Erfahrungswerten, die in dieser Form unmittelbar nach der Wiedervereinigung schlicht nicht vorliegen konnten. Berlin hat sich nicht nur als Bundeshauptstadt etabliert, sondern zeigte in den letzten Jahren auch eine überdurchschnittlich positiv-aufholende Entwicklung in Wirtschaft und Wissenschaft. Drittens ist die Prognose konservativ gerechnet und basiert auf langfristigen Trends. Seit Jahren hält nicht nur der Zuzug nach Berlin an, sondern die Stadt bewegt sich momentan sogar auf eine ausgeglichene natürliche Bevölkerungsentwicklung zu. Schon die letzten, auf diesen Grundlagen erstellten Entwicklungsszenarien haben sich als zutreffend erwiesen.

Die Dynamik der Nachfrageentwicklung auf dem Wohnungsmarkt ist in Berlin zwar besonders ausgeprägt. Sie findet sich in ganz ähnlicher Form aber auch in München, Köln, Hamburg oder Potsdam - auch hier ist die Diskussion um mehr Neubau bereits in vollem Gange, wird nach Möglichkeiten gesucht, um unter anderem durch Neubau die Wohnraumversorgung für einkommensschwache Haushalte auf Dauer zu sichern. Mit zwei wichtigen Unterschieden: In Berlin ist sie in dieser Intensität noch neu; und Berlin ist, anders als viele deutsche Großstädte, immer noch eine "Stadt im Werden" - selbst in Innenstadtlagen sind hier noch zahlreiche Baulücken, aber auch noch große Flächen als Bauland verfügbar. Deshalb könnte Berlin, nicht zuletzt auch wegen der geplanten Internationalen Bauausstellung IBA 2020, auch besonders für eine Vorreiterrolle bei Überlegungen und Maßnahmen für neue große Siedlungen geeignet sein.

Clusterrisiko? Clusterchance!

Zunächst die Frage: Was ist eine große Siedlung? Von einer großen Siedlung kann schon bei einer Einwohnerzahl von 1 000 Personen gesprochen werden. Wichtiges Kriterium ist dabei, dass nach einem städtebaulichen Konzept eine geschlossene Siedlung nach einheitlichen Baustandards errichtet wird.

In den öffentlichen Debatten werden große Wohnsiedlungen heute nicht selten pauschal verurteilt - als Bausünden der Moderne, mögliche soziale Brennpunkte, zuweilen auch (fast paradoxerweise) als eine Art unpersönliche Anti-Urbanität. Auf der anderen Seite stehen aber auch höchst erfolgreiche Beispiele großer Siedlungen - besonders plakativ die als Weltkulturerbe gelisteten sechs Berliner Siedlungen der Moderne, aber auch zwei der großen Berliner Modernisierungsprojekte: das Märkische Viertel und die Gropiusstadt. Sowohl in den Siedlungen der zwanziger und dreißiger Jahren als auch in den großen Siedlungen der sechziger und siebziger Jahre zeigt sich somit, worauf es ankommt: Die jeweilige Anlage in ihrer Gesamtheit begreifen und nachhaltig entwickeln - wie jeder große Bestandshalter das in jedem anderen größeren Quartier auch machen würde.

Dabei verhält es sich mit den großen Siedlungen übrigens ganz ähnlich wie mit den Altbauquartieren vor einigen Jahrzehnten. Die heute sehr gefragten Altbauwohnungen - ob in einem Berliner Gründerzeitbau oder einem mittelalterlichen Fachwerkbau in Marburg - galten in nicht modernisiertem Zustand als problematische Bestände. Durch konsequente Entwicklung hat sich dieses Bild längst grundlegend gewandelt.

Statt eine solche Siedlung als "Clusterrisiko" zu fürchten, sollte sie deshalb heute als "Clusterchance" begriffen werden - auch unter Einbeziehung der rasanten technologischen Fortschritte und gesellschaftlichen Umbrüche in Richtung auf eine stetige Ausweitung (virtueller) Netzwerke. Gerade die großen Siedlungen mit ihrer hohen Einwohnerdichte bieten gute Voraussetzungen für einen effizienten Einsatz der neuen Netzwerk-Technologien sowie auch für ihre Weiterentwicklung im Sinne des Miteinanders. Einige Wohnungsunternehmen haben hier schon erste Schritte unternommen und versuchen, über das Internet Mieter miteinander in Kontakt zu bringen. Das schafft reale Nachbarschaft, das schafft aber auch Identifikation der Menschen mit der großen Siedlung als ihrem Quartier. Auch hierfür bieten die Welterbesiedlungen ebenso gute Beispiele wie die Siedlungen der Nachkriegsjahre und die inzwischen wieder sehr nachgefragten Plattenbauten in Ost und West.

Begünstigt wird das durch die vielfältigen Erfahrungen, die mittlerweile mit der Entwicklung großer Siedlungen gesammelt worden sind. Dabei zeigt der Blick auf viele der von professionellen Bestandshaltern bewirtschafteten großen Siedlungen, dass hier in den letzten 20 Jahren das Bewusstsein für die besonderen Bedürfnisse, aber eben auch der besonderen Chancen und Potenziale stark zugenommen hat.

Nicht nur bei Netzwerken und Stadtentwicklung bieten die großen Siedlungen mit ihren großen Stückzahlen und integrierten Konzepten gute Ansatzpunkte. Auch beim Klimaschutz und der baulichen Anpassung an den demografischen Wandel zeigen sie schon heute ihre Stärken. Die relativ hohe Dichte ist eine Grundlage für die guten Klimaschutzerfolge der BBU-Mitgliedsunternehmen in Berlin-Brandenburg. Das gilt auch für die zahlreichen Angebote seniorengerechter Wohnungen: Standardisierte Bauweisen lassen sich effizienter und kostengünstiger an sich wandelnde Bedürfnisse anpassen.

Wohnform der Zukunft

Diese Erfahrungen und Überlegungen zu großen Siedlungen lassen sich zu einem neuen stadtentwicklungspolitischen Leitbild verdichten - buchstäblich: Die große Siedlung als zentraler, urbaner und integrierter Ort in der Stadt, mittendrin statt am Rand. Dabei muss die große Siedlung längst nicht nur aus Hochhäusern bestehen.

Modelle der Mietenspreizung, Kostenvorteile durch größere Wohnungsstückzahlen und höhere Grundstücksausnutzung, kostenreduzierte öffentliche Grundstücke und auch öffentliche Förderung können hier in großem Maßstab soziale Durchmischung auch in zentralen Lagen sichern. Dabei geht es nicht um alte Formen der Pauschalförderung, sondern um passgenaue, relativ kostengünstige Förderinstrumente für die verschiedenen wohnungs- und stadtentwicklungspolitischen Zielsetzungen, unter anderem die soziale Durchmischung.

Auf diese Weise könnte auch bei der Bevölkerung umliegender Quartiere mehr Akzeptanz für den dringend notwendigen Neubau geschaffen, vor allem aber auch den Ängsten vor Verdrängung entgegengewirkt werden. Auch die heute selbstverständliche, erprobte und unter Einsatz der sozialen Netzwerke innovativ weiterzuentwickelnde Bürgerbeteiligung würde hierbei unterstützen und für mehr Akzeptanz bei den Anwohnern sorgen.

Von zentraler Bedeutung ist dabei eine aktive Bewirtschaftung und Entwicklung der Bestände - auf Grundlage von Konzepten, die nicht mit der Fertigstellung enden. Hierzu wiederum bedarf es eines ständigen Erfahrungsaustauschs, vor allem aber auch leistungsfähiger Wohnungsunternehmen. Nur sie sind in der Lage, kontinuierlich in die Siedlungen zu investieren, sei es in Erhalt und Weiterentwicklung der Bausubstanz, aber auch in Netzwerke und gute Nachbarschaft.

Neue große Siedlungen bieten viele Chancen - vor allem auch die Möglichkeit, zukunftsfähiges Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung (wieder) nachhaltig zu stärken und in Zeiten von demografischem Wandel sowie Klima- und Energiewende klare Zeichen zu setzen.

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